Geschrieben am 31. Dezember 2022 von für Highlights, Highlights 2022

Ute Cohen, Claudia Denker, Anita Djafari

Ute Cohen: Heißes Blut durch die Adern

Die zoomorphen Formen der ägyptischen Götter und die animalischen Wandlungen in der griechischen Mythologie zeigen, dass tierische Liebe zumindest eine träumerische Obsession seit Menschengedenken ist. Die Gebrüder Grimm befruchten unsere Fantasie mit wölfischen Liebhabern, Wagner lässt Ledas Liebe zum Schwan wiederaufflammen („Am Kettlein, das ich um ihn wand, ersah ich wohl, wer jener Schwan…“) und Nicolette Krebitz lässt sich den Wolf keinesfalls durch die Lappen gehen. Dass es sich in Krebitz’ Film „Wild“ nicht einfach um eine Fabel für Nature Seekers und Zivilisationsfeinde handelt, zeigt sich in einer Traumsequenz. Anja, die Hallenser IT-Assistentin und Wolfsgeliebte, lockt mit ihrem Blut den gefangenen Wolf. Das Tier, lechzend nach der warmen Körperflüssigkeit, leckt sie bis zur orgiastischen Verzückung… 

Kalt lassen einen Krebitz‘ Filme nicht. Im Gegenteil: Sie treiben einem heißes Blut durch die Adern und lassen die Ratio durch alle Poren entfleuchen. Das gelingt nur mit Poesie. Mit zielgesteuerter Tabuverletzung erzeugt man diese Wirkung nicht. Es bedarf einer poetischen Subversion, die Krebitz auch in ihrem Film „AEIOU“ zu eigen ist. Verliebt sich eine 60-jährige in einen Jüngling, ist man geneigt, an Harold und Maude zu denken. Fünfzig Jahre liegen zwischen diesen beiden Filmen und ein gewaltig veränderter Blick auf den Frauenkörper. Paramount hatte dem Regisseur Hal Ashby eine Sexszene zwischen der alternden Lady und dem Heranwachsenden verweigert, Nicolette Krebitz hat sich nicht gescheut, Sprache und Bildsprache auch für die körperliche Liebe zu ersinnen.

Mit Sophie Rois hat sie einer dieser Herausforderung gewachsene Darstellerin gefunden. Wer könnte diese eigentümliche Mischung aus befremdlich mütterlicher Zugewandtheit und tiefster Sinneslust so inkarnieren wie sie? Krebitz und Rois gelingt dieser Akt mittels eines Tricks: Über die Suche nach der Form, dem sprachlichen Ausdruck, der Stimmdisziplin verlieren sich die Schauspielerin Anna und ihr Zögling in der Welt der Vokale, in einem hallenden Sehnen und höchster Ekstase. Diese Vermittlung zwischen Form und Loslösung in der Lust findet auf dem Terrain der Kindlichkeit statt. Kindlichkeit ist bei Krebitz und Rois aber keinesfalls Infantilität, sondern ein anarchischer Spieltrieb, der sich in uns allen regt.

Kürzlich habe ich mich mit Sophie Rois eine ganze Weile auf einer Party unterhalten. Unser Gespräch mäanderte von Caroline Fourest über Liberté zu Bernd Begemann. Unvergessen, Bernds und Sophies Interpretation von „Zweimal zweite Wahl“! Auch Bernd lässt in seinen Liedern Liebende und solche, die es noch werden sollen, schmachten und sehnen, selten aber klagen. „Bis du den Richtigen triffst, nimm mich“ heißt es da oder „Wir sind zweimal zweite Wahl“. Die Krümel im Bett, die Versehrtheiten und „Stars fading but I linger on dear“ aufs Handy gezwitschert … ah, c’est l’amour, l’amour … viel mehr amour jedenfalls als pompöse Diamantringe und na ja, ein Klischee könnte man hier ans andere reihen, siehe meinen Roman „Poor Dogs“. Hört euch Bernd und Sophie an, schaut euch die beiden auf der Bühne an und lasst euch verführen!

Apropos verführen: Mit Bernd Begemann habe ich für die Berliner Zeitung ein Interview über Konzerte als „Seelsorge für Atheisten“ und die „wunderbare Minikathedrale namens Lied“ geführt, im Westwerk in Hamburg haben wir dann über meine Romane gesprochen. Der Abend stand unter dem Motto „Temptation“ und ja, wir haben das Thema in allen Facetten ausgeleuchtet, sogar Emilia Galotti hatte einen Gastauftritt: „Verführung ist die wahre Gewalt.“ Gezeichnet wurde die Lesung von meiner Freundin Petra Spielmann, die als Sherin l’Artiste bereits auch mein für das culturmag kuratierte sexmag bebilderte. Merci!

