
Der Ingenieur als Verkünder des Weltgeistes
Ludwig Fischer zu James Lovelocks hochgestochener, erschreckender Proklamation des ‚Novozäns‘ als Erfüllung der Weltgeschichte

Der Ingenieur, Chemiker und gefeierte Interpret des ökologischen Systems Erde James Lovelock hat das wahrhaftig respektable Alter von einhundert Jahren erreicht. Aber statt sich auf seinen vielfältigen Lorbeeren auszuruhen, langt er denkerisch noch einmal richtig hin und veröffentlicht ein zwar überschaubares, gleichwohl mit höchstem Anspruch daherkommendes Buch. Es entwirft in drei Teilen mit insgesamt 23 relativ kurzen Kapiteln samt Einleitung und Nachwort nichts weniger als die Erfüllung der Evolutionsgeschichte durch ein neues, schon jetzt beginnendes Erdzeitalter, das ‚Novozän‘, mit der absehbaren Vollendung des irdischen Lebens durch die ‚Cyborgs‘, die sich selbst und ihre Umwelt steuernden und sich unabhängig von den Menschen reproduzierenden, maschinellen Inkarnationen der ‚Hyperintelligenz‘.
Lovelock erklärt das Anthropozän, die krisenhafte erdgeschichtliche Epoche des massiven menschlichen Eingriffs in die Entwicklung des Planeten, als ‚im Grundsatz‘ bereits beendet – es müssen nur noch ein paar dringliche Aufräumarbeiten erledigt werden, zum Beispiel das Abmildern und Begrenzen der globalen Erwärmung. Diese Aufgabe, an der immer deutlicher nicht nur die Politik, sondern auch die Wirtschaft und vor allem das Alltagshandeln der maßgeblichen Gesellschaften zu scheitern droht, wird in dem Buch eher nebenher behandelt. Denn die geradezu euphorisch wirkende Aussicht, die Lovelock als evolutionäre Zwangsläufigkeit ausmalt, ist die Überwindung der begrenzten menschlichen Intelligenz durch die von ihren ‚Eltern‘ emanzipierten, beinahe mit Lichtgeschwindigkeit denkenden Maschinenwesen, die endlich das Universum vollends und wahrhaftig begreifen und damit ‚das Leben‘ auf der Erde zu seinem von Beginn an immanenten Ziel bringen.
Die regelrecht heilsgeschichtlichen Anklänge in einer solchen Kurzangabe unterstellen dem Buch nichts, im Gegenteil: Sie sind von Lovelock gewollt, er spielt immer wieder mit der religiösen Grundierung seiner vorgeblich wissenschaftlich fundierten Erzählung von der glorreichen Vollendung der Evolutionsgeschichte in der Gattung der maschinellen, sozusagen reinen Hyperintelligenz, die alle menschlichen Vermögen weit übersteige. Seinem welthistorischen Konstrukt liegt eindeutig und unmissverständlich eine nach jüdisch-christlichem Verständnis modellierte, lineare Teleologie zugrunde, die ihren End- und Gipfelpunkt eben in der Weltherrschaft der ‚Cyborgs‘ erreicht, und Lovelock – so könnte man, nur wenig überspitzend, formulieren – ist der Prophet dieses Glaubens.

Zwar wehrt er, wie gesagt, ein religiöses Verständnis seiner Erklärungen und Prognosen ab, benutzt aber fortwährend das Denkmodell eines universalen, linearen Vollendungsgeschehens, das eine ungenannte, uranfänglich wirkende Instanz in der Evolutionsgeschichte angelegt hat. Und diese bestimmungsgemäße Vollendung sämtlichen Lebens auf der Erde sieht James Lovelock, alle mit der Misere des Anthropozäns beschäftigten Denker und Lenker hinter sich lassend, im nunmehr anbrechenden Novozän – für den Begriff reklamiert er selbstverständlich das Urheberrecht – durch die neue Gattung der Cyborgs kommen. Wie genau diese Wesen, die menschlichem Denken (und Handeln?) so haushoch überlegen sein sollen, denn genauer beschaffen sind, wird nicht ausfantasiert. Es reicht, ihre ‚hyperintelligente‘ Informationsverarbeitung und Kombinatorik zu postulieren, mit der sie alles zum Besten wenden, weil sie, anders als die Menschen, auch die Risiken ihrer Aktivitäten umfassend zu beurteilen und negative Folgen blitzschnell zu korrigieren vermögen.
