
Motto: Funny how time slips away

TWs Jahreshighlights
Zeitschleife. Was war letztes Jahr, was dieses? Bei vermutlich nicht mehr allzu langer Lebenszeit ist so verknautschte Zeit ziemlich nervig. Man lebt auf etwas hin, was man eh nicht mehr erreichen wird. Positiv gewendet: Man kommt in der leeren Zeit dazu, das zu tun, was man noch zu tun hat und tun kann. Wobei wie eh und je gilt: Man kommt ja zu nix. Aber immerhin zu der Erkenntnis, dass man das Rumräsonieren über den Status Quo der Welt ruhig den sich dazu berufen fühlenden Geistern überlassen kann.
Und deswegen hier jetzt in karger Form eine Liste von Büchern etc., die mich in den letzten zwölf Monaten beeindruckt haben, zu denen ich aber (manchmal: noch) nichts schreiben konnte, weil Zellteilung, Bilokation, Ätherleib etc. schwierig und so, you know …
Fiktion:
Matthias Enard: Das Jahresbankett der Totengräber. Dt. von Holger Fock und Sabine Müller. (Die schönste Verbeugung vor Rabelais ever. Wollüstig, obszön, gelehrt, komisch und unendlich klug.)
Aphra Behn: Werke. Hg und übersetzt von Tobias Schwartz. Eine Einzelausgabe von „Oroonoko“ gibt es ab dem 17. Januar (Wichtiger Baustein zu einer gerechten Literaturgeschichte: Aphra Behn 1610 – 1689!)
Dana Grigorcea: Die nicht sterben (Ein politischer Vampirroman, sehr intelligent)
Miron Zownir: Sorry, Lana (ein Amoklauf gegen alles, was man auf gar keinen Fall machen darf, soll und kann. Schon fast transzendent geschmacklos, wow)
Ulrich Woelk: Für ein Leben (Woelk wird immer mehr zum entscheidenden Chronisten der Bundesrepublik. Brillant)
Die nicht sterben von Dana Grigorcea
Non-Fiction:
Patricia Highsmith. Tage und Notiz-Bücher. Hg. von Anna von Planta. Dt. von Melanie Walz, pociao, Anna-Nina-Kroll, Marion Hertle und Peter Torberg (suspekt, weil unangenehme Dinge ausgelassen werden, aber natürlich spannend und nützlich)
Ulrich van Loyen: Der Pate und sein Schatten. Die Literatur der Mafia. (Traktat über die komplexe Affinität von Kunst und Verbrechen)
Elizabeth Hinton: America on Fire. Rassismus, Polizeigewalt und die Schwarze Rebellion seit den 1960ern. Dt. von Heike Schlatterer und Werner Roller (grundlegend für die Black Lives-Matter-Bewegung, die keineswegs eine Befindlichkeitsfrage ist, nicht wahr, Herr Precht, Frau Flaßpöhler)
Zoran Terzić: Idiocracy. Denken und Handeln im Zeitalter des Idioten (Nein, kein Publikumsbashing)
Marko Martin: Die letzten Tage von Hongkong (Scharfsinnig, scheuklappenfrei – muss man kennen, wenn man über die aktuelle Entwicklung in Hongkong resp. China reden will)
Kersten Knipp: Die Kommune der Faschisten. Gabriele D’Annunzio, die Republik von Fiume und die Extreme des 20. Jahrhunderts. (Extrem kluge Studie zu den Anfängen des Elends)
Freiheit und Finsternis von Martin Mittelmeier America on Fire von Elizabeth Hinton
Martin Mittelmeier: Freiheit und Finsternis. Wie die „Dialektik der Aufklärung“ zum Jahrhundertbuch wurde (zu Recht und immer noch)
Pascal Bruckner: Ein nahezu perfekter Täter. Die Konstruktion des weissen Sündenbocks (Achtung, genau lesen, sonst Beifall von der falschen Seite)
Axel Schildt: Medienintellektuelle in der Bundesrepublik (Analyse einer Kaste, heute vulgo Blase)
Thomas Hoebel/Wolfgang Knöbl: Gewalt erklären! Plädoyer für eine entdeckende Prozesssoziologie (man kommt nicht um sie herum, um die Gewalt)
Louise Michel: Die Pariser Kommune. Dt. von Veronika Berger (wertvolle Quelle zu einer immer noch unterschätzten Bewegung)
Detlef Hartmann/Christoph Wimmer: Die Kommunen vor der Kommune 1870/71. Lyon/Le Creusot/ Marseille/Paris (das Prequel zu Louise Michel, genauso wertvoll)
Georg Seesslen/Markus Metz: Wir Kleinbürger 4.0. Die neue Koalition und ihre Gesellschaft (Jaja, die Grüüü-nen – siehe zu diesem Buch auch Felix Hofmann in diesem Jahresrückblick, d. Red.)
