Geschrieben am 31. Dezember 2021 von für Highlights, Highlights 2021

Marcus Müntefering, Ingrid Mylo

Marcus Müntefering: 4 x 5 + 1 = (20)21

Was vom Jahre übrig blieb

5 ROMANE

Stephen King – Billy Summers (Heyne)
Laura Lippman – Wenn niemand nach dir sucht (Kampa)
Patricia Melo – Gestapelte Frauen (Unions)
James MacBride – Der heilige King Kong (btb)
Viet Thanh Nguyen – Die Idealisten (Blessing)

5 SERIEN

Mare of Easttown (HBO)
Succession (HBO)
Inside No. 9 (BBC2)
Only Murders in the Building (Disney+)
Ted Lasso (Apple+)

5 FILME

Titane (Julia Ducournau)
The Hand of God (Paolo Sorrentino)
The Power of the Dog (Jane Campion)
Nomadland (Chloé Zhao)
The Velvet Underground (Todd Haynes)

5 ALBEN

IDLES – Crawler
Crucchi Gang – same
Sugar Candy Mountain – 666
A Certain Ratio – ACR Loco
Spencer Cullum – Spence Cullum’s Coin Collection

1 Song

Slime – Komm schon klar

Marcus Müntefering bei CrimeMag hier.

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Ingrid Mylo: Die Frauen und das Glück

(Ilse Aichinger, Louise Glück, Patricia Highsmith)

            Es muß nicht immer eine rote Tür sein, die man schwarz streichen will: manchmal ist es auch ein kleiner Löwe. Und hat mit Willen nichts zu tun: bei Ilse Aichinger geschieht es von ganz alleine, wenn die Dunkelheit kommt. Die Rolling Stones: ein anderes Universum, es ist, viele Jahre später, Bob Dylan, den sie erwähnt, in Zusammenhang mit ihrem Sohn Clemens Eich und seinen die Hoffnung zu Grabe tragenden Zeilen: „Der Schnee hat / seinen Namen / verloren, / sein Gesicht, / seine Geduld.“

Ingrid Mylo

            Zu dieser Zeit ist er tot, „vom Bleiben war nie die Rede“: auch das hat er geschrieben. Zu dieser Zeit nimmt Aichinger Zuflucht zu Cioran, nirgends schwärzer als da, keine Farbe: und es braucht ihre Worte, die Welt dennoch in einen Regenbogen zu brechen. Zu dieser Zeit holt der Nazi-Krieg (und was in ihm mit den Ihren geschah) sie ein. Sie sagt Kindertransport, sie sagt Peter Lorre, sie sagt Bodenlosigkeit, sie nennt Humor „ein finsteres Wort“.

            Davor: daß sich im Zögern die Musik der Kindheit aufhält. Daß für einen Kaminkehrer geschmückte Christbäume niemals an einen Kranich heranreichen. Daß die Tassen abends stärker klirren. Daß, obwohl der Schnee weiß ist seit je, der Mensch es inzwischen fertigbringt, die Winter dreckig zu machen. Daß Mütter ihre Kinder in den Spiegel heben. Daß zwischen uns und den Dingen ein Höllenlärm tobt. Und daß es, sekundenkurz, tatsächlich Augenblicke gibt, in denen die Unruhe sich in Glück verwandelt: vor dem Abschied von ihrer Zwillingsschwester, die nach England flieht. „Ein plötzliches Glück“: das sie beim Anblick von Bäumen und einzelnen Gehöften in der Landschaft durchzuckt, nachdem sie das Stadelheimer Gefängnis erwähnt hat, in dem Hans und Sophie Scholl enthauptet wurden. Und daß man nie weiß, „welchem fremden Leiden“ man das eigene Glück verdankt. Glück, das wir alle brauchen. Daß Aichinger, die so rücksichtslos das schreibt, was sie meint, was sie sagen will, Regelbrüche, scharfkantige Scherben, ohne sich darum zu scheren, ob andere mitkommen oder sich abwenden: daß diese Schriftstellerin der Sprache nicht traut, den Wörtern: verstehe ich sehr gut. Daß sie ohne Schatten überhaupt nicht auskommt: auch.

            Laß sie irgendetwas sehen, irgendetwas lesen, sich erinnern an irgendetwas: und laß sie schreiben darüber: sie spürt in allem das auf, was darüber hinausgeht und Himmel wird, unter dem man noch Jahre später geht.

            Und schließlich: ’die Willkür der Ämter’, die schon Shakespeare angeprangert hat: Aichingers Pfeil fliegt in die gleiche Richtung. Die Rechtschreibreform beanstandete sie als „hanebüchene Attacke gegen die Sprache“: ihre Vielfalt, ihre Anarchie verkrüppelt von „irrwitzigen kleinen Beamten, die ihr Inkognito unter dem autoritären Wort »Experten«bewahren“: das war 1996: schon damals hat es sich angebahnt. Hätte Aichinger doch über ihre Zeit hinaus gelebt: sie hätte einiges an Deutlichkeiten zu dem inzwischen wieder unmaskiert auftretenden Faschismus zu schreiben gehabt.