Beinahe auf jeder dritten Seite liefert Lovelock das Bekenntnis „ich glaube“, und das auch bei der naturwissenschaftlichen Erläuterung von Sachverhalten und Entwicklungslogiken. Er „glaubt“ an bestimmte kosmologische Zwangsläufigkeiten, zum Beispiel an das ‚anthropische Prinzip‘ – „das Ziel des Kosmos ist es, intelligentes Leben hervorzubringen und zu erhalten“, sprich: die Gattung Mensch zu erzeugen. (S.43) Und dann deren Nachfolger, die hyperintelligenten Cyborgs. Das „primäre Ziel“ der universalgeschichtlichen Entwicklung, so „glaubt“ er, sei daher „die Umwandlung aller Materie und Strahlung in Information.“ (S.96) Dann allerdings wären die ‚Informations-Ingenieure‘, die sich derzeit noch mit unzureichenden IT-Systemen abmühen, die wahren Geburtshelfer der kosmischen Vollendung, indem sie die Entstehung jener ‚höchsten Wesen‘ einleiten, die mal als materielose Hyperintelligenz erscheinen, mal als sich selbst reproduzierende Informationsverarbeitungsmaschinen.
Der unsäglich versimpelte, letztlich krud mechanistische Informationsbegriff, der in dieses Ingenieursweisheiten waltet, führt Lovelock denn auch zu dem Bekenntnis, „dass das Bit das fundamentale Teilchen ist, auf dem das Universum aufbaut.“ (S. 111) Die informationstheoretische Einheit Bit wird auf zauberhafte Weise zum „Teilchen“ – immer wieder raunt der Autor dieses Buchs, dass wir ‚nur intelligenten‘ Menschen das kommende Da-Sein der „dominanten Spezies“ der Cyborgs und damit die Verwandlung der Welt in ein informationelles Paradies nicht begreifen könnten.
Völlig im Nebulösen belässt Lovelock die Existenzform der Cyborgs. Mal erscheinen sie in seinem Text als ungreifbare, substanzlose Verarbeitungsstrukturen ‚reiner Information‘ – die abstruse evolutionstheoretische Pointe des Buch ist das Postulat, die finale, höchste Stufe der Universalgeschichte sei die ‚Überwindung‘ des materiellen, organischen Substrats von Information etwa im Gen-Code oder den neuronalen Verschaltungen, indem die Wesenheiten des Novozäns sich selbst als Repräsentationen bloßer, von jeder ‚Gegenständlichkeit‘ gelöster Rechenoperationen entwickeln, als Erscheinungsformen der abstrakten Information, auf die sich letztlich alles im Universum zurückführen lasse.
An anderen Stellen werden die Cyborgs sehr viel konkreter als Maschinenwesen umschrieben, die aus der digitalisierten Technik hervorgehen und zu einem ‚Eigenleben‘ der sich selbst vervielfältigenden und optimierenden ‚Hyperintelligenz‘ gelangen. Wie solche wundersame Transsubstantiation der menschengemachten Apparate zu sich selbst reproduzierender Hardware denn vonstatten gehen könnte, muss einen visionären Denker wie Lovelock nicht beschäftigen – wo er doch, ganz auf das Apparative fixiert, darlegt, dass es Menschen braucht, um die „ultrafeinen Drähte aus hochreinem, ungebrochenen [sic!] Metall“ und die „dünnen Schichten von Halbleitermaterialien“ herzustellen, in denen sich das Innenleben der Hyperintelligenz abspielt. Das pseudo-wissenschaftliche Geraune von einer ‚irgendwie sich fortpflanzenden‘ und die Evolution auf ihre höchste Stufe hebenden, das beschränkt Menschliche überwindenden Technik, in der dann endlich die verstehende Intelligenz, gewissermaßen der auf IT-Begriffe gebrachte Hegelsche Weltgeist, zu sich selbst kommt, solches verblasene Faseln von der in schemenhaften Cyborgs verwirklichter Hyperintelligenz muss genügen. Man fragt sich, welche Leserin, welcher Leser derlei Phantasmagorien eines die Welt und die Zukunft durchschauenden Ingenieurs eigentlich ernst nehmen kann.