Jeff Guinn: War on the Border. Villa, Pershing, the Texas Rangers and an American Invasion (Ob es wohl Gründe gibt, warum die Gringos across the borderline nicht so arg beliebt sind? Hmm …)
Benjamin T. Smith: The Dope. The real history of the Mexican Drug Trade (… und noch ein paar Gründe, siehe Guinn)
Beth Macy: Dopesick. Wie Ärzte und die Pharmaindustrie uns süchtig machen. Dt. von Andrea Kunstmann (noch ein Kapitel aus dem Wahnsinn – War-against-Drugs und die Heuchelbacken)
Joel F. Harrington: Der Scharfrichter – Ein Henkersleben im Nürnberg des 16. Jahrhunderts (Sozialgeschichtliche Feinjustierung einer vermeintlichen Klischeefigur mit vielen Aha-Erlebnissen)
Vladimir Alexandrov: To Break Russia’s Chains. Boris Savinkov and his Wars against the Tsar and the Bolsheviks. (Was für eine irre Biographie!)
Frauke Fitzner: Der hörende Mensch in der Moderne. Medialität des Musikhörens um 1900 (eher was für Spezialist*innen, für die aber sehr lehrreich)
Stefan Schomann: Auf der Suche nach den Wilden Pferden (Biologie und Kulturgeschichte höchst intelligent zusammengedacht)
Michael de Ridder: Wer sterben will, muss sterben dürfen.Warum ich schwer kranken Menschen helfe, ihr Leben selbstbestimmt zu beenden (Ich weiß, an wen ich mich wende, wenn es soweit ist …)
Bilderbücher:
Francis Bacon: Über die Dreistigkeit, über den Argwohn und über die Prahlerei. Die gesammelten Essays. Mit 30 farbigen Collagen von Sighard Gille. (Kluge Essays zu immer noch aktuellen Themen, prächtig illustriert. Prodesse et delectare)
Stephanie D’Allesandro/Matthew Gale: Surrealismus Beyond Borders. Katalog The Met (Produktionsästhetische Folgen des Surrealismus, besonders auch im globalen Süden. Essentielle Ausstellung)
Andreas Kilcher (Hg): Franz Kafka. Die Zeichnungen (Sensationell und faszinierend, ändert aber nichts an meinem Kafka-Bild: Enigmatisch, verstörend, komisch)
Philippe Girard: Leonard Cohen. Like a Bird on the Wire. Eine Comic-Biographie. Dt. von Anne Bergen (Liebevoll, mit einem L. Cohen, der befremdlicherweise nicht aussieht wie L. Cohen. V-Effekt?)
Kino:
Nix gesehen außer dem neuen James Bond – bin mehrfach eingeschlafen. Fidelwipp.
Serien:
Cowboy Bebop (komisch bis düster, geile Musik)
Sky Rojo (vermutlich pfui, ich mag’s)
Vincenzo (K-Mafia-Serie, sehr unterhaltsam)
Legal Affairs (geht doch …)
Eldorado KaDeWe (geht doch …)
Musik:
Soundtrack des Jahres: Ben Webster, Tomasz Stańko, Enrico Rava, Paolo Fresu, Cassandra Wilson, Dee Dee Bridgewater, Bessie Smith, Billie Holiday, Die Antwoord, Krazy, Danny Dziuk, Jeanne Lee, Anat Fort, Jazzrausch Bigband, Rasha Nahas
Kochen:
Eva Rossmann: No Stress – Mira kocht (Profi-Köchin mit originellen Klassiker-Varianten, zum Nachkochen)
Gerhard Loibelsberger: Alt Wiener Küche (Klassiker für Puristen, gargantuesk, zum Nachkochen)
Eckert Witzigmann: Was bleibt (Witzigmann-Etuden von Kolleginnen und Kolleginnen, do not try this at home)
So weit der Stand der Dinge am 30.12. 2021.
