Geschrieben am 31. Dezember 2021 von für Highlights, Highlights 2021

Regina Nössler, Frank Nowatzki, Andrea O’Brien

Regina Nössler: Vulkane und Viren

Der Vulkan, der im September auf der Kanareninsel La Palma ausbrach, findet gegen Ende des Jahres hierzulande nur noch wenig Beachtung. Dabei ist er zum jetzigen Zeitpunkt, während ich dies schreibe, unverändert aktiv und spuckt und speit und ein Ende nicht abzusehen. 

Meine Verlegerin Claudia Gehrke verbindet eine lange Geschichte mit La Palma, und erst im Herbst erschien zur abgespeckten Frankfurter Messe „La Palma – Literarisches Lesebuch“. Ein Buch, das bereits historisch war, als es sich noch im Druck befand, denn die Insel wird nie mehr so sein wie vor dem September 2021. Zwar ist sie um eine neue Landzunge reicher, aber einige Ortschaften – und damit Häuser, Bananenplantagen, Kirchen, Straßen – existieren schlicht nicht mehr. Der Vulkan hat immer noch keinen Namen. Die Einwohner La Palmas nennen ihn, so las ich, „das Biest“.

Wegen der erwähnten engen Verbindung meines Verlags zu dieser Insel lag es nahe, dass ich sie eines Tages zum Schauplatz eines Krimis machen würde. So geschehen 2013 mit „Wanderurlaub“. Die Wandergruppe darin besucht natürlich den Vulkan Teneguía an der Südspitze. Jahrzehntelang Pflichtprogramm für Touristen. Heute ist er vermutlich nicht mehr so spannend. Er brach 1971 aus, was sehr weit weg und gleichzeitig gruselig nah erschien.

Ich habe viel gelesen dieses Jahr, was nichts mit Corona zu tun hat, ich lese immer viel. Und ich hätte, wie mir jetzt auffällt, viel früher damit beginnen sollen, mir Notizen für diesen Rückblick zu machen!

Natürlich habe ich „Der Sucher“ von Tana French (Fischer/Scherz, „The Searcher“, übersetzt von Ulrike Wasel und Klaus Timmermann) sofort gekauft, sobald es erschienen war. Tana French ist eine meiner Lieblingsautorinnen und für mich immer ein Fest. Ich gehe davon aus, dass die meisten, die das hier lesen, das Buch bereits kennen, deswegen erspare ich mir eine Inhaltsbeschreibung. In der Dezember-Ausgabe von CrimeMag ist Günther Grosser der Meinung, bei „Der Sucher“ handele es sich um einen ihrer schwächsten Romane. Mag sein. Meinem Lesegenuss tat das aber keinen Abbruch. Ich bin mir auch nicht sicher, ob ich seine Ansicht teile. Und selbst wenn – sogar ein schwächerer French ist für mich ein Fest. Sie lässt mich immer die Zeit und alles um mich herum vergessen. Ich bin völlig absorbiert, in einer anderen Welt, in der Welt des Romans. Fast so wie Lesen in der Kindheit. Wegen eines Umstands sehne ich mich manchmal in die Kindheit zurück: Damals konnte ich stundenlang auf dem Bauch liegen und lesen. Dagegen würde mein Rücken heute energisch protestieren.

Ich möchte unbedingt Johannes Groschupf und sein neues temporeiches Buch „Berlin Heat“ (Suhrkamp) erwähnen. Ich las es direkt nach Erscheinen im Mai. Es spielt in einer sehr heißen Stadt. Alle sind gelöst (der Protagonist allerdings aus verschiedenen Gründen nicht) – Sommer, die Pandemie ist vorbei. Ich fand Johannes Groschupf sehr mutig. Wahrscheinlich haben sich alle Autoren und Autorinnen, deren Geschichten in der Gegenwart angesiedelt sind, genauso wie ich gefragt: Verdammt, was mache ich eigentlich mit dem doofen Corona? Unabhängig von der Pandemie und wie sie unser Leben verändert, stehen wir ja jedes Mal vor den gleichen Aufgaben. Wir müssen uns Plots ausdenken. Wir müssen Figuren Leben einhauchen, sie miteinander (und gegeneinander) agieren lassen und nicht zuletzt das Ganze in eine sprachliche Form bringen. Und dann plötzlich auch noch Corona. Was macht man damit? Ignorieren? Oder es schon Teil der Erzählung werden lassen?

