Geschrieben am 31. Dezember 2022 von für Highlights, Highlights 2022

Tina Manske, Sally McGrane, Christina Mohr

Tina Manske: Herzog, Didion, Carpenter und „The Cure“

Buch: Besonders beeindruckt haben mich in diesem Jahr die Memoiren von Werner Herzog. „Jeder für sich und Gott gegen alle“ ist voller großartiger Geschichten und Einsichten in den Film und das Leben selbst. Wenn er am Ende seine Ideen für neue Filme erzählt, kann man es kaum erwarten, bis er mit den Dreharbeiten beginnt, man möchte sich sofort in einen Kinosessel fläzen und die Dinger gucken.

Die Ausstellung über den Autoren und Filmemacher in der Kinemathek in Berlin ist  noch bis März 2023 geöffnet, also noch eine Gelegenheit, die man nutzen sollte. Es sind nur zwei, drei Räume, aber man kann sich den ganzen Tag darin aufhalten, so vollgepackt mit Informationen sind sie.

Sehr gerne und wiederkehrend las ich die Aufsätze von Joan Didion – und werde es immer wieder tun. Ich kenne keinen Journalisten, der in Stil und Flow an diese wunderbaren Texte herankommt.

Film: Abseits von einer das Buch begleitenden Werner-Herzog-Phase (inklusive Alpträumen von Flugzeugtrümmern im Dschungel) hatte ich dieses Jahr eine ungewöhnliche, selbst für mich überraschende John-Carpenter-Phase. Welch großartige Filme hat der Mann in den 70ern gemacht und mit wie viel Humor hat er da operiert! „Assault on Precinct 13“ aus dem Jahr 1976 zum Beispiel nimmt bereits die Struktur vorweg, die Carpenter  für seine Horrorfilme nutzen wird („Halloween“ erschien zwei Jahre später), ist dabei aber ein stabiles Wir-gegen-die-Stück mit einer (fast kompletten) Einheit von Ort und Zeit. Carpenter ließ sich dabei von „Rio Bravo“ und „Night of the Living Dead“ beeinflussen. In den 80er-Jahren machte Carpenter – abseits von Blockbustern wie „Christine“ – mit „Prince of Darkness“ und besonders mit „They Live“ Horrorgeschichte. „They Live“ ist aus meiner Sicht ein unterschätztes Juwel der klassischen (aber auch sehr witzigen) Kapitalismuskritik, inklusive einer sechsminütigen Kampfszene, die man gesehen haben muss.

Von den Filmen dieses Jahres hat mich „Athena“ am meisten beeindruckt. Bei den Kritiker*innen gibt es offensichtlich viele Vorbehalte der Struktur der griechischen Tragödie und dem gezeigten Machismo gegenüber. Mich hat der Film gepackt, und zwar von der ersten Szene an. Drei Brüder kämpfen auf jeweils ganz eigene Weise gegen die Verzweiflung über den Tod des jüngsten, der durch Polizeigewalt starb, und entfachen dabei ein Inferno. Mit einer (angeblich) schnittlosen Sequenz von gut zehn Minuten holt „Athena“ die Zuschauerin direkt ins Geschehen hinein und lässt sie danach nicht mehr los. Das ist großes Kino, das man aber leider nur zuhause bei Netflix zu sehen bekam.

Nicht vergessen möchte ich den Spaß, den mir „Glass Onion“ zum Jahresende brachte (ebenfalls Netflix). Nach „Death to 2020“ und „Death to 2021″war das sozusagen der perfekte „Death to 2022“.

Musik: Ein musikalischer Höhepunkt dieses Jahres war für mich die Matthäus-Passion zu Ostern in der Berliner Philharmonie. Das durch eine weitere Coronawelle stark dezimierte Ensemble brachte trotz allem eine so berührende Aufführung zustande, dass es einem die Gänsehaut über den Körper trieb. Außerdem war ich das erste (!) Mal überhaupt in der Philharmonie, was allein schon ein Erlebnis darstellt.

Fast ebenso berührend war der Auftritt von The Cure in der Mercedes-Benz-Arena. Ich bin gar keine großer Cure-Fan, aber die Größe dieser Band wurde einmal mehr offensichtlich. Das waren zweieinhalb Stunden mit nicht nur den großen Hits, sondern einem erstaunlich vielfältigen Programm und grandiosen Visuals – und einem Robert Smith, der mit uns gealtert ist, aber genauso glücklich über diesen Abend war wie wir selbst.

  • Tina Manske auf unserem MusikMag, das sie durchgehend betreut.

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© Gordon Welters

Sally McGrane: Kreuzberg

Als ich die Krimibuchhandlung Hammett in Kreuzberg betrat, fühlte ich mich zurückversetzt in die Buchläden meiner Kindheit in San Francisco. Gemütlich, mit Holzfußboden, mit Büchern vollgestopft und komfortabel eselsohrig. Wie sich herausstellte, unternahm der Besitzer, Christian Koch, in den späten 70er-Jahren eine lange Reise mit dem VW-Bus durch Kalifornien; wer weiß, ob er nicht einige der Orte besuchte, an denen wir als Kinder stundenlang lasen und stöberten.  