TWs Texte bei uns.
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Helmut Ziegler
Ein paar Sachen, die mir in diesem Jahr gut gefallen haben. 21, originellerweise. Das Jahr selbst war nicht dabei.
Filmszene I: Keine Zeit zu sterben
Kolportierte 56 Millionen US-Dollar Honorar und bocklos? Wer immer die Szene geschrieben hat, wo Bond, James Bond von Gangstern umzingelt im zusammen geschossenen Aston Martin sitzt und das Panzerglas bröckelt, er aber dumpf, ja: lethargisch, mehr noch: befreit fatalistisch seine Rolle nicht mehr spielen mag – die bleibt.
Song I: Hive mind
Der Song hat wohl damit zu tun, dass die Londoner Indie-Musikerin Tirzah Mutter wurde. Ein organischer Herzschlag-Beat. Eine fast gläserne Kindermelodie. Ein eher schwankendes als gesungenes Duett mit Coby Sey, auch um die Frage des Jahres kreisend: Kriegen wir es hin? Und dazwischen immer wieder, unsortiert, aber mächtig gesetzt, eine fies störende Synth-Sirene.
Podcast: Das Lesen der Anderen
Christian Möller lädt Prominente wie Bernd Begemann, Nele Pollatschek oder Mithu Sanyal ein, damit sie fünf Bücher vorstellen, die sie geprägt haben. Das Spektrum reicht von König Tunix über Platons Staat bis zu Der Meister und Margarita. Gut bildend und noch besser unterhaltend.
Krimi: River Clyde
Mit Krimis hatte ich dieses Jahr wenig am Hut. Dieser hier, von Simone Buchholz, ist einer –so steht es zumindest auf dem Cover. Aber: nö. Die seelisch poröse Staatsanwältin Chastity Riley geht von Bord und trifft in Schottland neben Single Malt auf Geister, Gespenster sowie eine Art Glück. Wobei ihr der Fluss seelisch unter die Arme greift. Ein neues Genre – trinkender Realismus?
Soundtrack: Sound of Metal
Heroin-Junkie, Metal-Drummer und sukzessive seine Gehörleistung verlierend, so schaut das Leben von Ruben in dem Film von Darius Marder aus. Besonders ist aber vor allem, wie er sich anhört. Sounddesigner Nicolas Becker macht es mehr als laut klar: mal echoartig, mal schmerzlich fehlerhaft, mal schalltot.
Roman I: Die Anomalie
Hervé Le Telliers Werk war eine Woche auf Platz Eins der deutschen Buch-Charts. Viel zu kurz, denn: Eine Boeing 787 landet innerhalb weniger Monate zweimal auf dem Flughafen JFK, was nicht nur die plötzlich doppelt vorhandenen Passagiere – darunter ein Serienkiller, ein Afro-Pop-Star, ein Architekt samt Geliebter – verwirrt. Sondern auch das Militär. Wahrscheinlichkeitstheoretiker. Und natürlich christliche Fundamentalisten. Der gelungene Versuch, Moralphilosophie, Genre-Gesetze, Sprachartistik sowie eine Prise Douglas-Adams-Anarchie als Thriller zu verheiraten.
Song II: Hinter dem Hügel
An allem ist zu zweifeln heißt der – von Karl Marx geborgte – Albumtitel von School of Zuversicht, einem »Agnostic-Pop-Kollektiv« (taz.de) um DJane Patex. Ihr Hit klingt nach cheesy Piano-House mit Rainald-Goetz-artigem-Aufbruch und macht extrem gute Laune: »Hinter dem Hügel / wachsen uns Flügel …«

Sachbuch: Erzählende Affen
Vermutlich können Samira El Ouassil und Friedemann Karig das Wort »Narrativ« auch nicht mehr hören. Um es ein für alle mal unterzupflügen erzählen sie auf 528 Schatzkisten-Seiten, wer warum welche Story tellt. Dass das Erzählen uns zu Menschen macht, mit Risiken und Nebenwirkungen. Konfuzius und Donald Trump kommen vor, es gibt sanfte Tritte gegen das Prinzip der Heldenreise und en pessant, wird noch erklärt, warum die Mineralölindustrie den ökologischen Fußabdruck erfunden hat.