Ich hätte mir wirklich frühzeitig Notizen machen sollen. Aber wer denkt schon im Januar, Februar, März … an einen Jahresrückblick? Da ich es versäumt habe, hier drei Bücher aus den letzten Wochen, die mich beeindruckt haben:

Camilla Way, „Sie beobachtet dich“ (Piper, „Watching Edie“, übersetzt von Uta Rupprecht). Eine Stalking-Geschichte, wie es scheint. Die seltsame Heather, in Schulzeiten ein Freak ohne Freunde, die zur Gewalt und zu eigenartigen Bewusstseinstrübungen und Absencen neigt, ist auch als Erwachsene noch eine ziemlich abstoßende Erscheinung. Geschichten über Freaks in der Schule, die keiner leiden kann, mochte ich schon immer. Und die Autorin hat mich sehr überrascht.

Rumaan Alam, „Inmitten der Nacht“ (btb, „Leave the World Behind“, übersetzt von Eva Bonné). In einem Gespräch bei radioeins hörte ich Christian Koch, den Inhaber der Krimi-Buchhandlung Hammett in Berlin-Kreuzberg, über dieses Buch sprechen. Christian nannte es sein (internationales) Lieblingsbuch dieses Jahres. Lieblingsbuch? Das machte mich neugierig. – Kaufen. – Rumaan Alam schildert zunächst sehr lange die kleineren, alltäglichen Probleme einer US-amerikanischen Mittelschichtsfamilie auf dem Weg von New York in den Urlaub aufs Land. Die üblichen Streitigkeiten. Nervtötende, stinkende Teenager. Auf den ersten mindestens fünfzig Seiten scheint alles normal, aber nach und nach schleicht sich kaum merklich das Unbehagen hinein. Zuerst tut man es beim Lesen noch ab, denkt, na ja, das ist zwar ein bisschen eigenartig, aber mehr auch nicht – bis es dann größer und größer wird und nicht mehr zu leugnen ist, dass hier etwas gehörig schiefläuft. Wie das unbemerkt und fast nebenbei geschieht und sich allmählich steigert, ist schon sehr meisterhaft erzählt.

Zum Schluss noch ein Buch, das erst im Dezember erschien. Catriona Ward, „Das letzte Haus in der Needless Street“ (Festa, „The Last House on Needless Street“, übersetzt von Olaf Bentkämper). Kurz befürchtete ich, es könnte sich hier um eine Renaissance der grässlichen Untergattung „Katzenkrimi“ handeln (was Katzenkrimis anrichten können, sieht man ja an Akif Pirinçci), denn unter anderem kommt eine Katze namens Olivia zu Wort. Aber es stellte sich bald heraus, dass Olivia durchaus eine interessante Figur ist, bemerkenswert vor allem, wie sie „zu Gott gefunden“ hat. Das Buch ist gewöhnungsbedürftig. Bizarr. Teils grausig. Beklemmend. Total seltsam, gesponnen, wirr, surreal – aber am Ende, als sich vieles aufklärt, dann doch nicht, sondern in sich schlüssig.

Denise Minas neues Buch „Totstück“ (Ariadne, „The Less Dead“, übersetzt von Karen Gerwig) erschien erst vor einigen Tagen. Es liegt hier bereit und wartet und wird meine Lektüre für das ausklingende Jahr.

Regina Nössler ist die Autorin exzellenter Krimialromane, die bei Claudia Gerke im Konkursbuch Verlag erscheinen. Thomas Wörtche bei CrimeMag über SchleierwolkenAlf Mayer 2014 im Frankfurter „Strandgut“ über WanderurlaubOberste Liga.