Ich bin auf diesen tollen Laden gestoßen, weil die Familie meines Mannes in Kreuzberg wohnt. Irgendwann vor zwei Sommern, als wir uns alle trafen, um mit den Hunden auf dem Tempelhofer Feld spazieren zu gehen, sagte Axel zu mir: „Hey, guck mal, da ist eine Krimibuchhandlung“. Mein zweiter Spionageroman „Die Hand von Odessa“ war fertig geschrieben, aber ich hatte das Gefühl, dass ich nie einen Verlag für ihn finden würde. Ich hatte es in den USA versucht, wo mir ein freundlicher Agent erklärte, dass kein Verleger glaube, amerikanische Leser würden sich für derartige Details über ein so fremdes Land wie die Ukraine interessieren.

Einige Monate später, beschloss ein deutscher Verlag und sein britischer Ableger, es mit meinem Buch zu versuchen. Wir unterzeichneten den Vertrag, kurz bevor Russland seinen brutalen Angriffskrieg gegen die Ukraine begann, wo ich vor 6 Jahren das Buch in der wunderschönen, jetzt umkämpften Küstenstadt Odessa recherchiert und geschrieben hatte. Als die deutsche Version vor ein paar Monaten herauskam, dachte ich mir – warum schaue ich mir nicht diesen Krimi-Buchladen an? Vielleicht könnten wir gemeinsam eine Lesung veranstalten. Immerhin zeigt ein Buch über das Odessa zwischen Annexion der Krim und dem aktuellen Krieg zumindest etwas anderes, als die Bomben, an die sich jeder im Fernsehen leider schon gewöhnt hat. Der Mann am Telefon – Christian, wie sich herausstellte – sagte, ich solle vorbeikommen und Hallo sagen.

Wenn man einen Ort wie diesen betritt, ist es, als würde man eines der schlagenden Herzen eines Viertels betreten, lebendig und pulsierend. Christian erzählte mir, dass er den Laden von einem Freund aus seiner Heimatstadt übernommen hat, ein paar Jahre, nachdem er nach Berlin gezogen war. Er führt ihn seit 1995. Er sei kein gelernter Buchhändler, sondern Handwerker, sagte er.  Und da ich aus Kalifornien komme, hätte ich sicher schon mal von Sara Gran gehört? Ich kannte sie nicht, und er sagte, ich müsse sie unbedingt lesen. Er ging in den Raum mit den gebrauchten Büchern – „Einige meiner Kunden lesen gerne, haben aber nicht viel Geld“, erklärte er – und tauchte mit „City of the Dead“ wieder auf. Christian erklärte, dass es der erste Teil einer Trilogie über die in Kalifornien lebende Detektivin Claire DeWitt sei; jedes Buch spiele in einer anderen Stadt.

Ich begann es auf dem Heimweg in der U6 zu lesen und schon auf diesen Seiten wird klar, dass Sara Gran eine großartige Autorin ist. In Mitte angekommen, war ich süchtig. Detektivin Claire DeWitt, die Omen, alte chinesische Wahrsagerei, Drogen und das Handbuch eines verstorbenen französischen Detektivs benutzt, um sowohl den aktuellen Fall als auch die tieferen Geheimnisse des Lebens und der Detektivgeschichten zu untersuchen, ist eine Figur, nach der ich verrückt bin. Ich las das Buch in einem Rutsch, zum Schluss mit der Traurigkeit, die das Ende eines großartigen Buches mit sich bringt. Und mit dem Glück, zu wissen, dass es noch zwei Teile gibt, sowie weitere Bücher von Gran, die nicht Teil der Trilogie sind. Und wieder mit der vorweggenommenen Traurigkeit, dass auch diese zu Ende gehen werden. Ich dachte daran, wie besonders diese kleinen Buchläden sind, von denen es hier in Deutschland noch so viel mehr gibt als dort, wo ich aufgewachsen bin. Ich mache mir oft Sorgen, dass der Tag kommen wird, an dem es gar keine Buchhandlungen mehr gibt. Aber, wie Christian sagte, als wir über das sich verändernde Berlin sprachen: „Man muss positiv bleiben – es ist der einzige Weg.“

Axel Scheele translated from English to German

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Christina Mohr

10 Alben 2022

Wet Leg – Wet Leg

Jens Friebe – Wir sind schön

Sudan Archives – Natural Brown Prom Queen

Chris Imler – Operation Schönheit

Aldous Harding – Warm Chris

Knarf Rellöm – Kritik der Leistungsgesellschaft

Warpaint – Radiate Like This

Sam Vance-Law – Goodbye

Christin Nichols – I’m Fine

Hot Chip – Freakout/Release

5 Songs: 

Lizzo – About Damn Time

Harry Styles – As It Was

Jens Friebe – Der Wahn

Kendrick Lamar – N95

Mavi Phoenix – Tokyo Drift

3 Bücher: 

Julia Friese – MTTR

Juliane Streich (Hg.) – These Girls, Too

Daniela Dröscher – Lügen über meine Mutter

  • Christina Mohr bei uns auf MusikMag. Wir sind stolz, dass sie bei uns rezensiert. „Female Sounds & Words“ – Kolumnen aus an die 20 Jahren – sind im Verlag Andreas Reiffer erschienen. Absolut empfehlenswert: Klappenbroschur, 150 Seiten, 10,50 Euro. Hier bei uns von Alf Mayer besprochen.

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