Aknes
– Vier Tage geht das Trainingscamp schon, und es ist jede Nacht dieselbe Leier: Kaum hat Agnes das Licht gelöscht, fängt die Türkin drüben zu plärren an. Sie wälzt sich auf ihrer Matratze herum, presst dann irgendwann den Kopf ins Kissen und legt los. Sie heult Rotz und Wasser literweise,und erst später, gefühlte Lichtjahre später, setzt ihr Schnarchen ein. Das kommt von den Haaren, hat Kristin gesagt: Weil ihr die Schamhaare in der Nase wachsen, da fängt sich der Rotz.
Das Geplärr heute ist nicht schlimmer als sonst, trotzdem macht es Agnes kirre im Kopf. Es fräst sich in ihre Nervenbahnen, reizt jede einzelne Faser, aktiviert dort irgendwas. Sie möchte aufstehen, sich zur Türkin auf die Bettkante setzen, ihr die Haare streicheln, das ganze Programm. Sie muss ordentlich mit sich kämpfen, aber wie schon in den vergangenen Nächten behält ihr Wille die Oberhand. Eisern bleibt sie liegen, starrt an die Decke und wünscht sich, Kristin wäre da. Mit Kristin würde sie das Geplärr nicht weiter kratzen, sie würden darüber lachen, aber Kristin schläft mit Jenny oben im zweiten Stock. Schräg über ihr, keine drei Meter weit weg: Genau dort steht Kristins Bett.
Agnes zieht ihren Arm unter der Decke vor, tastet auf dem Nachtkästchen nach ihrem Handy und schreibt Kristin eine SMS. Ich krieg die krise, tippt sie unter der Decke, so dass man den Lichtschein des Displays nicht sieht, das kümmelkraut plärrt mir die ohren voll … HILFEEE… Sie liest die Zeilen noch einmal, dann löscht sie die SMS. Fast dasselbe hat sie Kristin gestern geschrieben. Sie möchte ihr etwas Neues berichten, etwas, das Kristin überrascht, etwas, das Kristin gefällt.
Sie richtet sich auf und schaut zur Türkin rüber. Ein Streifen Mondlicht fällt durch das Fenster und erhellt ihr Bett. Unter der Decke kann sie die Umrisse ihres Körpers erkennen, die bebenden Schultern, ihr Haar, das sich in dunklen Wellen auf dem Kissen verteilt. Sie aktiviert die Kamerafunktion ihres Handys, zoomt auf Haare und Schultern, hält auf die Türkin drauf. Das Display zeigt kaum mehr als eine krisselig-graue, leicht ruckende Fläche, aber der Sound ist bestimmt nicht schlecht. Jetzt, wo sie weiß, dass Kristin es gleich hört, hört sie es selbst wie neu. Das, was die Türkin da von sich gibt, ist eigentlich kein Plärren, sondern ein Schluchzen, kurzatmig, pfeifend fast. Agnes’ Puls beschleunigt sich. Jetzt, wo sie weiß, dass Kristin es gleich hört, klingt das Schluchzen gut, besser, am besten sogar. Sie lässt die Aufnahme zehn Sekunden lang laufen, dann drückt sie wieder den Auslöseknopf und sendet sie an Kristin.
Keine Minute später vibriert ihr Telefon. Auf dem Display erscheinen drei Smileys mit nach unten gebogenen Mundwinkeln, darunter steht: Und in kanakland warten sie auf regen. Wenn die spielt wander ich aus! schwör ich dir! Sie muss lächeln. Sie hat gewusst, dass Kristin das gefallen wird, sie hat es richtig gemacht. In der Dunkelheit sieht sie Kristins Gesicht vor sich: ihre schmalen, hellblauen Augen unter den gezupften Brauen, die geraden Lippen, ihren schlanken, sehnigen Körper, Kristin unter der Dusche heute Nachmittag. Wie sie das Duschgel auf ihrer Haut verteilt, wie sie das Gel im Schamhaar verreibt. Ich auch, tippt sie in die Tasten, so weit weg wie möglich nach australien oder neuseeland… Oder wo immer du hingehst, möchte sie schreiben, ihre Finger schweben über den Tasten, sie nimmt sie weg. Sie darf nicht übertreiben, darf nichts verraten, darf sich auf keinen Fall verraten. Sie überlegt eine Weile, dann schreibt sie: oder sogar bis zum mond…
Das Schluchzen der Türkin ist jetzt leiser geworden, ihr Körper hat sich erschöpft. Niemand kann eine ganze Nacht durchheulen, Agnes kennt sich da aus. Es ist bereits ihr viertes FFC-Trainingscamp, und bisher wurde jedes Mal eine fertiggemacht. Das ist ganz einfach Gesetz – und Kristin und Jenny und Julia, die bestimmen, wen’s trifft. Letztes Mal war die Neue aus Bayern dran, die mit dem Kuhstalldialekt. Die wurde am dritten Tag von ihrem Papi abgeholt und ist nie wieder aufgetaucht. Davor war Doris an der Reihe, Doris mit den stinkenden Tretern, Doris, die Fußpilzschleuder, Doris, der lesbische Darmausfluss. Und das erste Mal – das erste Mal hätte es beinahe sie selbst erwischt: ›Aknes, nur mal aus Interesse, wie fühlt man sich so als Talgfabrik?‹ ›Aknes, nicht mit dem Pickel am Hals köpfen, ach, das ist ja dein Kopf.‹ Es ging genauso los wie bei den anderen, aber am zweiten Tag haben sie aufgehört. Haben begriffen, dass sie ihnen nützlich ist. Dass sie die richtigen Pässe spielt, Kristin und Jenny immer genau in den Lauf. Die schießen Tore und jubeln, und Agnes dahinter, die rackert und hält ihr Maul. Das Testspiel hat sie gerettet, Agnes weiß es genau, das Testspiel am zweiten Tag.