SF: Das Ministerium für die Zukunft
Kim Stanley Robinson hat davon gehört, dass man mit einem Erdbeben beginnen soll. So startet sein multiperspektivischer Roman zur Klimakrise mit einem extrem körperlichen ersten Kapitel, einer Hitzewelle in Indien, bei der 20 Millionen Menschen draufgehen. Doch eigentlich geht es um das Duell zwischen der titelgebenden Alibi-Ministerium und der Terrorgruppe »Childen of Kali«. Nebenbei äußert sich auch die Sonne. Und es gibt feine Bosheiten wie die, dass die Erwärmung der Ozeane den Omega-3-Fettsäuren-Gehalt der Fische rapide sinken lässt, wobei Omega-3 auch für die Signalübertragung im Gehirn hilfreich sei, weshalb die kollektive Intelligenz der Menschheit weiter sinke. Kommentar einer Romanfigur: »Würde eine Menge erklären.«
Album: Jeb Loy
»Be the least you that you can be« – so lautet der erste Satz auf der Homepage von Jeb Loy Nichols. Der Waliser Farmer, mit einer Stimme wie gebutterter Dinkel-Toast, hat nie viel Gewese um sich gemacht, obwohl er schon in den 1990ern mit seiner Band Fellow Travellers Reggae und Folk verschmolz. Nun hat er unerwartet mit der finnischen Soul-Band Cold Diamond & Mink ein bittersüß-lebensfrohes Album produziert, dass Narren, die Mühen der Beziehung, den Regen und den Tanz feiert. Gar nicht wenig, im Gegenteil.

Geburtstag: Gustave Flaubert
Manchmal dauert es. In die Éducation sentimentale beispielsweise bin ich – trotz großer Hoffnung und obwohl das Werk landauf, landab als Beginn des modernen realistischen Erzählens gefeiert wird – nie reingekommen.. In der Übersetzung von Elisabeth Edl, nun Lehrjahre der Männlichkeit heißend, hat es zu Flauberts 200. Geburtstag endlich gefunkt. Knapp 600 Seiten in zwei Tagen und schiere Begeisterung. 2082, wenn auch James Joyce diesen Jubeltag erreicht, schaller ich mir noch Ulysses rein.
Serie: Squid Game
Absoluter Cash-cow-Respekt dafür, wie man mit antikapitalistischer Kritik auf Playmobil- Niveau Menschen dazu bringt, sich billige Trainingsanzüge zu kaufen, um als verschuldeter Ausgebeuteter erkennbar zu sein.
Song III: I love you, I hate you
Little Simz beschreibt die Abwesenheit ihres Vaters. Die Musik dazu: Breitestes Orchesterschwelgen, jubilierender Chorgesang, Bläsersätze, die zwei Stufen auf einmal nehmen, man sieht quasi Cleopatra samt Löwen auf der Leinwand. Aber auch: zarte Funk-Gitarre, knochigster Beat, abrechnender Rap. Am Ende: »I’m not forgivin‘ for you, man, I’m forgivin‘ for me.«

Roman II: Shuggie Bain
Wie zeigt man den Scham der Armut? Vielleicht so: Agnes, die Mutter von Shuggie und heimliche Hauptfigur, trägt Nagellack auf, bevor sie die nächste Bierdose öffnet. Der zu weiten Teilen autobiographisch grundierte Roman von Douglas Stewart – er bat als Kind seine Mutter, ihm Geschichten zu erzählen, um sie von trinken abzuhalten – ist erst einmal tieftraurig. Auf soziologischer Ebene eine Geschichte davon, was Thatchers Politik im Glasgow der Achtziger anrichtete. Auf persönlicher, was es mit einem Kind macht, das seit der Schulzeit auf die Mutter aufpassen muss. Aber die Art, wie dies erzählt wird, ist so barock, schwelgerisch, ohne Angst vor Kitsch – wie glitzernder Nagellack.