Frank Nowatzki

Mein Rückblick 2021 beginnt mit einem Zitat von Mike Tyson, denn offenbar gilt das umso mehr auch für dieses Jahr: „Die sozialen Medien haben es euch viel zu bequem gemacht, Leute zu beleidigen, ohne dafür auf die Fresse zu bekommen.“

Besonders nachdenklich wird man, wenn ein etablierter Verlag und ein erfahrener Übersetzer von einem der besten Geschichtenerzähler auf dem Markt sich im Impressum seines neuen Buches erstmal rechtfertigen müssen, um Wannabes und Besserwissern zuvor zu kommen: „Sprache und Sprachgebrauch wandeln sich im Lauf der Zeit. Was in einer bestimmten Epoche angemessen erscheint, kann in der nächsten schon unangemessen sein. Den Wünschen des Autors entsprechend wurde die Sprache in den Fünfziger- und Sechzigerjahren historisch getreu wiedergegeben.“ Gemeint ist natürlich Harlem Shuffle von Colson Whitehead, der in dieser perfekten Mischung aus Noir und Humor voller witziger Dialoge und fesselnder Wendungen wieder auf hohem Niveau abliefert. Ein historischer Blick auf New York City in den 1960er Jahren, der sowohl die Rassenfrage als auch den Kampf um den sozialen Aufstieg thematisiert. So ganz nebenbei erfährt man noch von einem Reisebüro für Schwarze, in dem „sichere Reiseziele“ angeboten werden. Das Faible für einen exzellenten Crime-Fiction-Geschmack merkt man dem Autor deutlich an.  

Musikalisch dazu passend und  vielleicht auch das beste Debüt des Jahres ist Lady Blackbirds Album „Black Acid Soul.“ Auf dem Album sind Jazz-Interpretationen von zumeist recht unbekannten Soul- und Folk-Stücken zu finden. Dahinter steckt Marley Munroe, die aus dem Südwesten der USA stammt. Am Klavier sitzt Deron Johnson. Miles Davis hatte Johnson noch in den späten 80er-Jahren entdeckt und  ihn mit auf Tour genommen.

Die HBO-Horrorserie namens „Lovecraft Country“ (das Buch von Matt Ruff gibt es bei Hanser) wartet nicht mit dem von H.P. Lovecraft begründeten Cthulhu Kult auf, aber ist im Geiste  durchaus mit seinem kosmischen Horror verwandt. Geschaffen hat sie der Filmemacher und Schauspieler Jordan Peele (Fargo). Lovecraft Country ist mindestens genauso eine Kampfansage an den bekanntermaßen rassistischen Schriftsteller, als auch ein Liebesbrief. Im Zentrum steht der Koreakriegsveteran Tic, der nach seiner Rückkehr in die Vereinigten Staaten nach seinem Vater sucht. Gemeinsam mit seiner Freundin Leti, gespielt von Jurnee Smollett – der eigentliche Star  -, begibt er sich auf eine Odyssee durch die Exsklavenstaaten und bekommt es mit weißen Hexenmeistern zu tun.

Mein Sci-Fi-Serien-Highlight des Jahres ist „Foundation.“ Apple hat sich die Verfilmung einiges kosten lassen und für zwei Episoden dasselbe Budget verballert wie normalerweise für einen Film. Die Vorlage stammt aus der Feder von Isaac Asimov, einem richtigen Sci-Fi-Giganten. Und „Foundation“ ist nicht einfach nur irgendeines seiner Werke, sondern gleich sein Magnum Opus. Nach dem gelungenen Villeneuve Remake von „Dune“ nach dem bekannten Meisterwerk von Frank Herbert, der auch dieses Jahr in die Kinos kam und die Fans begeisterte, ist nun also für Nachschub und Augenschmaus gesorgt. Ein galaktisches Imperium droht zu zerfallen und die gesamte Menschheit droht in ein 30.000 Jahre andauerndes dunkles Zeitalter zu stürzen. Das zumindest ist die Prognose des brillanten Mathematikers Hari Seldon (Jared Harris), der davon überzeugt ist, mithilfe seiner selbstkreierten Disziplin der Psychohistorik das Schicksal großer Populationen vorhersagen zu können – und in diesem Fall eben deren Untergang. (Die Algorithmen von Amazon und Google zielen noch auf Konsumverhalten ab.) Den seit Generationen geklonten Imperatoren gefallen keine Veränderungen, welcher Herrscher favorisiert schon einen Systemwechsel, wenn man einfach immer weitermachen kann?

Eindeutig viel Phil-Spector-Sound konsumiert oder gar gespritzt haben  The Courettes – ein brasilianisch-dänisches Garagenrock-Duo – auf ihrem nunmehr dritten Album namens „Back in mono.“ Wer sich noch an die Ronettes erinnern kann, der weiß, dass danach auch die Ramones ihre Spuren hinterlassen haben.  Fuzz-Gitarren, laute Trommeln, trashige Klaviere, Jingle Bells und Tamburin münden in dreiminütigen Dancefloor-Garagenkillern.

