Geschrieben am 31. Dezember 2021 von für Highlights, Highlights 2021

Ulrich Mannes, Alf Mayer

Ulrich Mannes: Heute erst recht nicht

Das Filmjahr 2021 ging für mich mit Wolfram Paulus los. Im Januar veranstaltete das Mozarteum Salzburg ein zweitägiges Symposium über den ein Jahr zuvor verstorbenen österreichischen Filmemacher, das die Veranstalter leider in einer reinen Online-Version organisieren mussten und damit weitgehend unter dem Radar der Öffentlichkeit blieb. Wenigstens konnte ich als Teilnehmer Paulus’ Filme vorab sichten und sein Œuvre gleich neu einschätzen. Paulus, dessen Laufbahn in den 80er Jahren „als gedul­diger, hell­sich­tiger Ethno­graph ländlich-alpiner Mikro­welten, als Erneuerer eines kriti­schen Heimat­films“ (Synema) sehr vielversprechend begann, wird vor allem mit den Filmen HEIDELÖCHER, NACHSAISON und DIE MINISTRANTEN in Verbindung gebracht.

Meine Neuentdeckung war indessen das Beziehungsdrama DU BRINGST MICH NOCH UM (1995) mit Katja Flint und August Zirner, aus der mittleren Schaffensphase, als Paulus mit einem Bein schon in „den Niederungen der Fernsehbilder angekommen war“ (wie es damals ein Kritiker formuliert hat). Dem Film war seinerzeit kein Erfolg beschieden, er konnte sich im Fahrwasser der 90er-Jahre-Beziehungskomödien nicht behaupten. Paulus’ zurückhaltende, dabei detailgenaue Inszenierung eines doppelten Seitensprungs, die einem die mal peinliche, mal lächerliche, vor allem aber „schreckliche Normalität“ zweier Eheleben vor Augen führt, verdient es unbedingt, aus der Versenkung geholt zu werden.

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Das einzige Filmfestival, das ich 2021 besuchte, war im Juni die Diagonale in Graz, die jährliche Leistungsschau des österreichischen Films, deren 2020-Ausgabe (natürlich wegen Corona) ausgefallen war. Diesmal gab’s zum Ausgleich eine Art Doppelausgabe, in der die fürs Vorjahr angekündigten Werkschauen und Retros nachgeholt wurden. Darunter ein „Historisches Special“ mit dem Titel „Displaced Persons“, das Filme zeigte, die das Nachkriegsschicksal von KZ-Überlebenden thematisierten. Die Retro kann man als Versuch sehen, ein noch nicht erschlossenes Subgenre des Nachkriegskinos zu fassen (natürlich mit der Absicht, Bezüge zur Gegenwart herzustellen).

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Ein Highlight der Reihe war ein Frühwerk des Hammer-Horror-Regisseurs Terence Fisher: PORTRAIT FROM LIFE, das als „vergessener Klassiker des britischen Kinos“ präsentiert wurde. Der Film erzählt die Odyssee eines britischen Mayors, der sich im besetzten Deutschland auf die Suche nach einem Waisenkind begibt, das dem emigrierten Vater auf der Flucht vor den Nazis abhandenkam. Terence Fisher schuf ein Flüchtlingsdrama als Kriminalfilm, oder besser: „eine von Freudscher Theorie wie von Stilelementen des Film noir durchdrungene Geschichte“ (Diagonale-Katalog), die zu ihrer Zeit dem deutschen (und wohl auch österreichischen) Kinopublikum nicht zugemutet wurde.

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In schöner Erinnerung habe ich noch den im Diagonale-Hauptprogramm gezeigten Porträtfilm AUFZEICHNUNGEN AUS DER UNTERWELT (von Tiza Covi & Rainer Frimmel), in dem zwei ehemalige halbkriminelle Lokalgrößen von Wien über ihre 60er-Jahre-Vergangenheit erzählen. Österreichische Zeitgeschichte im hart kontrastieren Schwarzweiß, mit langen Einzelgesprächen im Vorstadt-Beisl und aufgelockert von Wienerliedern. *** Eine weitere Kinolektion in Zeitgeschichte erlebte ich dann nur noch zum Jahresende im Münchner Werkstattkino. Unter dem Motto „Sex im Advent“ lief TAXI ZUM KLO (1980), ein fast schon wieder vergessener Klassiker des Schwulen-Kinos. Regisseur, Produzent und Hauptdarsteller Frank Ripploh lässt darin sein Berufs- und Privatleben als Grundschullehrer und sexueller Abenteurer so radikallässig aufgehen, wie es kein anderer schwuler Regisseur damals gewagt hätte – und heute erst recht nicht wagen würde. 