Original und Fälschung: Werner Büttner
Sein Ölgemälde Selbstbildnis im Kino onanierend machte ihn als Vertreter des Bad Paintings berühmt, brachte auch eine Professur ein und mich, ohne Ahnung von Malerei, als Fan. Ich liebe vor allem Büttners Titel. Wie soll ein Bild auch aussehen, das da heißt: Schlecht beleuchteter Weg zur Weisheit. Oder: Vermutlich wird auch der Tod eine Enttäuschung sein … Zum Abschied von der akademischen Welt lieferte Meister Büttner noch einen kleinen Skandal: Seine ehemalige Schülerin Meng Yin schenkte ihm einen Scherenschnitt aus chinesischem Papier, den Büttner dann 2020 zwar deutlich größer und in Öl variierte, aber frappierend ähnlich. Nun stellt er seine vier Quadratmeter gar nicht mehr aus, will das Bild gar übermalen. Ein KLF-Schluss, oder?

Instagram: Notes from the outer rim
Der Wissenschaftsjournalist Niels Boeing machte Urlaub auf einer griechischen Insel, fotografierte dort und postete die Bilder. Klingt jetzt nicht soo aufregend – aber da die Bilder irgendwie merkwürdig wurden und er gerade Gerd Spittlers Anthropologie der Arbeit gelesen hatte, schrieb er zu jedem Pic noch eine kleine SF-Story dazu. Die dann horizontal ausuferte, Ursula K. LeGuin streifte und Bäume vorstellte, die, je näher man ihnen kam, desto unschärfer wurde.
Sound: Amapiano
Klingt für westliche Ohren wohl wie bummeliger Deep House, kurz vor dem Stehenbleiben. Doch der Sound aus den Clubs der südafrikanischen Provinz Gauteng verschraubt vertrackte afrikanische Rhythmen mit einsamen Echos, schichtet Synkopen übereinander, scheut weder Jazz-Elemente, düstere John-Carpenter-Soundtrack-Samples, sonnigen Pop noch Hosen flattern lassende Beats, die dem Laden von Pumpguns gleichen. Anspieltipps: »The Beginning« von Native Soul; »Hamba Nobani« von Boohle w/ Busta 929, Reece Madlisa & Zuma; »Groove« von Vigro Deep; »Inhliziyo« von Mas Musiq w/ Babalwa M; »All Of This« [Scorpions King Remix] von Jorja Smith.

Filmszene II: Der Rausch
Das wir alle 0,5 Promille mehr im Blut haben sollten, um das Leben lässiger zu bewältigen, ist die Prämisse des Films. Wie geil und wie flüchtig das sein kann, zeigt der Film von Thomas Vinterberg mal komisch, mal ertrinkend. Aber am Schluss tanzt Mads Mikkelsen einfach drüber (und, vor allem, drunter) weg.
P. S.: SMS-Nachrichten im Stil alter Stummfilm-Einblendungen zu inszenieren hat natürlich auch Stil.
Gedicht: Bleiben
Masha Qrella vertont die vermutlich bekanntesten Verse von Thomas Ich-danke-den-Verhältnissen-für-ihre-Widersprüche Brasch, nach vorn treibend und mit Synthieflächen, die aus dem Todesjahr des Berserkers und Lyrikers stammen könnten. Die Zeilen selbst: zeitlos.
Was ich habe, will ich nicht verlieren, aber
wo ich bin, will ich nicht bleiben, aber
die ich liebe, will ich nicht verlassen, aber
die ich kenne, will ich nicht mehr sehen aber
wo ich lebe, da will ich nicht sterben, aber
wo ich sterbe, da will ich nicht hin:
Bleiben will ich, wo ich nie gewesen bin (aus Kargo, Suhrkamp 1977)
Song IV: Listening Wind
The Specials haben alte Protestsongs neu aufgenommen. Neben Klassikern auch diese Nummer der Talking Heads, von Remain in Light. Und sie lassen sie von Hannah Hu singen, die schon bei dem Specials-Cover von Leonard Cohens »Everybody Knows« die Silben so kathedralenhaft dehnend hielt, dass man sich wünschte, der kleine Jude, der die Bibel geschrieben hat, könne es hören.