In ihrer neuen Kurzgeschichtensammlung „Daddy“, die im gleichen Kosmos wie ihr Debüt „The Girls“ angesiedelt ist, brennt Emma Cline ein literarisches Feuerwerk ab. Vernachlässigende oder narzisstische Eltern gibt es überall, vor allem, wie der Titel andeutet, Väter. Cline rechnet mit einer Post-#Me Too-Landschaft ab: Sie denkt sich in die Köpfe jener privilegierten Männer, die davon ausgehen, dass sie immer damit durchkommen werden. Väter, die vielleicht technisch gesehen nichts Falsches getan haben, deren Einstellung und Kontrollimpulse gegenüber Frauen oder ihren Nachkommen aber Bände sprechen. Es geht um Anspruchsdenken und den Verschiebungen von Macht und Einfluss – dem Wunsch, sie zu behalten und auszuüben, und dem pathetischen Hauch von Unsicherheit bei denen, die sie verloren haben. Auch bei mir als zweifacher Vater hat die Autorin kleine Strudel des Unbehagens in Bewegung gesetzt. Ich hätte sie aufgrund dieser sensiblen Antennen und Beobachtungsgabe für weitaus älter geschätzt. Manchmal sehen Texte mehr als man selbst. Hut ab.

Inzwischen kommt ja viel interessantes aus Downunder. So auch „The Glorius Dead“, das neue Album vom Belle Phoenix & the Subterranean Sea. Ich höre hier eindeutig PJ Harvey, Blondie und auch Nancy Sinatra und Lee Hazelwood heraus, aber das entscheidet man am besten selbst. „Some are real some are fake, Some do give and some do take .“ Sollte man unbedingt mal reinhören. Schöne Stimme, interessanter Sound.

Gefreut habe ich mich, dass Jake Hinkson nun mit seinem neuen Roman beim Polar Verlag gelandet ist. Er galt ja schon seit seinem Debüt, dem Kleinstadt-Noir „Hell on Church Street“, in dessen Mittelpunkt ein Jugendpfarrer steht, der seinem Verlangen nach der Tochter des Pastors nachgibt, als ein Geheimtipp. Auch in „The Posthumos Man“ hält Hinkson den Leser gut bei der Stange und garantiert unterhaltsame Lektüre, indem er existentielle und theologische Fragen aufwirft, nachdem sein Protagonist bereits auf Seite eins stirbt. In „Verdorrtes Land“ hat sich Hinkson stilistisch weiterentwickelt, bleibt aber thematisch seiner autobiografischen Nähe zum Thema Theologie treu.  Richard Weatherford, ein erfolgreicher Kleinstadtprediger in den Ozarks von Arkansas, stolzer Familienvater und ruhender Pol in seiner gläubigen Gemeinde, bekommt es mit einem bisexuellen Erpresser zu tun. Dunkel, düster, melancholisch, stringent im Präsens geschrieben: Jedes Kapitel aus der Sicht eines der Mitwirkenden, mit interessanten unterschiedlichen Sichtweisen auf dieselben Ereignisse. Kichert am Schluss wirklich der Teufel, wie Gunter Grosser in seinem lesenswerten Nachwort fragt? Für mich steht Weatherford eher in einer Reihe der Willeford’schen Nihilisten, die an gar nichts mehr glauben und die mit ihrem psychopathischen Tun allenfalls die Fassade aufrecht erhalten. 

Um beim Thema Religion zu bleiben: „Die skrupelose Ausnutzung von Unwissenheit und Aberglauben lenkt den Blick auf das kulturelle, vor allem erziehungspolitische Gebiet.“ Zu diesem Fazit gelangte Karlheinz Deschner schon in seiner beeindruckenden Kriminalgeschichte des Christentums. In der Netflix-Serie „Midnight Mass“ wird das Thema in einem astreinen Stephen-King-Setting auf der Insel Crockett Island jedoch auf die Spitze getrieben. „Spuk in Hill House“-Macher Mike Flanagan hat hier ein bildgewaltiges kleines Meisterwerk geschaffen, rund um Familientragödien, tiefsitzende Feindseligkeiten und einen charismatischen Priester (Hamish Linklater), der seinen Dienst in der kleinen Kirche St. Patrick antritt und mit seiner Redekunst und tiefen Religiosität die Insel-Bewohner rasch zu folgsamen Gemeindeschäfchen trimmt. Die richtigen Bibel-Zitate aneinandergereiht, gespickt mit unheilvollen Wundern und eigenartigen Vorkommnissen, somit fehlt nach den Episoden Genesis, Psalmen und Klagelieder nur noch die Offenbarung. Und die kommt. Auf gewöhnliche Schockeffekte wird übrigens verzichtet, dafür gibt es herzzerreißende Monologe und Philosophien über Religion, Gemeinschaft, Tod und Familie ähnlich wie bei „True Detective“ Rust Cohle. Was will man mehr?

