
Peter Münder: Umschalten in der Perma-Krise
Mit Messi die Wirtschaftsprobleme ausblenden, mit Klaus Pohl die Theaterkrise bewältigen, mit Marc Hamer gärtnern, dichten, Bücher schreiben, Maulwürfe beseitigen und die Sinnkrise als Zen-Buddhist neutralisieren
Trotz all der Katar-Querelen um Kapitäns-Armbinden, kriminelle Arbeitsbedingungen beim Bau der Stadien mit etlichen hundert Toten und dem hyper-korrupten FIFA-Boss „Infantilo“ war es doch enorm erhellend, von den WM-Experten bei TV-Runden zu hören, wie ein mittelmäßiger Kader zum Sprint in höhere Meisterklassen und sogar bis ins Endspiel zur Krönung eines linksfüßigen Messias motiviert werden kann: Nämlich mit einem „Umschalt“-Trainer, der das Team mental optimal konditioniert, blitzschnell vom Abwehr-Modus in den Angriff scheucht und damit den Sieg garantiert. Vielleicht klappt so ein Umschalt-Prozess aber auch nur dann, wenn man Fußball als Religionsersatz betrachtet und mit einem begnadeten Messi all die Defizite kompensieren und verdrängen kann, die Argentinien schon seit Jahren beuteln – wie etwa eine 90%ige Inflationsrate und die extreme hohe Arbeitslosigkeit. Wäre dieses Umschalten mitten in einer Krise nicht genau das ultimative Mittel, das wir jetzt während des von Putin angezettelten Ukraine-Krieges und in dieser Energie-Krise, dem Panzer-Desaster bei der Bundeswehr und all den anderen Systempannen brauchen?
Hilfe „prophylaktische Lektüre“ für das Umschalten des Systems?
Hinterher ist man ja immer schlauer – aber eine kritische Einschätzung von Putin und seinen im mafiösen Stil organisierten Leuten hatte die britische Journalistin (für Reuters und Financial Times) Catherine Belton in ihrer Studie „Putin´s People“ schon 2020 veröffentlicht und bereits 2015 mit ihren Putin-Recherchen in Angriff genommen. Im Dresden-Kapitel blendete sie die Entwicklung des kriminellen Putin-Netzwerks auf die Anfänge des KGB-Agenten zurück, der noch zu DDR-Zeiten als junger Geheimdienstler im Einsatz war und sich auf das Ausplündern und Erpressen von Firmen und Bekannten kaprizierte und die Gelder sofort auf Konten in exotischen Inselstaaten transferierte. Als die Dresdener KGB-Filiale während der Wiedervereinigungs-Phase und der Treuhand-Aktivitäten um 1989 aufgelöst wurde, zeigte sich Putin schon als dynamischer „Macher“, der die archivierten geheimen Papiere in Tag-und Nachtschichten im Ofen verbrannte und besonders sensible Unterlagen von Dresden selbst nach Moskau transportierte.
All die Machenschaften im Kontext von US-Deals mit heimlich ausgekungelten Öl-und Gas-Unternehmen wurden, wie Belton eruierte, schon mit Oligarchen aus der Jelzin-Zeit oder auch noch früher ausgeheckt. Für westliche Firmen und Staaten war es damals eben ganz bequem und günstig, diese eher dubiosen Details zu verdrängen. Ein „Umschalten“ im Umgang mit dem Moskauer Oligarchen-System wurde angesichts dieser reibungslos funktionierenden ökonomischen Bedingungen jedenfalls nicht angedacht. Auch wenn, wie Belton es beschrieb, im Putin-Dunstkreis etliche Oligarchen ums Leben kamen (jetzt gerade über Weihnachten 2022 wieder zwei, samt ihrer Familien) oder wohl auch vergiftet wurden, wenn sie sich weigerten, eigene Anteile an großen Unternehmen an die Parteibonzen aus dem Kreml abzutreten. Ja, hätten die „Berliner Experten“ sich schon früher mit den Berichten und Analysen zu den mafiösen KGB-Brigaden beschäftigt…

Mit „Entspannungslektüre“ eintauchen in andere Sphären? Oder sich selbst umprogrammieren?