Noch kabarettistischer treten die Cyborgs im Text auf, wenn der Autor darüber räsonniert, wie schnell sie denn etwa, als unvorstellbar geschwinde und komplex denkende Wesen, „laufen, schwimmen und fliegen“ könnten, so als hätten sie denn doch einen Körper. Dann kommt der Ingenieur mit umstürzenden Erkenntnissen über die Widerstände in „viskosen Medien“ wie Luft oder Wasser.

Kurzum: Die Rede von den Cyborgs, die weder Organismen noch Roboter sein sollen, ist nicht mehr als ein inkonsistentes, diffuses Geschwafel von einem „elektronischen Leben“, das demnächst die Regie auf dem Globus und darüber hinaus übernehmen werde. „Wir werden merken, dass wir im Novozän angekommen sind, wenn Lebensformen auftauchen, die in der Lage sind, sich selbst zu reproduzieren und die Fehler der Reproduktion durch gezielte Selektion zu korrigieren.“ (107) Das soll heißen: Der Ingenieur verkündet uns die frohe Botschaft, „es ist entscheidend zu begreifen, dass wir uns, welchen Schaden wir der Erde auch immer zugefügt haben mögen, gerade noch rechtzeitig gerettet haben, indem wir gleichzeitig als Eltern und Geburtshelfer der Cyborgs agieren.“ (ebd.) Denn die in ihnen erscheinende Hyperintelligenz vermag, so das neue Evangelium, jeden bisherigen und zukünftigen „Fehler“ im Umgang mit ‚Gaia‘ sofort zu aufzuheben.
Die Cyborgs, Ergebnisse der digitalen Ingenieurskunst – die damit zum entscheidenden evolutionären Zeugungsfaktor wird –, erscheinen, wie gesagt, als die letzte, höchste Sprosse des bisher in der Gattung Homo sapiens gipfelnden Baums der Evolution alles Lebendigen. Lovelock scheut sich nicht, direkte Anleihen für eine solche quasi-religiöse Modellierung der Evolutionsgeschichte bei der alttestamentarischen Selbstdeutung des jüdischen Volkes zu benutzen: Die Menschen sind für ihn die „auserwählte Gattung“, mit der „das Leben“ durch „die Intelligenz“ auf seine Bestimmung zusteuert, die dann mit der finalen Gattung der Cyborgs erreicht wird. Wer da, den Gang der Evolution planend, die Spezies Mensch „auserwählt“ haben soll, darf man bei solchen Verkündigungen freilich nicht fragen.
Grotesk wird eine solche Modellierung nicht nur, weil sie die alte, in der traditionellen Anthropologie immer wieder neu ausgelegte ‚Sonderstellung‘ des Menschen als ‚Krone der Schöpfung‘ nun sozusagen informationstechnisch definitiv begründen will, mit der vorgeblich wissenschaftlich unterlegten Hypostasierung einer mechanistisch begriffenen Intelligenz. Sondern geradezu irrwitzig erscheint die Neuauflage einer transzendentalphilosophischen Geschichtsdeutung: Indem mit der menschlichen ‚Intelligenz‘ das evolutionäre Ziel bereits fast erreicht ist, dass ein Lebewesen sich selbst und den Kosmos zu ‚verstehen‘ vermag, kommt gewissermaßen ‚die Intelligenz‘ – nach Millionen von Jahren der Evolution – schlussendlich zu sich selbst. Denn das Ziel der Evolution, so Lovelock, sei eben das ‚Verstehen‘ der planetaren Entwicklungslogik, für das die Gattung Mensch schon immer bestimmt gewesen sei. Eine solche nachdarwinistische, unfreiwillige Parodie der Hegelschen Geschichtsphilosophie verschlägt einem bei der Lektüre schon fast den Atem. Man darf unterstellen, dass Lovelock nie eine Zeile von Hegel gelesen hat.