Frank Nowatzki ist der Verleger von PulpMaster. Texte von ihm bei CrimeMag. Gerade in seinem Verlag erschienen: Ted Lewis: Schwere Körperverletzung (Originaltitel: G.B.H.) sowie Tom Franklin: Wilderer (Poachers).

Andrea O’Brien: Pimp Your Lockdown

Best of Spannungsliteratur 2021

Das zweite Pandemie-Jahr in Folge war nicht weniger schräg als das erste, aber zumindest hatten wir im Sommer eine kurze Verschnaufpause, bevor uns eine neue Variante nun wieder in die Suppe spuckt. Rückzug und Lockdown, sollte man meinen, bieten hervorragende Bedingungen für Bücherwürmer, es gibt weniger Ablenkung und somit mehr Zeit fürs Lesen. Leider hat sich das in meinem Fall als Trugschluss herausgestellt. Die Ablenkung war immer nur einen Mausklick entfernt, und ich fand es schwerer als sonst, mich in Bücher zu versenken.

Die Titel auf dieser Liste habe ich ausgewählt, weil sie mich richtig fesseln konnten. Natürlich ist das ein höchst subjektives Kriterium und es ist durchaus möglich, sogar ziemlich wahrscheinlich, dass mir durch mein hoffentlich vorübergehendes Konzentrationsproblem richtig gute Spannungstitel entgangen sind. Aber in diesen Zeiten ist es vielleicht für uns alle wichtig, Bücher zu finden, die uns entführen und die Welt da draußen für einen kurzen Moment vergessen lassen.

Deacon King Kong, James McBride

Dieser Roman sprudelt vor Lebensfreude und war für mich die Entdeckung des Jahres. Wer Romane mit einem breiten Spannungsbogen und einer bunten Ansammlung verschiedenster Figuren mag und sich an lebendiger Fabulierkunst erfreuen kann, ist bei James McBride goldrichtig.

Brooklyn, 1969: Ein älterer Mann, im Viertel als „Sportcoat“ bekannt, hält dem 19-jährigen Drogendealer Deems Clemens eine Waffe vor die Nase und drückt ab. Sportcoat gilt zwar als Säufer, aber alle wissen, dass der Diakon der Five Ends Baptist Church keiner Fliege was zuleide tut. Umso überraschender ist diese Tat, die die Menschen im Sozialbauviertel mit vielen Fragen zurücklässt und garantiert nicht ungesühnt bleiben wird. Und so entspinnt sich ein episches Drama, in dessen Verlauf McBride eine muntere Truppe aus verschiedenen Schichten und mit unterschiedlichsten Lebensgeschichten zusammenbringt, von der italienischen Mafia bis zur korrupten Polizei. Mit rasanten Wendungen und unvergesslichen Figuren ist Deacon King Kong ein witziges, bisweilen romantisches, immer emotionales und hochpolitisches Lesevergnügen. Elegant und mit großer Lust am Erzählen geschrieben. Großes Kino und eine unbedingte Empfehlung!

Blackwood, Michael Farris Smith

Mit Blackwood begeben wir aus dem Licht auf die dunkle Seite der Spannungsliteratur, genauer gesagt ins Territorium des tiefsten Southern Gothic. Wer vor finsteren menschlichen Abgründen und knallhartem Realismus keine Scheu hat, wird hier bestens unterhalten. Gänsehaut garantiert!