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            Der Winter im Titel ist ernstzunehmen: die neuen Gedichten von Louise Glück sind voller Dunkelheit, Kälte und Schnee. Auf dem Schnee die Schatten verschneiter Fichten, der verschneite Pfad gesäumt von unterwegs verendeten Dingen.

            Dinge sagt sie oft, denn Ding ist bei dieser Dichterin so vieles: etwas, das zwischen uns existiert, etwas, das man nicht länger herstellt, etwas, das passiert ist ohne sich zu wiederholen, etwas, das man nicht tut, etwas, das sich ändert, etwas, das keine gute Idee ist, etwas, das an Gewicht und Bedeutung gewinnt, etwas, mit dem man – weil es lebendig ist – nicht zurechtkommt, etwas, in dessen Herzen es still ist, etwas, das schließlich stirbt. Zu all dem sagt sie Ding: und daß die Dinge endlich sind, auch das sagt sie, entbindet uns nicht von der Pflicht, für sie Sorge zu tragen wie für alles, das wir entwurzelt haben.

            So einfach, wie sie Ding sagt, sagt sie auch Prinzip, Vision, Pun-Sai, Kontemplation, Seele, Verzweiflung, Universum (und sie erwähnt ‚The Denial of Death‘ von Ernest Becker, ein Buch, das die Theorie von Freud weit hinter sich läßt: ewig her: aber ich weiß noch immer, in welchem unsrer elfhundert Regale es steht), redet von der Konstituierung des Bösen, von spiritueller Dichte, vom wahren Selbst. Alltag und All, als hätte sie sich, während sie Marmelade einkocht und Messer abtrocknet, Gedanken gemacht über Sinnfälligkeit und Transformation. „A meditation on existence“, heißt es einmal: und vielleicht ist es das, denkt man zunächst, doch auf den zweiten Blick: eher nicht, da ist nichts Konzentriertes, kein In-sich-Versenken. Da ist kaum Substanz, und doch Tragweite: Verse wie Aschewolken nach einem Vulkanausbruch, wie Saharastaub, der noch Kontinente weiter die Luft spürbar durchsetzt. 

            Vor allem aber ist da eine ständige Abwärtsbewegung wie Regen, wie Blätter im Herbst, wie die Nacht in einem Song von Bob Dylan. Und ein großes Einverstandensein mit diesem endlosen Fall, während alles vergeht: die Zeit, die Welt, die Erinnerung daran: heißt das noch Leben, ist das nicht viel eher ein Nachruf auf das schwindende Dasein, das Blasserwerden der Worte. Selbst dann noch kann man vom Feuer träumen, das nicht erlischt, und manchmal bricht Mondlicht durch die Zeilen.

            Sie weiß von der Unmöglichkeit, Wüstengräser zu sehen, wo keine Wüste ist: und weiß, wie es trotzdem geht, sie besitzt Phantasie. Und Ironie, leicht und porös wie ein Bimsstein, wie sollte es ohne gehen: wenn die Suche nach Liebe nicht einmal endet, nachdem sie einem zuteil wurde. Aber die Hoffnung: sucht man dort nach ihr, wo man sie verloren hat, findet man sie womöglich wieder. Und muß sich nicht um die Bräuche gegen den Aberglauben kümmern, mit denen Louise Glück es eh nicht so genau nimmt: falls kein Salz zur Hand ist, tut’s auch eine Handvoll Schnee: weißist weiß. Und der Winter die Zeit, in der, wie auch im übrigen Jahr, Gedichte vonnöten sind.

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            Irgendwann im Leben kommt man – möglicherweise – an den Punkt, an dem man beschließt: Schluß mit den dicken Büchern. Man ist aus ihnen herausgewachsen: die Zeit, als man Kind war und in der Woche zwei, drei Wälzer, vorzugsweise von Karl May, verschlang, ist vorbei. Dicke Bücher sind jetzt was für Faule, für Leute, die über zu wenig Konzentration und Wendigkeit verfügen, sich ständig auf neue Situationen und Figuren einzulassen: einmal eingelesen, wollen sie, daß das immer so weiter läuft. Als Wurfgeschoß können dicke Bücher allerdings unschätzbar sein: eine couragierte Buchhändlerin aus der Kasseler Friedrich-Ebert-Straße hat damit mal einen mit einem Messer bewaffneten Räuber außer Gefecht gesetzt („ich laß mir von dem doch nicht unser mühsam verdientes Geld abnehmen“).