Und schon geht’s abschließend zum nächsten Apropos: Apropos Verwandlung: Die Verwandlungssessions mit meiner Freundin Sonja Shenouda haben wir auch in diesem Jahr wieder einmal gezeigt, dass uns Slogans wie „Just be yourself“ irreleiten, weil sie uns vorgaukeln, tief in unserem Inneren schlummere ein wahres Ich, das es nur wachzuküssen gelte. So huldigt die halbe Welt einem Authentizitätsgötzen, der so fake ist wie ein Nude Make-up. Wagt mehr Glitzer, Glamour, wagt das Andere! Es ist nicht nur so viel amüsanter, in anderer Haut zu schlüpfen, sondern auch bereichernd und erkenntnisfördernd: Etwas zu verkörpern, was man sein könnte, befördert unsere Lust auf Risiko und lässt uns Zuversicht gewinnen. Wenn ich Romys Lockenfrisur, bekannt von der Hochzeit mit Daniel Biasini, trage, dann spukt mir plötzlich „La chanson d’Hélène“ durch den Kopf und ich bewege mich durch Leben, die es gab und gäbe. Das ist keine Unzufriedenheit mit dem Jetzt, wohl aber ein sehnsuchtsblauer Himmel, der da aufreißt! Bonjour 2023! Je t’embrasse bien fort!

Nicolette Krebitz: AEIOU  – Das schnelle Alphabet der Liebe, 2022. Mit Sophie Rois.

Nicolette Krebitz: Wild, 2016

Bernd Begemann: Gib mir eine zwölfte Chance, Ausgewählte Songtexte, Ventil Verlag 2022

Sonja Shenouda, Make-up Artist, Künstlerin. Instagram

Petra Spielmann Sherin l’Artiste 

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Claudia Denker: Das war dann mal das, 2022! 

Nicht leicht, sich zu erinnern, was es im vergangenen Jahr Positives gab.

Vor zwei Jahren hatte ich noch hier geschrieben, dass hoffentlich das ausgefallene Konzert von Patti Smith wenigstens 2021 in der Zitadelle Spandau stattfinden kann. Das hat wegen Corona nicht geklappt, dafür dann aber dieses Jahr. Auf Patti Smith kann man sich verlassen, sie rockt immer noch die Bühne wie ein junges Mädchen. Ihre Ausstrahlung und ihre Power sind schon außergewöhnlich. Wer das fast drei Wochen später für mich noch getoppt hat, war Nick Cave in der Waldbühne. Diesen 29. Juni werde ich nie vergessen. Ich hatte schon fast vor, an dem Abend zu Hause zu bleiben, hatte genug Gründe dafür und noch wenig Kraft. Gestärkt und happy war ich nach dem Konzert. Das hat noch einige Zeit nachgewirkt

Eine sehr schöne Veranstaltung im März war die gemeinsame Lesung von Max Annas und Jérôme Leroy zu ihrem gemeinsamen Krimi-Projekt »Terminus Leipzig« (Edition Nautilus). »Zwei Länder, zwei Autoren. Eine schöne Idee, ein kurzer kleiner Knaller, der mir sehr gefallen hat.« Dies schrieb ich selbst in der CM-Schatzsuche. 

Das Kurt Mühlenhaupt Museum ist ein sehr sympathischer Veranstaltungsort in meinem Kiez. Dort fand im November ein Frühschoppen statt – Eberhard Seidel las nicht nur aus seinem Buch »Döner. Eine türkisch-deutsche Kulturgeschichte« (März Verlag), er erzählte auch sehr lebendig, lustig und interessant über seine »Döner-Forschung«. 

Kein Highlight, aber eine Erfahrung, die ich nicht gerne gemacht hätte: Ich war diesen Sommer über Wochen regelmäßig zu Besuch in der Geriatrie. Leider sind die Geschichten über unser marodes Gesundheitssystem nicht übertrieben. Krankenhäuser meiden, wenn es irgendwie geht! Deswegen hat mich das Buch von Frédéric Valin auch so interessiert: »Ein Haus voller Wände« (Verbrecher Verlag). Hier geht es allerdings um die Arbeit in Wohngruppen mit Menschen, die als geistig behindert gelten. Hier auch etwas zum Hören.

Und jetzt noch ein Buch, das ich sehr lieb habe, und ich freue mich, dass es einen Preis gewonnen hat: Heiko Werning /Ulrike Sterblich: Von Okapi, Scharnierschildkröte und Schnilch. Ein prekäres Bestiarium (Galiani) ist das Wissensbuch des Jahres 2022 in der Kategorie Unterhaltung, »Das Buch, das ein Thema am spannendsten vorstellt«. Mich freut das sehr und hier ist der sehr schöne Podcast dazu.