Und jetzt zum zweiten Mal so ein Glück. Sie ist dem Himmel dankbar dafür – dankbar, dass sie mit der Türkin im Zimmer liegt. Weil sie für Kristin dadurch wertvoll ist. Weil sie weiß, wo die Türkin ihr Handy versteckt, weil sie weiß, dass ihr Bruder Kemal heißt, weil sie weiß, dass sie jede Nacht heult und schnarcht. Agnes wittert es, hat es schon gewittert am ersten Tag: Die Türkin kann ihr Ticket in die Clique sein, die Türkin ist ihr Weg zu Kristin. Wenn sie mithilft, die Türkin wegzumachen kaputtzukriegen was auch immer, dann ist Aknes für immer Vergangenheit, dann kommt Agnes Kristin ganz nah.
Das Problem ist bloß: Die Türkin rafft es nicht. Rafft nicht, dass sie beim FFC nichts verloren hat. Nicht, weil sie Türkin ist, sondern weil niemand Kristin und Jenny Konkurrenz machen darf. Keine aus dem Team traut es sich laut zu sagen, aber die Türkin ist besser im Sturm. Lässt die Verteidigerinnen stehen wie Slalomstangen, hat einen Schuss, dass man sich als Torfrau fast in die Hosen pisst. Alle wissen das. Und die Trainerin weiß es auch. Sie hat sie schon am ersten Tag gelobt, gleich nach der ersten Trainingseinheit. Tolle Leistung, Hülya, hat die Heigel gesagt, weiter so.
Und die Türkin hat genauso weitergemacht, Tag für Tag. Obwohl Kristin und Jenny sie bearbeitet haben wie keine je zuvor. Sie haben ihr nicht nur Namen gegeben. Sie haben ihr auch Sachen gestohlen, haben ihre Zahnbürste in benutzte Binden gewickelt und sich beim Frühstück über ihren Halsgestank lustig gemacht. Sie haben wirklich getan, was sie konnten, jeden Tag aufs Neue, immer ein bisschen härter, aber sie kriegen sie nicht geknackt. Die Türkin steckt das weg, zumindest auf dem Platz. Die Tränen hebt sie sich für die Nächte auf, aber auf dem Platz ist sie jedes Mal top.
Unter der Decke spannt Agnes ihre Muskeln an, macht ihren Körper hart wie ein Brett. Sie muss sich jetzt nicht mehr zwingen, empfindet echten Hass auf die Türkin, Hass und eine Portion Respekt. Irgendwas stimmt mit der nicht. Wenn sie in der Kabine ihre hässliche Brille abnimmt und ihre Sportlinsen in die Augen setzt, wenn sie die Haare zusammenknotet und ihre Treter schnürt – dann passiert irgendwas. Irgendeine Verwandlung geht da vonstatten, unheimlich ist das fast.