Dies hier ist ein dickes Buch. Ein sehr dickes. Ein ungeheuer dickes. Daß ich es dennoch gelesen habe, liegt an meiner Wertschätzung für Patricia Highsmith. Und an einem Satz wie diesem: „Ein Grund, Autos zu bewundern: Sie richten mehr Personenschaden an als ein Krieg.“ Einen solchen Satz ins Tagebuch zu notieren, setzt ein gesundes Maß an Abneigung gegenüber Menschen voraus. Damit hat Highsmith nie hinterm Berg gehalten. Mit 24 Jahren fragt sie sich noch, warum das so ist, warum sie Menschen meidet („vielleicht das Gefühl, nie wirklich ich selbst zu sein, wenn ich mit anderen zusammen bin“), Jahre später sind sie ihr nur noch ein Greuel. „Ohnehin ist die Menschheit aufgrund vonÜberbevölkerung und Dummheit so widerlich geworden, warum soll man da nicht trinken und rauchen, um den Tatsachen zu entfliehen?“ Als einzige Ausnahme läßt sie Geistesgestörte und Kriminelle gelten: mit ihnen empfindet sie Mitleid. Mit dem Papst nicht: „warum“, will sie am 1. 11. 67 wissen, „werfen die Amerikaner nicht ein paar Bomben auf den Vatikan“: seine „Herumtrödelei in puncto Geburtenkontrolle“ macht sie rasend. Während ihre Äußerungen andere rasend machen: etwa, wenn sie in einem Interview (nicht in diesem Buch) zu Protokoll gibt, daß sie, vor die Wahl gestellt, eher einer Katze auf der Straße helfen würde als einem Menschen. Auch ihr Eintrag am 15. 8. 71, „Ich könnte aus lauter Wut zuschlagen und möglicherweise ein zwei- bis achtjähriges Kind töten. Für die über Achtjährigen würde ich zwei Schäge benötigen,“ dürfte unter den selbstgerecht Empörungswilligen nicht unbedingt Begeisterungsstürme auslösen. Dem Komiker W. C. Fields („anyone who hates dogs and little children can’t be all bad“) hingegen hätte das Herz gelacht. Menschen sind unterschiedlich.

            Und wunderbar widersprüchlich. Highsmith mußte 27 werden, in Neapel sein und allein, um sich zum erstenmal selbst zu mögen. Sich anderen überlegen gefühlt: das hat sie schon Jahre davor. Zufrieden ist sie selten, unglücklich oft: weil sie zu viel liebt oder zu wenig, weil sie zu viel oder zu wenig geliebt wird. Weil sie mit der Welt hadert, mit Zahnschmerzen (es ist unheimlich, wie oft sie davon heimgesucht wird), mit ihrer Mutter, mit den Franzosen und den Fliegen, mit Heuchlern und Konventionen. Glück ist ein Abzählreim, wie die Sache mit dem Gänseblümchen, das man nach der Liebe befragt (ein halbes Jahr später hält das Gänseblümchen dann als Vergleich für die Einstellung zu Sinn und Schönheit her). Und Groll fürs Schreiben eine ergiebigere Quelle: „ein Überfluß an Freude bringt nicht so viel Geschriebenes hervor“ (3. 12. 73). Schreiben ist nun mal das, was sie ausmacht, ohne ist Highsmith schlicht nicht vorstellbar: es geschieht „wenn ich mich so sehr langweile, daß ich es nicht mehr ertrage“ (14. 2. 55), es dient als „Ersatz für das Leben, das ich nicht leben kann“ (17. 5. 50), und es kann sich anfühlen, „als würde man dabei beobachtet, wie man bei der Beerdigung eines Freundes weint“ (18. 12. 46).

            Die Schriftstellerin, die Katzen liebte, Frauen und Alkohol (wieviele gute, einfallsreiche Gründe sie allein fürs Trinken anführt) hat sich in ihren Tage- und Notizbüchern (dieser wuchtige Band ist nur eine kleine Auswahl aus etwa 8000 Seiten) nichts vorgemacht: was uns zu Voyeuren macht, die dabei zusehen, wie sich aus ihrer Auseinandersetzung mit sich und dem Leben ihr Schreiben entwickelt.

© 2022  ingrid mylo

  • Ilse Aichinger: Aufruf zum Mißtrauen / Verstreute Publikationen 1946 – 2005 / S. Fischer 2021. 320 S. € 25,-
  • Louise Glück: Winterrezepte aus dem Kollektiv / Aus dem Amerikanischen von Ute Gosmann / Luchterhand 2021. 77 S. € 16,-
  • Patricia Highsmith: Tage- und Notizbücher / Hg. von Anna von Planta / Aus dem Amerikanischen von Walz, pociao, Kroll, Hertle & Torberg / Diogenes 2021. 1370 S. € 32

Vier Blicke auf Ingrid Mylos neuesten Gedichtband Überall, wo wir Schatten warfen
Ingrid Mylo bei uns auf CulturMag, ihre neueste Kreation 3 x 11 Spielworte. Aber schauen Sie selbst in diesem Link.

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