Schöne Krimis 2022:

Johannes Groschupf: »Die Stunde der Hyänen« (Suhrkamp)
Sybille Ruge: »Davenport 160 x 90« (Suhrkamp)
Matthias Wittekindt: »Die rote Jawa« (Kampa)
Jacob Ross: »Die Knochenleser« (Suhrkamp)
Riku Onda: »Die Aosawa-Morde« (Atrium)
Yves Ravey: »Die Abfindung« (Liebeskind)
Max Annas / Jérôme Leroy: »Terminus Leipzig« (Edition Nautilus)
Garry Disher: »Stunde der Flut« (Unionsverlag)
Nevala & Karlsson: »Dämmerung.Falsch« (DuMont)
Max Annas: «Morduntersuchungskommission 3. Der Fall Daniela Nitschke« (Rowohlt)
Friedrich Ani: »Bullauge« (Suhrkamp)
Peter Grandl: »Turmgold« (Piper)
Jonathan Moore: »Poison Artist« (Suhrkamp)

Schöne Netflix-Serie: »Kleo« 
Schöner neuer Lieblingspodcast: „Abweichendes Verhalten – Gespräche über Crime Fiction“ von Sonja Hartl

Und auch schön, dass die Brauseboys eine Überwinterung im »Haus der Sinne« gefunden haben (ab dem 19. Januar jeden Donnerstag bis zur Open Air Saison, dann wieder in der KuFa), der Jahresrückblick findet in der Ufa-Fabrik und im Schlot statt.

Und mal ganz davon abgesehen, »wie das alles bezahlt werden soll«, für mich persönlich war das Neun-Euro-Ticket sehr cool. 

Und ich hatte noch nie Corona.

Aber so viel Furchtbares, so viel Trauriges war 2022. 

Und nun auch noch das: RIP Terry Hall

Trotzdem allen ein schönes, neues, besseres 2023!

  • Claudia Denker ist freie Buchhändlerin in Berlin, Gründerin der Krimibuchhandlung „Hammett“ – und Freundin unseres Projekts von Anfang an. Ihre Beiträge zu unserer monatlichen „Schatzsuche“ sind sehr geschätzt.

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Anita Djafari: Ein Hoch auf kleine unabhängige Verlage

Pandemie, Kriegsausbruch und Krisenherde, davon hören wir tagtäglich genug. Persönlich gab es Schönes, es ging ja wieder einiges, und es gab belebende und beglückende Begegnungen. Ich picke einfach ein paar raus. Wie geplant ist „Plan B – der Bücherpodcast“, den ich zusammen mit der Buchhandlung Schutt in Frankfurt mache, im Januar an den Start gegangen. Einmal im Monat spreche ich mit unterschiedlichen Leuten über zwei Bücher. Oder manchmal auch mit Autor*innen direkt. Kostprobe: Gespräch mit Isabel Bogdan über ihr Erfolgsbuch „Laufen“ und Zoe Beck über „Depression“.

Andere Kostprobe: mit Uwe Wittstock über Marcel Reich-Ranicki anlässlich der Ausstellung über MMR in der Nationalbibliothek in Frankfurt.  Die Ausstellung läuft noch bis Ende Januar 2023 und warum sie sehenswert ist, erfahrt ihr hier.

Schön war die Juryarbeit für den LiBeraturpreis 2022. Nominiert sind immer die Autorinnen, deren Titel auf der Weltempfänger-Liste vom Vorjahr empfohlen wurden. Wir haben eine enorm gute Entscheidung getroffen mit der Japanerin Chisako Wakatake und ihrem Roman Jeder geht für sich allein. Sehr gut übersetzt von Jürgen Stalph, u. a. Verleger des Cass Verlags, in dem das Buch erschienen ist. Erwähnenswert ist außer der bewundernswerten Ökonomie, mit der die Autorin auf nur 104 Seiten die Geschichte erzählt (wie geht das?!) ist es die Sprache, die souverän mit Einsprengseln von Dialekt arbeitet. Und der Übersetzer hat etwas gemacht, was eigentlich „verboten“ ist: die japanischen Dialektpassagen auf Vogtländisch ins Deutsche gebracht. Mich hat die Geschichte einer alternden Frau, die sich in ihrer Einsamkeit ihren inneren Stimmen stellt, von denen eben einige im Dialekt sprechen und sich auch nicht in die Schranken weisen lassen, tief beeindruckt. Mal abgesehen davon, dass die Autorin mit 64 Jahren ihr Debüt vorgelegt hat und dafür gleich den sehr renommierten Akutagawa-Preis und den Preis für Debütanten bekommen hat, was zu fast 700.000 in Japan verkauften Exemplaren führte. Märchenhaft. Es war schön, mit Chiso Wakatake auch persönlich eine Autorin zu erleben, die sowohl in ihrem Schreiben als auch ihrem Auftreten ganz und gar bei sich ist. Der MDR hat einen kleinen Film dazu gemacht.