Solche Lektüre würde bei den Proklamationen des Ingenieursgeistes auch nur stören. Der beansprucht zwar – in Lovelocks Version – bei entscheidenden Vorhaben „intuitiv“ vorzugehen, also einer „nicht-linearen Logik“ zu folgen, anders als bei der Verwendung von Sprache und Schrift, die einer ‚linearen Logik‘ gehorchen. Schon eine solche Vorstellung von Sprache und auch Schrift als etwas auf „rationale, bewusste Gedanken“ Beschränktes (S. 36) spricht nicht nur allen anthropologischen Forschungen zur Entstehung und Entwicklung menschlicher Sprache und Schrift Hohn, sondern auch allen neueren Einsichten von Neurophysiologie, Kognitionswissenschaft, kognitiver Linguistik und den Wissenschaften vom ‚embodied mind‘. Für Lovelocks simples Konzept von menschlichem Denken und ‚transrationalem‘ Zustandekommen wichtiger Erfindungen ist es auch unwichtig, in der ‚Intuition‘ mehr begreifen zu wollen als einen bloßen ‚Einfall‘ jenseits wissenschaftlich-logischer Schlussfolgerungen. Eine sozusagen ingenieurstechnische, anthropologisch, philosophisch, neurologisch und auch psychologisch unbedarfte Vorstellung von ‚Bewusstsein‘ führt denn auch zu einer völlig reduktionistischen, informationstechnologisch zurechtgeschnittenen Definition von ‚Intelligenz‘, wie sie dem gesamten Buch zugrunde liegt.
‚Hyperintelligenz‘, wie sie Lovelock sich vorstellt, erscheint denn auch durchgehend aus extrem gesteigerter Informationsverarbeitung zu bestehen. Über Seiten hin erklärt er die physikalischen (und chemischen) Voraussetzungen für die Geschwindigkeiten heutiger und zukünftiger informationeller Systeme, so als käme es bei der ‚höheren Intelligenz‘ allein auf eben die Geschwindigkeit und die damit eröffnete, erweiterte Komplexität des informationellen Geschehens an. An einen ‚Gehalt‘ der Information, an einen ‚Stoff des Lebens‘ in tätiger Intelligenz braucht man bei solchem technologischen Reduktionismus nicht zu denken, es genügt die gute Hoffnung, dass die überlegenen Cyborgs mit den Menschen „gemeinsame Sache machen“ (S. 125), um die im Anthropozän beinahe ruinierte Gaia doch noch zu retten. Lovelock zitiert beglückt den ‚Hippie-Dichter Richard Brautigan, der in einem Gedicht zukünftige „Maschinen voller Liebe und Güte“ fantasiert hatte. Lovelock klopft sich in solcher Zuversicht noch einmal selbst auf die Schulter: „Wenn ich mit der Gaia-Hypothese richtig liege und die Erde tatsächlich ein selbstregulierendes System ist, dann wird das weitere Überleben unserer Spezies davon abhängen, ob die Cyborgs Gaia akzeptieren. In ihrem eigenen Interesse werden sie gezwungen sein, sich uns anzuschließen und in das Projekt, die Erde kühl zu halten, mit einzusteigen.“ (S. 128) Da fragt sich der tumbe Leser, weshalb die Cyborgs, die doch das Materielle hinter sich gelassen haben, sich um das materielle Fortbestehen der Erde und des Lebens auf ihr kümmern sollten – nur weil ‚Gaia‘ als ein sich selbst erhaltendes ‚System‘ zu denken sei?
An dieser Stelle schlägt Lovelocks mechanistischer Grundansatz auf die Gaia-Hypothese, auf die er so ungeheuer stolz ist, zurück: Der komplexe ‚Gesamtorganismus Erde‘ wird in dieser Theorie nämlich gar nicht als metaphorischer Organismus gedacht, sondern in einem konstruktivistischen Modell als eben eine sich selbst steuernde Einheit, sozusagen als eine gigantische Monade. Reale Organismen ‚steuern‘ aber sich auch im Sinne der Selbsterhaltung gar nicht ‚selbst‘, sondern in ständigem materiellem (und sozialem, sogar symbolischem) Austausch mit den biotischen und abiotischen Umgebungen. Sie werden in gleichem Maße gesteuert wie sie sich steuern. Das gilt nicht nur für das Mit-Wirken der „symbiontisch“ (Lynn Margulis) einverleibten Bakterien in frühen Stadien der evolutionären Zellbildung wie ebenso bei den Stoffwechselprozessen komplexer Organismen. Auch der stoffliche Austausch – wie beispielsweise mit dem Atem ‚höherer‘ Tiere – bedeutet nicht nur ‚interne Verarbeitung‘ aufgenommener Substanzen, sondern Teilhabe an anderem Leben, und etwa die regulative Funktion des Lichtsbinhaltet viel mehr als deinen energetischen Input. Die konstruktivistische Reduktion der ‚Steuerung des Lebens‘ auf eine interne Informationsverarbeitung macht den Begriff des Organismus eben zur bloßen Metapher, deshalb reden die Konstruktivisten ja auch lieber vom ‚System‘. Und wenn die wundersame Selbstregulation der lebendigen Systeme zwar unerhört ‚sinnreich‘ erscheint, aber letztlich auf mathematisch dechiffrierbarer Kombinatorik beruht, dann können die sich selbst generierenden Algorithmen der Cyborgs als das höhere, ja das höchste Leben proklamiert werden.