Eine Familie – Vater, Mutter, ein kleiner Junge – stranden in einer heruntergekommenen Kleinstadt namens Red Bluff. Die Namen dieser Menschen erfahren wir nicht, aber schnell stellt sich heraus, dass Vater und Mutter einen weiteren Sohn unterwegs auf der Straße ausgesetzt haben. Die drei sind bettelarm und völlig ausgehungert, sie leben in ihrem Auto, das schließlich den Geist aufgibt, weswegen die Reise der Familie in Red Bluff endet. Auch Red Bluff ist verarmt, die Geschäfte an der Hauptstraße stehen leer, doch es gibt eine Initiative, der heruntergekommenen Stadt neues Leben einzuhauchen. Musiker*innen, Künstler*innen und Autor*innen sind eingeladen, die leeren Läden mietfrei zu nutzen. Aus diesem Grund kehrt der Bildhauer Colbert nach vielen Jahren in seine Heimatstadt zurück, die er als kleiner Junge nach einem zutiefst traumatischen Erlebnis verlassen hatte. Sowohl die namenlose Familie als auch Colbert erregen die Aufmerksamkeit des Sheriffs. Und die Besitzerin der einzigen Bar, Celia, findet bald Interesse an Colbert, sehr zum Ärger einer ihrer Verehrer. Weder Celia noch Colbert ahnen jedoch, dass sie durch dramatische Ereignisse in ihrer Vergangenheit miteinander verbunden sind. Nach Wochen gelingt es Celia mit viel Geduld, das Vertrauen des halb verhungerten Jungen zu gewinnen. Doch nach einem Streit mit Colbert verschwindet sie spurlos. Das grausame Schicksal nimmt seinen Lauf. 

Ferris Smith wählt für seine mit Horrorelementen versetzte Geschichte ein symbolisch aufgeladenes Setting: Red Bluff liegt inmitten einer fruchtbaren Landschaft, doch wer jetzt an den Garten Eden denkt, täuscht sich gewaltig. An den Hängen und in den Gärten von Red Bluff wächst und gedeiht die Koboubohne, und zwar so rasant, üppig und dicht, dass sie innerhalb kürzester Zeit alles überwuchert, ja förmlich erstickt. In diesem „Paradies“ existiert kein Erbarmen, hier gibt es keine Gnade. Blackwood ist eine Geschichte über zerbrochene Existenzen, Verzweiflung, körperliche und seelische Pein, Wahnsinn und Schuld – und entwickelt mit ihrer allegorischen Poesie einen großen Sog.

The Searcher, Tana French

“The dark is busy around here.”

Auch Tana Frenchs neuester Spannungsroman spielt in einer abgelegenen Kleinstadt und in einen vermeintlich idyllischen Setting. Es gibt weitere Ähnlichkeiten: Wie Colbert in Blackwood versucht Cal Hooper in einer Kleinstadt den Neustart. Doch da hören die Parallelen auf. 

Hooper ist ein ehemaliger Cop aus Chicago. Müde von seinem Beruf und mit einer gescheiterten Ehe hinter sich, hat er sich ein verfallenes Cottage am Rande einer irischen Kleinstadt gekauft und versucht, es mit viel Zeit und Geduld in ein gemütliches Heim zu verwandeln. Doch seine Ruhe wird jäh gestört, als der dreizehnjährige Trey bei ihm auftaucht und ihn bittet, ihm bei der Suche nach seinem verschwundenen Bruder zu helfen. Weil Trey sich nicht abwimmeln lässt, gibt Cal schließlich nach und stößt dabei ziemlich schnell auf die dunkle Seite des vermeintlich idyllischen, naiv freundlichen irischen Dorflebens. 

Dass Tana French ihr Metier beherrscht, hat sie bereits mehrfach bewiesen, auch wenn sie mich mit ihren letzten Romanen eher enttäuscht hat. The Searcher hebt sich wohltuend davon ab. Die Geschichte plätschert eine Weile ruhig vor sich hin, man erhält ausreichend Zeit, sich mit der Hauptfigur anzufreunden. Alles scheint nett und cosy, bis am Horizont die ersten Ausläufer eines Unwetters auftauchen, das sich schließlich mit voller Wucht entlädt.

Wer also damit leben kann, dass sich die Spannung hier nur langsam aufbaut, und wer Subtilität nicht als Durststrecke erlebt, ist mit diesem Roman perfekt bedient.

Billy Summers, Stephen King

“A stranger came, and he turned into a neighbour, but here’s the punchline, he turned out to be a stranger all along.”