Meine drei Lektüre-Highlights dieses vergangenen Jahres waren Klaus Pohls „Sein oder Nichtsein“, Dan McCrums Wirecard-Enthüllungen über den Wirecard-Skandal „Money Men“ und die beiden Bände des Lebenskünstlers, Gärtners, Autors und Maulwurfjägers Marc Hamer „How to Catch a Mole“ und „Vom Blühen und Vergehen – Ein Gärtnerleben“. In Pohls wunderbaren Band über die Hamlet-Proben mit Regisseur Peter Zadek 1999 in Straßburg tauche ich immer wieder ein, um groteske Szenen, wütende Zampano-Exzesse und melodramatische Konstellationen auszukosten, die absolut beflügelnd und aufregend wirken. Pohl hatte ja um die tausend Seiten in seinem kleinen Notizbuch vollgeschrieben („Er schreibt wie Mozart“) und hält alle Intrigen, Beschimpfungen und amourösen Avancen subtil und nuanciert fest: Wenn Ulrich Wildgruber plötzlich verschwindet, um beim Gastspiel einer Wanderbühne den Dr. Doolittle in „My Fair Lady“ zu spielen oder wenn Klaus Pohl jeden Morgen vor Probenbeginn eine herrliche Rose für die verehrte Angela Winkler besorgt. Zadeks Wutausbrüche sind auch 23 Jahre nach diesen Proben-Episoden immer noch unsäglich. Aber Pohl hat das Kunststück fertig gebracht, aus diesem Band ein beglückendes Erlebnis zu fabrizieren, das Irrungen/Wirrungen, Himmel und Hölle der Theater-Faszination miteinander verschmelzen lässt. Mein Fazit lautet jedenfalls immer noch: Lesen und Jubeln!

Auch WireCard ist eingeklemmt zwischen Himmel und Hölle, Millionen und Insolvenz
In diesen Tagen ist der in München stattfindende Wirecard-Prozess ja hochaktuell und wird es wohl noch mindestens ein Jahr sein. Dan McCrum hat mit seinen Enthüllungen alle hochbrisanten und unerhörten Details über die offenbar schon jahrelang praktizierten Betrugsmanöver mit asiatischen Drittpartner-Scheinfirmen usw. beschrieben. Was jetzt während der ersten Prozess-Sitzungen an eruptiven Ausbrüchen der Verteidiger und Ankläger registriert werden konnte, deutet jedenfalls darauf hin, dass während der vielen Versäumnisse der letzten Jahre, als sowohl Bafin als auch die bayrischen Instanzen beflissen alle Indizien für die systematischen Betrügereien durch die Wirecard-Chefetage (Markus Braun und der abgetauchte Jan Marsalek) ignorierten, dieses juristische Fehlverhalten nun mit emotionaler Doppelwums-Theatralik kompensiert werden soll. Wie McCrum bereits konstatierte, steht immer noch im Raum, dass die deutschen juristischen Instanzen jahrelang die schrille These vertraten, dass die Wirecard-Täter eigentlich als Opfer zu behandeln wären. Nun soll also diese juristische Fehldiagnose mit maximalem Dampf korrigiert werden. Vor diesem Hintergrund „House of WireCard“ zu lesen, läuft eigentlich auch auf einen „Umschalt“-Prozess hinaus.