Und da kommt bei mir die Frage auf: Gibt es bei uns eigentlich auch einen Preis für ältere Debütanten? Wäre doch was richtig Schönes. Und was mir noch dazu einfällt: ein Hoch auf kleine unabhängige Verlage wie den Cass-Verlag, die solche Perlen nicht nur zu Tage fördern, sondern auch sehr pfleglich mit ihnen umzugehen wissen. 

Das trifft z. B. auch auf CulturBooks zu. Ich liebe diesen Verlag, seit es ihn gibt. Ganz frisch begeistert bin ich von Cherie Jones und ihrem Kriminalroman „Wie die einarmige Schwester das Haus fegt“ in der ebenfalls sehr gelungenen Übersetzung von Karen Gerwig. (Die im Übrigen ein Händchen hat für die sprachlichen Herausforderungen, die ein mindestens „hybrides“ Englisch gesprochen und eben auch geschrieben wird wie in Teilen der Karibik). Hier geht es um einen Mord, der auf der Insel Barbados geschieht, ein Paradies für Urlauber und Wohlhabende, ein Sumpf aus Elend und Gewalt für die Einheimischen, aus dem es scheinbar kein Entkommen gibt. Die Autorin weiß als Juristin, wovon sie spricht, und vermag literarisch äußerst gekonnt mit dem Stoff umzugehen. Doch kurz nochmal zurück zum Thema „ältere Debütanten“: Mein Mann Nassir Djafari hat im Alter von 69 Jahren seinen zweiten Roman „Mahtab“ im Sujet Verlag veröffentlicht. Die Protagonistin ist eine Iranerin, die in den 1950er Jahren mit ihrer Familie nach Deutschland gekommen ist. Darin erzählt sie unter anderem in Rückblenden aus ihrer Kindheit in den 1930er Jahren im Iran, wo unter dem Schah für Frauen ein striktes Verschleierungsverbot galt. Mehr dazu in einem Gespräch mit dem HR.

Und sowieso ist bei uns zuhause gerade der Blick auf den Iran im Fokus. Nassir hat – auf Einladung der SPD Hessen Süd/AG Migration – ein Gespräch mit Katajun Aminpur, Professorin für Islamwissenschaften an der Universität Köln, und Ali Sadrzadeh, ehemaliger Korrespondent und jetzt freier Journalist für FAZ, ein sehr informatives Gespräch über die aktuelle Lage geführt. Ich empfehle es aus vollem Herzen.

Für die Bestenliste Weltempfänger stellen wir gerade eine Sonderausgabe mit Lektüreempfehlungen zum Iran zusammen, sie erscheint Ende Januar und wird auch in diesem Magazin veröffentlicht. Gleiches haben wir auch im Sommer für die Ukraine gemacht, dabei habe ich viel gelernt und Lektüre nachgeholt. Zum Beispiel von Sherjih Zhadan „Internat“ gelesen oder von Andrej Kurkow „Graue Bienen“. Durch die Eindringlichkeit der Texte ist mir der Krieg sehr nahegekommen. Die Finnin Sofie Oksanen bringt mit ihrem Roman „Hundepark“ und ihrer beeindruckenden Kenntnis der ganzen Region nochmal eine ganz andere Perspektive auf die Ukraine. Sie erzählt von der Zeit zwischen den beiden Kriegen und macht auch die Schattenseiten wie z. B. die blühende Eizellen- und Leihmutterschaftindustrie sichtbar. Die ganze Liste gibt es hier.

Und dann gab es auch noch viel Musik und Theater und Ausstellungen. Aber über meinem Schreibtisch hängt eine Mahnung des polnischen Aphoristikers Stanislaw Jerzy Lec: „Fassen wir uns kurz. Die Welt ist übervölkert von Wörtern.“  Daran halte ich mich jetzt. Schluss mit den Wörtern für dieses Jahr, im neuen Jahr kommen ja schon wieder welche dazu. 

  • Anita Djafari ist Literaturvermittlerin und Jurysprecherin der Litprom-Bestenliste Weltempfänger. Texte bei uns von ihr hier.

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