Ulrich Mannes ist Autor und Redakteur der von uns sehr geschätzten Filmzeitschrift SigiGötz-Entertainment, die 2021 ihr 20-jähriges Bestehen feiern konnte. Ein Abonnement (4 Ausgaben) kostet schlanke 16 Euro, bringt echtes Herzblut ins Haus. 

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Alf Mayer: Komm und sieh, und zwar nicht nur IDI I SMOTRI

Eine der besten Methoden, ein Jahr zu beschleunigen, ist die Übernahme eines Kinos, das habe ich gerade erfolgreich selbst erprobt. Whooosh, so schnell ist mir die Zeit zwischen April und Silvester noch nie vergangen. Welch für ein Jahr.

Javier, Irene und ich zögerten nicht einen Moment, als klar wurde, dass die bisherigen Kinopächter bei uns in Bad Soden am Taunus (22.871 Einwohner, 20 Minuten bis zum Hbf Frankfurt) nach 18 Monaten Corona aufgeben würden. Zu Dritt schaffen wir das, waren wir uns einig. Wir waren bereits 2012 dabei, als eine Schließung verhindert wurde. Javier und ich hatten den damals gegründeten Kinoverein dann in den ganzen letzten Jahren geführt, ich auch die Öffentlichkeitsarbeit gemacht. Jetzt wieder solch eine Kinotragödie? Nein! In die Hände gespuckt, alte Kontakte aktiviert und los. Dabei sieht der Markt eigentlich solch ein Kino schon lange nicht mehr vor. Knapp unter 100 Sitze zu Normalzeiten, nur eine Leinwand, das nächste Kinopolis mit zwölf Sälen zwei Kilometer weg. Egal. In einer Stadt ohne Kino und ohne Originalfassungen zu leben – scheußlich.

Wir eröffneten am 22. Juni 21 mit Open Air und (natürlich) CASABLANCA im Efeu-umrankten Innenhof: 30 Filme, darunter 17 Dokumentarfilme, in 45 Vorstellungen. Fabulöse Abende dabei, teils Filme ohne Verleih, dafür mit anwesenden Filmemachern. Kulinarisches mit WEINWEIBLICH und zwei Winzerinnen, PASTA IMPERIALE – WIE DIE PASTA NACH DEUTSCHLAND KAM mit Regisseur Peter Heller und exzellenten Crespelle vom Italiener nebenan. Das Publikum so kinohungrig, dass es sich bei Pepe Danquart, der mit VOR MIR DER SÜDEN vorbei kam, selbst vom prasselnden Regen nicht schrecken ließ. (Bei uns bekommt das Publikum Infrarot Kopfhörer, Silent Cinema, eine Verwandte von Silent Disco, tolle Tonqualität im Ohr.)

Eine der Ausgrabungen: Bert Sterns JAZZ ON A SUMMER’S DAY von 1958 – nie habe ich Louis Armstrong oder Anita O’Day besser aufgelegt gesehen –, tatsächlich ein Publikumsrenner. Der ungarische Animationsfilm RUBEN BRANDT COLLECTOR, Wong Kar-Wais IN THE MOOD FOR LOVE, Chloe Zhaos Debütfilm THE RIDER oder, überaus poetisch AZNAVOUR BY CHARLES, mit noch nie veröffentlichtem privaten Filmmaterial, ein Film wie ein Selfie, aber welch poetische Texte: „Ich weiß wohl, dass es euch berührt hat, mich zu sehen. Es ist euer Blick, der Aznavour gemacht hat.“ Und dann der Gegenschuss: „Ihr habt mich angeschaut, ja. Aber was ihr vielleicht nicht wisst: Auch ich habe euch angeschaut, gesehen und gefilmt. Ich bin diese Augen. Ihr seid existent, weil ich euch ansehe.“ Es sind seine eigenen Texte. „Ich habe euch auch gesehen, mein Publikum, mein Gegenüber. Die Menschen meines Lebens. Gesehen – und gefilmt. Und jetzt seht ihr mich, weil ich euch gesehen habe.“