Der begnadete Außenseiter und Quereinsteiger Marc Hamer
Marc Hamer stammt zwar aus Nordengland, er lebt aber schon seit vielen Jahren in Wales. Nach dem Tod seiner Mutter hatte ihn der Vater wie ein überflüssiges Möbel einfach rausgeworfen – da war er sechzehn Jahre alt und kämpfte sich dann als Wanderarbeiter, Gärtner, Maulwurfjäger durch. Er studierte Kunst in Manchester, wurde Lyriker, unterrichtete Creative Writing in Gefängnissen, heiratete die Schriftstellerin Kate Hamer und siedelte sich mit ihr in Cardiff an. Lange Zeit verbrachte er als Obdachloser am Liverpool-Kanal im Freien, wollte aber immer ungestört bleiben und ging allem aus dem Weg, was Geräusche verursachte: Auch ein nachts neben ihm hinter einer Hecke hechelndes Keuchen jagte ihm Angst ein – es war jedoch ein Schaf, wie er nach einer langen, schlaflosen Nacht merkte: „Schafe husten so ähnlich wie Menschen“, bemerkt er dazu. Der Naturbursche Hamer passt mit seinen unorthodoxen Ansichten in keine der gängigen Schubladen: In der Natur fühlt er sich wohl, will aber kein Öko-Freak sein; das Gärtnern behagt ihm sehr, aber „Gärtnern hat nichts mit Natur zu tun“, behauptet er. Vor allem möchte Hamer Prozesse des Entstehens und Vergehens studieren und analysieren. Den singenden, pfeifenden, kreischenden Vögeln, die ihn im Wald beobachten, merkt er an, wann und wie sie sich auf die Nacht vorbereiten und ob sie andere Vögel warnen, wenn er sich ihnen nähert. Er ist eigentlich der „Lederstrumpf“ unserer Zeit. Mit seiner idealistischen, hauptsächlich auf Naturprozesse gerichteten Perspektive kann man als Leser aber kaum seine Karriere als Maulwurfjäger nachvollziehen. Ihn faszinierte der Tunnelbau der Wühler, ihre extreme Sensibilität, die aber auch haarscharf an der Grenze zur Zerstörungswut schlummert; außerdem gefällt ihm ihr samtenes Fell. Diese Felle hängte er, nachdem er die Tiere mit etlichen Fallen umgebracht hatte, über Zäune und verwertete sie als Beutel. Inzwischen hat er diesen Job aufgegeben: „Molecatching ist ein traditioneller Beruf, aber jetzt bin ich dieser Fallenstellerei und des Tötens überdrüssig“, erklärt er.
Was Hamer umtreibt, ist die Suche nach Harmonie, Perfektion und natürlicher Schönheit: „Wir fühlen uns meistens unsterblich wegen unserer Besitztümer und betrachten die Maulwürfe als Eindringlinge und Zerstörer, die unseren Besitz zerstören“. Auch die künstlich evozierte heitere Gelassenheit eines Rasens wird laut Hamer von Maulwürfen gestört – was für einige Menschen inakzeptabel sei, meint er. Aber kein Lebewesen würde jemals eine perfekte Symmetrie erreichen: „Imperfection is where beauty is found“, konstatiert er. Im Klartext läuft sein Leitmotiv des Lebens auf eine ungekünstelte Nachhaltigkeit ohne High-Tech-Klimbim hinaus. Deshalb mähte er das Gras des von ihm gepflegten größeren Anwesens einer vermögenden älteren Lady immer mit einer Sichel – so konnte er vermeiden, Kleintiere zerstückelt als blutige Fragmente im Gras zu finden. Es sind solche Betrachtungen, die er selbst auch in die Nähe des Zen-Buddhismus rückt, die spannend und gewinnbringend sind. Seine innere Ruhe und Abgeklärtheit sind wohltuend und beflügelnd. Jedenfalls hat Marc Hamer sich in mehreren Phasen seines Lebens auf ganz neue Pfade begeben, was zu drastischen Umschalt-Phasen führte. Die konnte er jedoch ohne Trainer meistern.
- Die Texte von Peter Münder bei uns finden Sie hier.
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Marcus Müntefering: Ein Jahr wie ein Schrei geht zuende
Aber es gab auch gute Dinge.
Das Konzert von meiner Lieblingsband The Bathers in einem kleinen Hotel im schottischen Seeort Aberdour und die herzliche Aufnahme in den dort versammelten Fanclub der ebenfalls von mir sehr verehrten Band The Blue Nile (Thanx for all the G+Ts). Und die Bathers haben mein Lieblingslied gespielt.
Und dass nach Coronazwangspause endlich wieder die Crime Cologne stattfand. Ich hatte das große Vergnügen zwei Abende zusammen mit Friedrich Ani zu gestalten.