Agnes presst die Fäuste zusammen und denkt an morgen Vormittag. Nach dem Training ist Abschlussbesprechung, da gibt die Heigel die erste Elf für die neue Saison bekannt. Schreibt die Namen mit Kreide an die Taktiktafel, und statt Kristin oder Jenny steht dort dann Hülya. Das ist nicht drin, nicht für die beiden. Die sprühen vor Ehrgeiz, waren im Frühjahr noch zum DFB-Sichtungslehrgang eingeladen, für die U15-Nationalmannschaft. Und diese Saison sollen sie beim FFC auf die Reservebank … niemals. Wenn die Türkin für sie stürmt, dann wechseln sie den Verein, verschwinden auf Nimmerwiedersehen. Das haben sie geschworen, bei ihrem Leben sogar. Agnes spürt ein Ziehen im Magen, beinahe als ob sie die Mens bekommt. Sie ist jetzt so nah dran an Kristin, so nah, und die Türkin macht alles kaputt. Unter der Decke faltet sie die Hände und schickt ein Stoßgebet weg. ›Bitte, lieber Gott‹, flüstert sie in die Dunkelheit, ›mach es gut, bitte, Gott, mach die Türkin weg.‹
Am Morgen ist die Türkin immer noch da. Agnes hört sie im Zimmer rumoren, hört sie ihre Nase schnäuzen, alles wie gehabt. Mit geschlossenen Augen bleibt sie liegen, bis die Türkin die Tür zuzieht, erst danach steht sie auf. Sonnenlicht fällt durch das Fenster, auf dem Platz draußen drehen sich Wassersprenger, Agnes blinzelt und schaltet ihr Handy ein. Das Display zeigt 9.22, sie hat das Frühstück verpennt. Nachher wird’s Anschiss von der Heigel geben, es ist ihr so was von gleich. Sie nimmt ihre Waschtasche aus dem Schrank und schlurft über den Flur ins Bad. Sie wäscht ihr Gesicht mit kaltem Wasser, putzt sich die Zähne, fühlt sich unendlich schlapp. Die halbe Nacht hat sie kein Auge zugetan, hat sich Dinge ausgedacht. Zum Beispiel der Heigel zu erzählen, die Türkin hätte sie angefasst. Die Türkin hätte ihr Geld gestohlen. Die Türkin nimmt Anabolika … Agnes spuckt Schaum ins Becken, alles Quatsch. Sie quetscht an einem Pickel herum, denkt an Kristin. Nur die Harten kommen in den Garten, hat Kristin gesagt. Agnes hat den Satz nicht wirklich verstanden, aber sie weiß, sie hat versagt. Eiter spritzt auf den Spiegel, gelbliche Sprenkel überziehen das Glas. Sie möchte mit der Faust dreinschlagen, zumindest ihr Gesicht anspucken, lässt es sein. ›Aknes‹, sagt sie in den leeren Waschraum hinein, es hallt zurück von den Kacheln, ›ugly Aknes‹. Als sie wieder in den Flur hinaustritt, ist sie schlagartig wach. Vorne am Treppenabsatz biegen Jenny und die Türkin um die Kurve, Jenny mit einem Lächeln im Gesicht. Sie nehmen die Stufen nach unten, Jennys Hand liegt auf dem Rücken der Türkin, dann hört sie Jenny sagen: ›Bitte, Hülya, den Trick musst du mir unbedingt zeigen, ja?‹ Im nächsten Moment sind die beiden schon wieder aus ihrem Blickfeld verschwunden, nur ihre Schritte klingen im Treppenhaus nach. Agnes steht da wie festgefroren. Jenny verrät Kristin, nur dieser eine Satz: Jenny verrät Kristin. Ein Knistern in ihren Nervenbahnen, wie Feuer, das sich durch Reisig frisst. Sie muss Kristin warnen, muss ihr von Jenny und der Türkin erzählen, sofort! Sie läuft die Treppe hoch, nimmt je drei Stufen auf einmal, pocht an Kristins Tür. Keine Antwort, sie drückt die Klinke, das Zimmer ist leer. Sie läuft runter in den Frühstücksraum, auch hier keine Spur von Kristin. Die Heigel ruft ihr was vom Trainertisch entgegen, sie schaut nicht hin, ihr Telefon! Sie rennt den Flur entlang zu ihrem Zimmer, drückt die Klinke und erstarrt. Vor dem geöffneten Schrank der Türkin steht Kristin. Aus ihren Augen sprüht Agnes Hass entgegen, Hass und Schrecken zu gleichen Teilen, ihr Kinn ist nach vorn geschoben, die Lippen sind fest aufeinandergepresst. Agnes duckt sich wie unter Schlägen, dann entspannt sich Kristins Gesicht. ›Du bist’s bloß‹, sagt sie, ›ich dacht’ schon, die Jenny hat’s verbockt.‹