Insgesamt 406 Veranstaltungen, darunter 15 Lesungen und 15 Regisseursbesuche haben wir gestemmt, dabei eine proppenvolle Kinderbuchpremiere, The OhOhOhOhs als Begleitband zu einer Dok über die Anfänge der Menschheit, ein A-Cappella-Konzert, der Bürgermeister als Vorleser, ein Verleiher, der anbot, eine fehlende Kopie selbst von Leipzig nach Bad Soden am Taunus zu fahren. Überhaupt viel Zuspruch. Und natürlich jede Menge Klippen, Hürden, Pannen, spukende Elektrik und spinnende Technik, Projektor-Geheimnisse. Absurdistan. Und action. 188 Kinotage insgesamt bis Silvester, 96 Filme (ganze zwei darunter, die ich ein wenig unter Niveau fand).

Moderiert habe ich unter anderem Ingrid Mylo zu ihrem Gedichtband Überall, wo wir Schatten warfen und zum Kino überhaupt (sie schreibt in diesem Rückblick nebenan, ebenso wie ihr Gefährte Felix Hofmann). Joachim B. Schmidt kam mit Kalman und einem isländischen Speckstein-Stempel zur Lesung. Stephanie von Schulte (Junge mit schwarzem Hahn) outete sich als kinobegeistert. IDI I SMOTRI war der erste Filmtitel, den sie wie aus der Pistole geschossen nannte. Diesen russischen Originaltitel für Elem Klimovs KOMM UND SIEH (Иди́ и смотри́) hatte ich lange nicht mehr ausgesprochen gehört. Tatsächlich hat der Junge in Klimovs heftigem Antikriegsfilm (übrigens gerade frisch 4K-restauriert) von 1986 viel mit vor Schultes Protagonisten zu tun, nur dass sie ihren deutlich mehr schont. Sozusagen als Programm.

Doublefeature war angesagt für Johannes Groschupf und Berlin Heat, wir koppelten die Lesung mit Sidney Lumets HUNDSTAGE (DOG DAY AFTERNOON) von 1975. Hat immer noch volle Power. Ebenso wie unser Namenspatron-Film CASABLANCA, den wir mehrmals zeigten, digital restauriert. Noch nie habe ich Ingrid Bergmans Tränen und Diamanten so funkeln gesehen.

Tja, und dieser eine Satz – „We have all the time in the world“, eine paradoxe Verbal-Intervention in einem Moment, da Liebende auf immer auseinander gerissen werden –, der Daniel Craigs (und vielleicht überhaupt den) letzten Bond-Film emotional aufwertet, stammt in Wirklichkeit aus CASABLANCA (1946). Ich kann’s bezeugen. Rick Bogart sagt ihn zu Inga Bergman.

George Lazenby zitiert diesen Satz dann zärtlich – über die eben erschossene Diana Rigg gebeugt – in ON HER MAJEYSTY’S SERVICE von 1969. Der Song dazu von Louis Armstrong (Text Hal David) wurde dessen letzte Tonaufnahme. Nun liegt „We Have All The Time in The World“ unter dem Abspann von NO TIME TO DIE und versöhnt mich einigermaßen mit der nach 25 Filmen zu Ende gehenden Bond-Saga, die jetzt – so das Schlussbild – zu einer Gute-Nacht-Geschichte für kleine Mädchen umfunktioniert wird: „I’m going to tell you a story about a man. His name was Bond, James Bond…“

Bodo V. Hechelhammer (in diesem Rückblick nebenan) und Nick Kolakowski haben sich dazu auch schon ihre Gedanken gemacht. Dieser Link führt Sie zu Song und Film von 1969. Vorsicht: Ohrwurm-Qualität, auch die Filmszenen haben Traumqualität.

KEINE ZEIT ZU STERBEN zeigten wir bei uns im CasaBlanca erst etliche Wochen nach dem allgemeinen Start, es war eine Grundsatzentscheidung. Die Argumente dafür erhält man von den Verleihern heutzutage sogar schriftlich. Unsittliche Konditionen für bestimmte Filme gab es schon vor 20 Jahren, aber das wurde noch verstohlener kommuniziert. Heute ist solch kartellrechtlich eigentlich Bedenkliches anscheinend ungenierte Praxis. Bond 25 bestritt jetzt Anfang Oktober 2021 in seinen ersten Einsatzwochen ÜBER 90 Prozent des gesamten Kinoeinspiels – noch nie ist ein Film derart dominant/ marktbeherrschend gewesen. Hier also im Zitat:

„Grundvoraussetzung für einen Bundesstarteinsatz ist:
-KEINE ZEIT ZU STERBEN muss drei Wochen im größten Saal in ausnahmslos allen Vorstellungen eingesetzt werden.
-Sollten die Corona-Umstände eine Vollauslastung des Saals nicht möglich machen, dann muss der Film mind. abends auch im zweiten Saal zum Einsatz kommen – bestenfalls zeitlich versetzt. Die meisten Kollegen spielen den Film auch unabhängig davon in (mind.) 2 Sälen, da es sich um den erfolgversprechendsten Film des Jahres handelt und sich versetzte Vorstellungen schon durch die Filmlänge anbieten.
-Wie geschrieben darf es keine Pause geben – zumal der Film über 160 Minuten hat.
-OV oder OmU-Einsätze können nur zusätzlich zum deutschen Einsatz stattfinden und müssen zum Bundesstart mind. täglich in einer Hauptabend-Vorstellung laufen.“
(Aus der E-Mail des Verleihs)

Wir haben stattdessen dann in diesen drei Wochen zwölf verschiedene Filme gezeigt. Darunter die Dokumentarfilme DIE UNBEUGSAMEN und WALCHENSEE FOREVER, aber auch John Fords THE SEARCHERS als OV. Solche Western kennt ein heutiges Publikum nur noch vom Bildschirm, nicht von der Kinoleinwand. Auf die gehört auch DUNE, und zwar mit Dolby 7.1., wie wir es im CasaBlanca Art House haben. Nach 47 Tagen (sechs Wochen) gab es diesen Film 2021 schon digital zuhause – das Kinofenster zersägt sich immer mehr. Und mir war zuvor so schmerzhaft deutlich nicht präsent: Es gibt so gut wie kein Repertoire mehr fürs Kino. Nach der Kinoauswertung werden Filme zum „Home Entertainment“ verfrachtet, eine Vorführung im Kino damit illegal. Nicht mehr vorgesehen. Aus den Klassik-Archiven der Verleihe (vulgo temporäre Rechteinhaber) werden ganze Œuvres an die Streamingdienste verkauft und damit dem Kino entzogen. 

Wir aber glauben an die große Leinwand. Haben jetzt auch Stuhl-Patenschaften aufgelegt, lassen im Samtrot der Essener „Lichtburg“ aufpolstern und neubeziehen. Mit 350 Euro sind Sie als Pate dabei. Und Teil unserer Kinozukunft.

Unsere neuen Paten-Sessel

Wegen des Kinos kam ich nicht zu den Hofer Filmtagen, wo meine Freunde 40 Jahre Pandora-Film mit Clemens Klopfenstein und E NACHTLANG FÜÜRLAND, ihrem damals ersten Verleihfilm, feierten. Aber egal. Und eisern habe ich 2021 als CvD dieses Magazins daran festgehalten: Zu jedem Ersten des Monats erscheint eine neue Ausgabe. Das wird auch 2022 so bleiben.

Streifzüge aus der Buchwelt von 2021

Hier nebenan in diesem Jahresrückblick begründe ich, warum ich Ritchie Girl von Andreas Pflüger Das wichtigste Buch des Jahres finde. Mein meistgeklickter Artikel dieses Jahres war eine Suada. Sie begann mit „Jemand hätte es Kai Spanke sagen sollen: This is not your normal Kriminalroman. Aber da hatte er schon losgelegt…“ und forderte dazu auf, Stephen Greenalls Systemsprenger Winter Traffic doch bitte nicht als Kleinbürger zu lesen (zu denen schreibt Felix Hofmann hier). Vor Erscheinen traf ich mich zweimal mit dem tasmanischen Nomaden Greenall, einmal in Melbourne und dann in Frankfurt, daraus wurde ein großes Interview: „Australische Dreieinigkeit: Tradie, Truck & Hund“.