Über seinen tollen Roman „Bullauge“ haben wir gesprochen.
Und über Raymond Chandler und „Der große Schlaf“.
Specials Thanx: Dominic Hettgen von Emons, der das möglich gemacht hat.
Lohnenswerte Bücher, Musik, Filme und Serien gab es natürlich auch, wenn auch nicht allzu viele.
Was bleibt? Vielleicht diese hier:
Quentin Tarantinos herrlich nerdiges Filmbuch „Cinema Speculation“ (und sein Video Archives-Podcast mit Roger Avery)
Der wahnsinnig raffinierte Kriminalroman „Die Aosawa-Morde“ von Riku Onda
Die brillante, ganz nah an der Vorlage von Mick Herron erzählte Apple TV-Serie „Slow Horses“.
Und das finale, feine Album des unschlagbaren Jazz Butchers: „The Highest in the Land“ (RIP Pat Fish).
- Die Texte von Marcus Müntefering bei uns gibt es hier.
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Christopher G. Moore: The Longlist for 2022’s Moore Prize for Human Rights Writing
The Christopher G. Moore Foundation is delighted to announce an exciting longlist of 13 books that are outstanding in their portrayal of human rights themes. The trustees of the Foundation were thrilled with the exceptional quality and record quantity of books submitted this year. Each longlisted book has been chosen because of its ambitious, brave and original approach to highlighting crucial human rights issues across the world and because of the high quality of its writing.
The 2022 Longlist books are as follows (alphabetical by author surname):
•Susie Alegre – Freedom To Think – Atlantic Books, London
•Monbiant Dogon with Jenna Krajeski – Those We Throw Away Are Diamonds – Penguin Press, New York
•Janine di Giovanni – The Vanishing – Bloomsbury
• Sarah Dryden-Peterson – Right Where We Belong – Harvard University Press
•Thomas Harding – White Debt – Weidenfeld & Nicolson
•Sally Hayden – My Fourth Time, We Drowned – 4th Estate, London
•Christina Lamb – The Prince Rupert Hotel for the Homeless – William Collins
•Dr Denis Mukwege – The Power of Women – Short Books, Octopus Publishing
•Eyal Press – Dirty Work – Head of Zeus
•Gideon Rachman – The Age of the Strongman – Bodley Head
•Robert Samuels and Toluse Ologunnipa – His Name Is George Floyd – Penguin Random House
•Nury Turkel – No Escape – William Collins
•Barbara F. Walter – How Civil Wars Start and How to Stop Them – Viking
This year’s longlisted books cover a wide range of human rights issues: freedom of thought and speech; refugee education; homelessness and isolation; marginalization and discrimination related to work, race, gender or religion; migrant issues; the Uyghurs of China; the roots of racism; war; the BLM movement; dictatorships and women’s health and marginalization in developing countries. The books span a range of global settings, as well as the world of digital communications, health care and working and living environments.
Foundation founder, Christopher G Moore says: “This year around 50 books were submitted from publishers across the world. Our hope is this longlist of books will bring attention to the conditions and circumstances of the most vulnerable members of the international community. The common thread is the danger of what happens when basic human rights protection are violated. Over the next several months, we will be tweeting about the 13 longlisted books and encourage you to read them along with our panel of distinguished judges. We will look forward to your comments on the selected books.”
Please follow our discussion of the Longlist titles on Twitter: @cgmfoundation
The Moore Prize was established in 2015 to provide funds to authors who, through their work, contribute to the universality of human rights and to give a platform to human rights issues that are important in today’s societies. This unique initiative is awarded annually, as chosen by a panel of judges whose own work focuses on human rights.
The 2022 Moore Prize jury is comprised of Jury Chair Bidisha Mamata, British author and broadcaster, Avril Benoît, Executive Director, Doctors Without Borders/Médecins Sans Frontières and Ethiopian writer, blogger and human rights activist Befekadu Hailu Techane.
The winning book will be announced on Wednesday, 11 January, 2023. The winner of the prize will receive £1,000. For more information about each of the 2022 longlisted books, the Moore Prize and Foundation and previous Prize winners please visit the Foundation website.