Man könnte also, die erkenntnistheoretischen Prämissen von Lovelocks universalgeschichtlichem Szenario bedenkend, ein wenig grobschlächtig formulieren, seine Proklamation eines ‚Novozäns‘, in dem die ‚Hyperintelligenz‘ sich ausbreitet und die Cyborgs die ‚Rettung von Gaia‘ übernehmen – mit den Menschen als Handlangern –, dieser Techno-Optimismus eines Ingenieurs sei nichts als radikalkonstruktivistischer Unsinn. Aber die Phantasmagorien auf solcher Grundlage nehmen schon Im Buch gefährliche Gestalt an, unter anderem, indem Lovelock sich für die Nutzung der vorgeblich ‚klimaneutralen‘ Kernenergie ausspricht. Noch viel bedenklicher sind seine Gedankenspiele, über Geo- und Bio-Engineering der bedrohlichen Erderhitzung, der Versauerung der Ozeane, dem Zusammenbrechen pflanzlicher und dann auch tierischer Reproduktionszyklen entgegenzuwirken. Da fabuliert jemand vor sich hin, als hätten wir gerade mit der Erderwärmung und den anderen, längst in Gang gesetzten ökologischen Gefährdung nicht die handfesten Beweise vor uns, dass die unbeabsichtigten Folgen, die nicht einkalkulierbaren ‚Nebenwirkungen‘ instrumentellen menschlichen Handelns, insbesondere auf das Basis technologischer Rationalität, exponentiell mit der systemischen Tiefe, der Reichweite, dem Ressourceneinsatz und dem energetischen Aufwand zunehmen.

Auch Lovelock verfährt, wie viele Angehörige der technologischen, wirtschaftlichen und politischen Eliten, nach der neurotischen Logik, dass gegen die Übel, die man sich eingebrockt hat, am besten mehr von dem hilft, womit man sich die Übel zubereitet hat. Deshalb ist es nur folgerichtig, dass er dekretiert: „In Wirklichkeit dreht sich das Novozän, wie das Anthropozän, um die technische Wissenschaft und Ingenieurskunst.“ (S. 105) Man könnte den Satz auch als unfreiwilligen Offenbarungseid eines ‚technischen Wissenschaftlers und Ingenieurs‘ bezeichnen. Aber die Sache ist viel ernster, denn in der Tat argumentieren und handeln viele, allzu viele Menschen, die ökonomische, politische und kulturelle Macht in Händen haben, genau nach dieser Maxime: ‚Mehr und intelligentere Technologie‘ soll uns aus den massiven globalen Gefährdungen herausführen, in die uns ein Immer Mehr und Immer Intelligenter an immer riskanterer Technologie gebracht hat.
Bei solcher wahrhaftig gespenstischen Logik mutet es schon fast unerheblich an, dass Lovelock nicht ein einziges Wort der Selbstreflexion aufbringt über den krass eurozentrischen kulturellen Imperialismus seiner „technischen Wissenschaft und Ingenieurskunst.“ Freilich entspricht ja solcher global rücksichtsloser Imperialismus der ‚Industrienationen‘ und ihrer Übernehmer den scheinbar zwingenden Maximen technologischer und ökonomischer Rationalität. Dass der Segen solchermaßen erzeugten ‚Fortschritts‘ mit dem Tod hunderter und aberhunderter anderer Kulturen einhergeht, erscheint unvermeidlich und deswegen keines Gedankens wert. Es breitet sich eben nicht bloß ein ungeheuerliches biologisches Artensterben aus in den Zeiten des Anthropozäns, sondern ebenso ein gnadenloses Sterben menschlichen Kulturen. Und dass Lovelock beinahe alle Klischees eines ‚alten, weißen Mannes‘ erfüllt – im Buch kommen unter den großen Geistern der Wissenschafts- und Technikgeschichte, die er beschwört, so gut wie keine Frauen vor, aber er gesteht den Frauen wohlmeinend zu, dass sie als Hüter der ‚weiblichen Intuition‘ von den Männer abgedrängt und entwerten wurden –, derlei Unsäglichkeiten mag man als wenig erstaunlich nebenbei konstatieren.