Antwort: Lars Eidinger
Frage im Weltkunst-Podcast: »Kannst Du eine große oder kleine Lebensweisheit teilen?« »Ja, meine Frau hat am Anfang, als ich so unglücklich war, weil sich keiner für mich interessiert hat, gesagt: Du musst so lange in die Ecke pissen, bis es stinkt. Etwas für sich machen in der Ecke, abgewandt von den Anderen, was einen Geruch entwickelt – das ist der Schlüssel.«
Helmut Ziegler, 1958 geboren, u. a. Ko-Autor von „Brüste – Das Buch“, strebt in der dritten Lebenshälfte seine vierte Karriere an und schreibt jetzt Two-in-one-Romane. Sollte das nicht erfolgreich sein, heißt das nächste Spielfeld: Frührente. Ansonsten schreibt er für Geld. Bei CrimeMag erschien 2018 sein legendäres Porträt des „Mister Dynamit“–Autors C.H. Guenter aus dem Wiener von 1987 in einer Neuauflage.
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Robert Zion
Die Höhepunkte meines Filmjahres 2021 waren ausschließlich Wieder- und Neuentdeckungen aus 50 Jahren Filmgeschichte, von 1924 bis 1973.
– MANHANDLED (Allan Dwan, 1924). Restauriert erhältlich als DVD oder Blu-ray von Kino Lorber Studio Classics: Gloria Swanson wurde bei Cecil B. DeMille zum Star, bei Allan Dwan wurde sie zu einer Schauspielerin – und zu was für einer großartigen!
– ABILENE TOWN (Bandiditen ohne Maske, Edward L. Marin, 1946). Erhältlich als liebevoll gestaltete Blu-ray von dem kleinen britischen Label Panamint Cinema: Einer der unbekannteren Western Randolph Scotts, doch von Scott, Rhonda Fleming, Lloyd Bridges und Ann Dvorak hervorragend gespielt, spannend und humorvoll.
– THE OUTCASTS OF POKER FLAT (Die Frau des Banditen, Joseph M. Newman, 1952). Erhältlich als LES BANNIS DE LA SIERRA auf DVD in der Reihe „Western Legende“ des französischen Labels Sidonis Calysta (mit engl. Originalton): Ein finsterer Schnee- und Noir-Western nach Bret Harte, der Tarantino wohl als Vorbild für THE HATEFUL EIGHT gedient haben dürfte – nur unendlich viel besser.
– DER GROSSE FREMDE (The Tall Stranger, Thomas Carr, 1957). Erhältlich als deutsche DVD von Filmjuwelen: Die atemberaubende Virginia Mayo und der große Melancholiker des Westerns Joel McCrea in einem späten B-Western, der dennoch wunderbar gespielt und inszeniert ist, packend von der ersten bis zur letzte Sekunde – goldenes Hollywood-Filmhandwerk.
– I SAW WHAT YOU DID (Es geschah um 8 Uhr 30, William Castle, 1965). Erhältlich als aufwendig ausgestattete Blu-ray von dem deutschen Label Ostalgica: Es war für mich eine ware Freude, diesen Film wiederzusehen und das Booklet für diese Veröffentlichung zu schreiben. Wohl die Erfindung des Teenie-Slashers, doch auch eine Hommage an Hitchcock. William Castles letzter großer Film als „Gimmick King“ Hollywoods.
– THE WICKER MAN (Robin Hardy, 1973). Erhältlich als Mediabook von dem kleinen deutschen Label Birnenblatt, inklusive der CD des wunderschönen Folk-Soundtracks von Paul Giovanni: Ein Horror-Folk-Musical und als solches pure Magie, dabei noch einer besten britischen britischen Horrorfilme überhaupt, und Christopher Lee wahrscheinlich in der Kostümierung seines Lebens.


Robert Zion ist Autor der weltweit einzigen und dazu noch vorzüglich ausgestatteten Rhonda-Fleming-Monografie – ein leidenschaftlich vom Kino begeistertes, altmodisch schönes und informatives Filmbuch mit Bildern in bester Druckqualität. Robert Zion, der vornehmlich für 35 Millimeter – Das Retro-Film-Magazin schreibt, hat bereits exquiste Bücher über Roger Corman, Vincent Price, William Castle und Dario Argento veröffentlicht. Rhonda Fleming ist, da stimmen wir ihm zu, einer der Gründe, warum das Kino überhaupt erfunden wurde. Das Buch hier bei uns von Alf Mayer besprochen.