Agnes öffnet den Mund, will die Sache mit Jenny sagen, bleibt stumm. Bildsplitter wirbeln in ihrem Kopf herum: Kristins blonde Haare im Sonnenlicht, die offene Schranktür der Türkin und Jenny, die mit der Türkin die Treppe runtergeht, ihr Pickel, der bestimmt noch nässt, und – Kristins Stimme holt sie in die Wirklichkeit zurück. ›Die Linsen‹, sagt sie, ›wo hat sie die?‹ Agnes sieht sie an, begreift nicht gleich. ›Die Kontaktlinsen von der Kümmelin‹, sagt Kristin, ›ich find die nicht.‹ Agnes deutet auf die Sporttasche unten im Schrank: ›Ich glaub im Seitenfach.‹ Kristin geht in die Hocke, zieht den Reißverschluss auf, findet den Linsenbehälter sofort. Sie schraubt den Deckel mit dem Linsengitter ab, öffnet das Fenster und kippt die Flüssigkeit aus dem Behälter ins Freie. Dann zieht sie ein ovales Fläschchen aus ihrer Trainingsjacke, Agnes weiß sofort, was es ist. Wie hypnotisiert starrt sie auf den Nagellackentferner in Kristins Hand, auf die darin schwimmende klare Flüssigkeit. Mit Verzögerung spürt sie Kristins Blick auf ihrem Gesicht, abwartend, lauernd fast. ›Coole Idee‹, sagt sie schnell, Kristin schnalzt mit der Zunge, sagt: ›Wetten, dass die heut’ nicht trifft.‹ Sie hält ihr den leeren Behälter entgegen, instinktiv zieht Agnes die Hand zurück, dann greift sie zu.
Kristin schraubt das Fläschchen auf und gießt den Nagellackentferner hinein. Ein dünner Strahl, schwach schimmernd, fast silbrig im Sonnenlicht. Die Flüssigkeit im Behälter steigt höher und höher, ein scharfer, leicht süßlicher Geruch macht sich breit. In Agnes’ Fingern staut sich die Hitze, auf dem Etikett des Fläschchens liest sie: Beinhaltet Aceton. Sie hat keine Ahnung, was das ist, sieht das gestürzte, schwarze Kreuz darunter, dann leckt die Flüssigkeit am Markierungsstrich. Kristin nimmt ihr den Behälter ab und riecht daran. ›Hoffentlich checkt sie’s nicht‹, sagt sie, senkt das Linsengitter in den Lackentferner und schraubt den Deckel zu. Sie verstaut den Behälter wieder in der Sporttasche, richtet sich langsam auf. Ihr Blick ist ruhig, fast ausdruckslos, er brennt sich in Agnes’ Gesicht. ›Kein Wort‹, sagt sie, ›auch nicht zur Julia. Das wissen nur Jenny, du und ich.‹ Agnes nickt, das Brennen lässt nach, weicht einem Triumphgefühl: Nur Kristin und Jenny und sie selbst! ›Klar‹, sagt sie, ›geschworen.‹ Sie hält zwei Finger hoch, spreizt sie zum V. Kristins Mundwinkel ziehen sich Millimeter nach oben, dann läuft sie zur Tür und geht hinaus.
Im Zimmer ist es plötzlich still. Unheimlich still sogar. Agnes hört das Blut in den Ohren rauschen, sieht Staubkörner im Sonnenlicht schweben, das Triumphgefühl ist wie weggewischt. Sie starrt auf den Schrank der Türkin, kriegt das schwarze Kreuz nicht aus dem Kopf. Das Kreuz und das Wort Aceton auf dem Etikett. Mit hängenden Armen steht sie da und schaut ins Leere, hat einfach nur Schiss. Erst als sie auf dem Flur draußen Schritte hört, kehrt Leben in ihren Körper zurück. Sie reißt ihre Sporttasche aus dem Schrank, wirft die Sachen wahllos hinein. Treter, Handtuch, Stutzen, frische Socken, völlig egal. Sie will nur aus dem Zimmer raus, will der Türkin nicht begegnen, will schon auf dem Platz stehen, wenn sie in die Kabine kommt. Dann ist alles halb so schlimm, dann hat sie nichts mit der Sache zu tun. Sie zieht den Reißverschluss zu, schultert die Tasche und läuft hinaus. Ihr Handy zeigt 9:43 an, knapp 20 Minuten bis zum Training, sie ist gut in der Zeit. Die Kabinen liegen im Untergeschoss, sie nimmt die Stufen im Eilschritt, biegt in den Kabinengang – und läuft in die Heigel rein. So ein Pech aber auch. Die Heigel sieht sie finster an, winkt sie ins Betreuerzimmer und legt los. Erzählt ihr was von fehlender Einstellung und Disziplinlosigkeit und dass sie so was nicht toleriert. Agnes steht vor ihr wie auf Standby gestellt, hört draußen Schritte im Kabinengang, nickt. Die Predigt dauert halbe Ewigkeiten, dann sagt die Heigel: ›Haben wir uns verstanden, und zwar ein für alle Mal?‹ ›Natürlich, Frau Heigel, absolut.‹ Ihre Stimme ist kaum mehr als ein Wispern, die Heigel schickt sie raus.