Entzückt haben mich Berlin Heat von Johannes Groschupf, Merle Krögers Die Experten, Garry Disher mit Barrier Highway und Moder, Max Annas mit Der Hochsitz, Ivy Pochoda mit Diese Frauen, Kathleen Kent mit Die Tote mit der roten Strähne, Louisa Luna mit Tote ohne Namen, Gerald Seymour mit Crocodile Hunter, William Boyle mit Shoot the Moonlight Out, Wallace Stroby mit Heaven’s A Lie, Viet Thanh Nguyen mit The Committed (dt. Die Idealisten), Stephen Hunter mit Basil’s War, James Wolff mit How to Betray Your Country, John McFetridge mit Every City Is Every City, Silvia Moreno-Garcia mit Velvet was the Night, Thomas Perry mit The Left-Handed Twin und (endlich) einem neuen Abenteuer für Jane Whitfield sowie die von Swapna Krishna und Jenn Northington herausgegebene Anthologie SwordStoneTableOld LegendsNew Voices, in der alte Sagen neu und divers interpretiert werden (480 Seiten, viele neue Talente). 

Endlich als Taschenbuch erhältlich wurde 2021 Jens Malte Fischers 1100-Seiten-Studie Karl Kraus. Der Widersprecher. (Ich bin einer der wenigen Menschen, die wirklich die komplette Fackel-Gesamtausgabe gelesen haben.) Der englischen Ausgabe folgt der nun als wohl vollständigste Version anzusehende Roman Stalingrad von Wassili Grossman (1276 Seiten, Claasen). Paul Austers Burning Boy. The Life and Work of Stephen Crane (783 Seiten, Henry Holt & Company) ist furiose Lektüre, der hier leider untergegangene britische Krimiautor David Mark gibt in Piece of Mind schonungslos über seine Krankheit Auskunft.

Tolle Filmbücher gab es 2021 ein gutes Dutzend – in unserer Februar-Ausgabe stelle ich sie vor, darunter The Making of Deer Hunter, Eddie Mullers neuaufgelegte Film Noir-Bibel Dark City, Mark Seals Leave the Gun, Take the Cannoli. The Epic Story oft he Making of The Godfather, Steve Bingens Easy Rider. 50 Yasars Looking for America, Glenn Frankle mit Shooting Midnight Cowboy. Art, Sex, Loneliness, Liberation, And the Making of a Dark Classic

Man kann mich ja auch erfreuen mit so etwas wie All of the Marvels. A Journey to the Ends of the Biggest Story Ever Told. Douglas Wolk hat dafür tatsächlich ALLE 27.000 Marvel-Superhelden-Comics gelesen. Auch A Century of the History of Shotgun Cartridges, gesammelt und kundig kommentiert von Guy N. Smith (202 Seiten), ist für mich. Oder Decoding Manhattan. Island of Diagrams, Maps, and Graphics von Antonis Antoniou und Steven Heller. Pete Stegemeier versammelt in Heist. An Inside Look At the World’s 100 Greatest Heists, Cons, And Capers Einbrüche, Banküberfälle und Raubzüge. Schön gestaltet und illustriert, dazu informativ, ist das vom DB Museum, Nürnberg, herausgegebene Design & Bahn. Eine Gestaltungsgeschichte. Die Ausstellung dazu läuft bis (mindestens) 22. Juni 2022. Erst einmal verschoben ist „Weltmaschinen“ im Schlossmuseum Linz, der von Gottfried Hattinger herausgegebene irre Katalog Maschinenbuch. Eine Sammlung zur Kultur- und Kunstgeschichte der Apparate lässt wünschen, dort eine Quarantänezeit verbringen zu müssen.

Über Dreikönig freue ich mich auf James Kestrel und Five Decembers sowie The Hood von Lavie Tidhar. Dieser bei uns leider verkannte Brite stellt die Genres auf den Kopf, nach der Artus-Sage in By Force Alone nimmt er sich jetzt Robin Hood vor. Benjamin Percy beginnt mit The Ninth Metal eine Trilogy, auf die ich sehr gespannt bin – und aus der Abteilung Nature Writing (unsere CulturMag Specials dazu hier und hier und hier) begeisterten mich 2021 unter anderem Robert Macfarlanes Berge im Kopf (in den Naturkunden bei Matthes & Seitz) und Adam Nicholsons Der Ruf des Seevogels (bei Liebeskind). Aus dem Zürcher Rotpunktverlag kommt die mit 100 Schwarz-Weiß-Fotos illustrierte Recherche Die Unsichtbaren. Sans-Papers in der Schweiz, bei Suhrkamp erschien Verkannte Leistungsträger:innen. Berichte aus der Klassengesellschaft und im Verbrecherverlag Brotjobs & Literatur. Carolin Schreiber legte 800 Seiten zum Thema Schreiben. Eine Soziologie literarischer Arbeit vor, dies bei Suhrkamp.