Nun könnte man dieses Buch eines ziemlich berühmten Wissenschaftlers, Ingenieurs und Autors achselzuckend abtun: Da erfüllt sich ein alter, weißer Mann den kindlichen Wunsch, höchste ideengeschichtliche Bedeutung zu erlangen. Immer neu kommt er auf das zu sprechen, was er in seinem durchaus bewegten und erfolgreichen Leben alles zustande gebracht hat, von Apparaten, die auf dem Mars die Elemente analysieren, bis zur ‚umwälzenden‘ Gaia-Hypothese. Zweifellos gehen einige bemerkenswerte Erfindungen und wirkungsträchtige Erkenntnisse etwa zur Biochemie oder zur Erdatmosphäre auf ihn zurück. Aber die autobiografischen Einsprengsel im Buch tendieren immer wieder dazu, die Bedeutung des Autors herauszuheben. Er verfährt dabei ziemlich großzügig mit sich selbst. Er behauptet beispielsweise freiweg, er habe „herausgefunden“, dass die Bienen sich im Stock durch Tanzbewegungen über die Futterquellen in ihrer Umgebung informieren. Dass Karl von Frisch schon ab 1920 die unterschiedlichen Bienentänze erforscht und die Informationsfähigkeiten der Insekten experimentell nachgewiesen hat, übergeht Lovelock großzügig.

Immer wieder bezeugt er sich selbst, dass die von ihm propagierte ‚Gaia-Hypothese‘ – das Verständnis des ‚Systems Erde‘ als einer gigantischen, den sich selbst regulierenden Organismen vergleichbaren Einheit – die Sicht auf unsere Welt verändert habe. Dass diese systemtheoretische Interpretation der relativen Stabilität der globalen Regulationssysteme keineswegs allgemein anerkannt ist und mitnichten ein grundstürzend neues Bild des Planeten etabliert hat, ja in vielen Disziplinen als eine geradezu sektiererische Glaubensmaxime gilt, kümmert den Autor wenig.
Und dass entscheidende Anstöße und Erkenntnisse, die zur Formulierung der Gaia-Hypothese führten, von der Mikrobiologin Lynn Margulis stammen, die wiederum auf der Basis eines systemtheoretisch begründeten ‚biologischen Konstruktivismus‘ (Humberto Maturana/Francisco Varela) zu ihren Schlüssen kam, verschweigt Lovelock und reklamiert das Copyright an der Gaia-Hypothese ganz für sich – Margulis wird erst am Ende als „enge Freundin und Kollegin“ erwähnt. Solche Selbstüberhebungen Lovelocks finden sich in dem Buch zuhauf. Sie wirken zumeist eher peinlich, wie auch sein Eintreten für den „Ökomodernismus“, für den das Anthropozän – die Epoche, in der „wir die Macht haben“, erdgeschichtlich einschneidende Entscheidungen zu treffen – „eine Folge des Lebens auf der Erde ist. Es ist ein Produkt der Evolution, ein Ausdruck der Natur.“ (S. 91) Schwups, ist die Ethik, das Problem der Verantwortung für das Handeln, an „die Natur“ delegiert.