Der große Geschichtenerzähler Stephen King hat mit Billy Summers eine komplexe Figur geschaffen, der man sich nur langsam annähert, um ihr dann ergeben zu folgen. 

Billy ist natürlich kein sympathischer Held, schließlich ermordet er Menschen gegen Bezahlung. Doch schon bald wird klar, dass die Dinge nicht schwarz oder weiß sind.

Stephen King ist nicht nur dafür bekannt, dass er kreative Plots mit originellen, teilweise skurrilen Elementen entwickelt, er ist auch Profi darin, ausgelutschte Motive mit neuem Leben zu erfüllen. Hier nimmt er sich eines wohlbekannten Klischees an, man könnte es fast als Subgenre bezeichnen: Der Auftragskiller (Detective, Agent) und sein letzter Auftrag. King erzählt diese alte Geschichte auf seine eigene Art neu, eingängig, fesselnd und mit starken Dialogen angereichert.

Nach einem letzten Auftragsmord will sich Billy in den Ruhestand zurückziehen, also komplett abtauchen. Aber natürlich ist dieser allerletzte Job – man ahnt es – wie kein anderer. Er muss über Wochen oder sogar Monate in die Rolle eines anderen schlüpfen und sich mit seinen Nachbarn anfreunden, bevor er sein Opfer ins Fadenkreuz nehmen kann. Bis es soweit ist, soll er sich als Autor ausgeben, der von seinem Agenten ein Haus zur Verfügung gestellt bekommt, damit er dort in Ruhe ein Buch schreiben kann.

Je länger er die Rolle des freundlichen Schriftstellers verkörpert, desto unerträglicher und schäbiger empfindet es Billy, dass er seinen netten Nachbarn Lügenmärchen auftischt. Und so beschließt er, wenigstens etwas Ehrlichkeit in seine Coverstory zu bringen, und beginnt tatsächlich, ein Buch zu schreiben: Seine Lebensgeschichte.

King macht die Hauptfigur seines Romans zum Erzähler einer weiteren Geschichte. Wir erfahren nicht nur, dass Billy eine sehr traumatische Vergangenheit mit sich herumträgt, sondern erhalten auch einen Einblick in den Prozess des Schreibens selbst.

Stephen King bewegt sich durch seine Geschichte wie ein Seiltänzer, er ringt ständig ums Gleichgewicht, manchmal strauchelt er oder zitternd, aber er stürzt nie ab. Seine Hauptfigur ist nicht perfekt, Billy macht Fehler, er vergisst kleine Details, und obwohl er ein echter Profi ist, ist er nicht unfehlbar.

Billy Summers ist so spannend und unterhaltsam, weil die Figuren authentisch sind, der Plot nicht geradlinig verläuft, sondern immer wieder Überraschungen parat hält. Besonders reizvoll fand ich die kleine Hommage an einen seiner unvergesslichen Klassiker und die subtilen Anklänge an das Übernatürliche.

Die Besprechungen beziehen sich alle auf das englische Original. Billy Summers ist unter dem gleichnamigen deutschen Titel bei Heyne erschienen, die Übersetzung stammt von Bernhard Kleinschmidt. The Searcher ist unter dem deutschen Titel Der Sucher bei S.Fischer erschienen, die Übersetzung stammt von Ulrike Wasel und Klaus Timmermann. Eine deutsche Übersetzung von Blackwood wurde noch nicht veröffentlicht. Zuletzt erschien der Roman Desperation Road von Michael Farris-Smith unter dem gleichnamigen Titel bei ars vivendi, übersetzt wurde er von Jürgen Bürger. Deacon King Kong ist unter dem deutschen Titel Der heilige King Kong bei btb erschienen, die Übersetzung stammt von Werner Löcher-Lawrence.

Andrea O’Brien hat unter anderem die fulminante Fiona. Als ich tot war von Harry Bingham übersetzt und ihn interviewt. Außerdem übersetzt sie die Crimson Lake Serie von Candice Fox. Zu Ihrer Internetseite geht es hier. Ihr Blog „Krimiscout“ zur englischen Spannungsliteratur enthält auch Fahnderprofile. Ihre Texte bei CrimeMag. 2021 erschienen von ihr übersetzt u.a. Kathleen Kent Die Tote mit der roten Strähne, Candice Fox mit 606 und Dark, außerdem Louisa Luna Tote ohne Namen.

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