Womit wir beim für avancierte & innovative Kriminalliteratur mittlerweile wichtigsten Verlag sind. Was war doch im Feuilleton der Republik der Untergang des Abendlandes beschworen worden, als dieser Traditionsverlag mit Kriminalromanen anfing. Kein anderes Haus und kein anderer Herausgeber tauchte 2021 auf der „Krimibestenliste“ oder jetzt beim Deutschen Krimi Preis so oft auf wie Suhrkamp – und wie Thomas Wörtche. Also Anlass, meinem Freund und Co-Herausgeber dieses Magazins hier auch öffentlich zu gratulieren. Bravo! Cheers! Und keep on running!

Die Frankfurter Buchmesse 2021 war eine Geisterveranstaltung. Irre breite Gänge, auch die kleinen Verlage große Stände (keine Preisreduktion, aber doppelten Stellplatz). Die Verleger sahen einen schon von weitem kommen, winkten, boten Kaffee an oder Campari. Ein sehr schönes Gespräch hatte ich mit Peter Graf vom Verlag Das Kulturelle Gedächtnis. Er hat jetzt in seinem Verlag eine Buchhandlung mit ausschließlich Titeln aus unabhängigen Verlagen eröffnet. (Viel Gluck mit die Bücher, Heinrich-Roller-Straße 7, Prenzlauer Berg).

Das gefällt mir. In diesen Zeiten muss man ein wenig verrückt sein – und bleiben. Das ist das Gegengift.

PS. 1981 erschien Kahawa, der einzige Abenteuerroman von Donald E. Westlake, es geht darin um den Diebstahl von Idi Amins Kaffeeernte – ein ganzer langer Eisenbahnzug auf dem Weg zur Küste. Das jetzt 40 Jahre alt Buch ist gealtert wie guter Wein, immer noch ein großer Spaß. Wie es der Zufall will, erzählte mir dann James Grady, dass sein nächstes Buch eine heist novel werde, die in einem Zug spielt. Ich fiebere schon…

PPS. Leider nicht mehr zu dem schon avisierten Interview kam es mit der Theaterlegende Günther Rühle, der bei uns im Bad Sodener Ortsteil Altenhain lebte und im September ’21 das interessante Ein alter Mann wird älter (Alexander Verlag) vorlegte. Darüber hätte ich gerne mit ihm gesprochen. Er starb mit 97, Anfang Dezember.

Lawrence Ferlinghetti, der mich einst einen ganzen Nachmittag in seinem famosen Buchladen „City Lights“ in San Francisco bewirtete, starb schon früher im Jahr im Alter von 101. Friederike Mayröcker, deren Filmporträt DAS SCHREIBEN UND DAS SCHWEIGEN von Carmen Tartarotti ich liebend gerne mal bei uns im Kino zeigen würde, wurde 96. Der Kulturwissenschaftler Roberto Calasso 80. Die Münchner Kritikerin Ponkie, mit der mich Fassbinders Mutter mal zusammenbrachte, wurde 95. Und mit 78 erwischte es auch David Stuart Roberts. Wen?, fragen Sie vermutlich. – Nun, auch wenn man mir das heute nicht mehr ansieht, war ich einmal ein ziemlich adrenalinhungriger Kletterer. Und mein Guru war nicht Reinhold Messner, sondern der in Denver geborene Roberts, in den Worten seines Schülers Jon Kracauer „the first really, really good writer who was also a really, really good climber — a cutting-edge climber and a top-rank writer.” Roberts’ Mountain of My Fear von 1968 hüte ich heute noch ebenso wie Sterling Haydens Autobiografie Wanderer (1963). 

Alf Mayer lebt in Bad Soden am Taunus und ist mit Thomas Wörtche Herausgeber von CrimeMag/ CulturMag – sowie der CvD des Ganzen. Mit Frank Göhre hat er je ein Buch über Ed McBain und Elmore Leonard gemacht, hat die vier Crissa-Stone-Romane von Wallace Stroby übersetzt (bei Pendragon), bei Polar Young God von Katherine Faw und Flucht von Benjamin Whitmer. Im Frankfurter „strandgut“ schreibt er seit 1984 eine Krimikolumne, ist Jurymitglied beim Deutschen Krimipreis und Mitglied der Krimibestenliste von Deutschlandfunk Kultur.
Seine Texte bei CulturMag/ Crimemag hier.

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