Als sie in die Kabine kommt, ist alles wie sonst. Die Stimmen der Mädels erfüllen den Raum, ein einziges Kichern und Summen, die Luft riecht nach altem Schweiß und Tigerbalsam. Agnes lässt sich auf die Bank fallen, zieht sich im Eiltempo um. Blinzelt dabei zur Türkin hin. Die sitzt hinten links in der Ecke und bindet gerade ihre Haare zum Zopf. Ihr gegenüber sitzen Kristin und Jenny und ziehen sich die Stutzen hoch. Sind schon so gut wie fertig, obwohl sie sonst immer die Letzten sind. Agnes schlüpft in ihre Treter, Kristin und Jenny laufen an ihr vorbei. Kristin macht irgendein Zeichen, Agnes versucht zu lächeln, bekommt es nicht hin. Sie sieht, dass die Türkin die Brille abnimmt und sie im Etui verstaut. Dann kramt sie in ihrer Sporttasche rum, hält den Linsenbehälter schon in der Hand. Sie schraubt den Deckel ab und legt ihn neben sich auf die Bank. Agnes lässt ihre Schnürsenkel los, muss jetzt schleunigst verschwinden, schafft es immerhin, aufzustehen. Geht ein paar Schritte, verharrt dann in der offenen Tür, blickt wie unter Zwang zurück. Die Türkin balanciert eine Linse auf dem ausgestreckten Zeigefinger, sie muss es doch riechen, muss doch einfach, so blöd kann doch niemand sein! Agnes hält sich am Türrahmen fest, ihr Körper drängt zur Türkin hin. Drei, vier Schritte, und sie schlägt ihr den Arm beiseite, schnappt sich den Linsenbehälter von der Bank, wirft ihn ins Klo und spült. Wie im Zeitraffer läuft die Szene vor ihren Augen ab, sie muss härter werden, noch viel viel härter, die Härteste auf der Welt.
Mit einem Ruck dreht sie sich weg. Sieht in der Bewegung noch, wie die Türkin den Kopf in den Nacken legt und das Augenlid nach oben schiebt, dann ist sie aus der Kabine raus. Sie setzt einen Fuß vor den anderen, marschiert durch den dunklen Gang. Das Klackern der Stollen dröhnt in ihren Ohren, der Schrei in ihrem Rücken ist trotzdem lauter, hundertmal so laut, mindestens. So wie gemarterte Katzen schreien – schreien und kreischen und wimmern –, so ungefähr hört es sich an. Mit ihren Finger-knöcheln schrammt Agnes an der rauen Wand entlang, Haut reißt auf, Schmerz flutet ihre Nervenbahnen, drückt das Geschrei in den Hintergrund. Noch ein Schritt und noch ein Schritt, es geht besser und besser, dann biegt sie um die Ecke und sieht Kristin vorne am Kabinenausgang. Dort, wo die Stufen hinauf ins Freie führen, genau dort steht Kristin. Blickt ihr entgegen, wartet auf sie, lächelt sogar. Lächelt ihr tatsächlich entgegen, Agnes wird leicht. Vor hundert Jahren ist sie in der Kabine gestanden, jetzt steht sie hier bei Kristin. Sie will was sagen, sieht in Kristins hellblaue Augen, schweigt. ›Da hat sich wohl jemand Aua gemacht‹, sagt Kristin leise. Dann legt sie Agnes den Arm um die Schultern, einfach so. Kristins Finger auf ihrem nackten Oberarm, ganz weich fühlen sie sich an. Agnes möchte Gott und die Welt umarmen, so glücklich wie sie jetzt ist. So glücklich wie selten zuvor im Leben, sie weiß, sie hat es richtig gemacht. Mit federnden Schritten läuft sie die Stufen hoch, lässt sich von Kristin die Stufen hochführen – in ihrem Rücken der dunkle Kabinengang, vor ihr der Platz im Sonnenlicht.
Thomas Klupp
Thomas Klupp: Aknes. Aus: Albert Ostermaier, Norbert Kron, Klaus Cäsar Zehrer: Fußball ist unser Lieben – neue Geschichten der deutschen Autorennationalmannschaft. Berlin: Suhrkamp Verlag 2011. 301 Seiten. 8,95 Euro. Mehr zu Thomas Klupp finden Sie hier und hier.