Lovelock hätte schon 1998 in dem berühmten Buch seiner ‚Freundin‘ Lynn Margulis ‚Der symbiontische Planet‘ lesen können, was zu solcher menschheits- und erdgeschichtlichen Überhebung eines Ingenieurs zu sagen ist: „Wir müssen uns von unserer artspezifischen Arroganz befreien. Es gibt keinerlei Anhaltspunkte dafür, dass wir jene einzigartige, ‚auserwählte‘ Spezies sind, für die alle anderen gemacht wurden. Und wir sind auch nicht die wichtigste Spezies, nur weil wir so zahlreich, mächtig und gefährlich sind. Unsere hartnäckige Illusion von einer besonderen göttlichen Fügung steht in völligem Widerspruch zu unserer wahren Stellung als aufrecht gehende, kümmerliche Säugetiere.“ (deutsche Fassung Frankfurt/M. 2017, 158)
Wenn man sich ein wenig kundig macht über Lovelocks Biografie, muss man sich wundern über dieses späte Werk. Jemand, der aufgrund seiner eingehenden Studien über atmosphärische und ozeanische Prozesse zu einem geradezu alarmistischen Warner wegen der anthropogenen Beeinflussung der Erdatmosphäre und der Meere geworden war, der eine Zeit lang für des Ende des 21. Jahrhunderts letale Folgen für den Großteil der Menschheit vorausgesagt hatte, gibt sich in diesem Buch zwar weiterhin als besorgt, aber gleichzeitig euphorisiert von der Gewissheit, dass die Cyborgs, die zu überlegenem Eigenleben aufgestiegenen Kreationen der „Ingenieurskunst“, es schon richten werden.
Das Buch ist mehr als ein provokantes, manchmal anregendes und meistens ärgerliches Werk eines greisen, unangreifbar von sich selbst überzeugten Mannes. Es bedient auf eine fatale Weise populäre wie politische und auch mehr oder weniger wissenschaftliche Tendenzen eines ‚technologischen Optimismus‘, für den man, in Anlehnung an den Begriff der ‚Apokalypseblindheit‘ von Günther Anders, von einer abgrundtiefen ‚Technikblindheit‘ sprechen kann.
Man könnte über dieses späte, in vielem ärgerliche Buch eines ziemlich berühmten Verfassers still hinweggehen – wäre da nicht die verräterische, geradezu hymnische Feier des Werks im Chor der Rezensentinnen und Rezensenten. Auf dem Buchdeckel werden einige ehrfürchtige Bewunderer zitiert: ” ‚James Lovelock ist ein Wunder.‘ Frankfurter Rundschau; ‚Eine Name für die Geschichtsbücher.‘ Ernst Ulrich von Weizsäcker; ‚Der größte wissenschaftliche Visionär unserer Zeit.‘ The Observer; ‚Der Wissenschaftler, der unser Bild der Erde verändert hat.‘ Independent; ‚Der einflussreichste Forscher seit Charles Darwin.‘ Irish Times; ‚Ein Prophet, der jede Ehrung verdient hat, die die Menschheit zu vergeben hat.‘ The Guardian.“ Und im Internet schwillt der Gesang der Lobpreisungen mit zum Teil tatsächlich religiösen Untertönen an.
Solche geradezu anbetenden Reaktionen lassen sich schwerlich aus einer eingehenden Lektüre des Werks erklären. Sie müssen wohl verstanden werden als Ausdruck einer Sehnsucht nach der ‚Rettung‘, die Lovelock voraussagt. Wenn die Forcierung einer digitalen Technologie die ‚Erlösung der Menschheit‘ von den gefährlichen Irrwegen einer auf Verbrennung fossiler Energien und Übernutzung endlicher Ressourcen gegründeten Technik und Industrie verspricht, dann braucht sich an der „technischen Wissenschaft und Ingenieurskunst“ und ihrer Logik nicht grundlegend etwas zu ändern – auf die Einbindung dieser Wissenschaft und Technologie in eine destruktive, auf Erschöpfung der endlichen Ressourcen und ein immer weiter gesteigertes, offenkundig gewalttätig vorangetriebenes ‚Wachstum‘ ausgerichtete Ökonomie ist in dem Buch nicht an einer einzigen Stelle ein ernsthafter Gedanke verschwendet. Es erscheint dann unendlich tröstlich, dass ein so erfolgreicher, berühmter Wissenschaftler und Erfinder wie James Lovelock mit einigem Aufwand an ‚wissenschaftlich objektiven‘ Erkenntnissen eine evolutionsgeschichtlich notwendige und unaufhaltsame ‚Wende in letzter Sekunde‘ prophezeit, wenn die von menschlichem Denken emanzipierten Cyborgs – von denen niemand genau sagen kann, was sie eigentlich sind – mit ‚Hyperintelligenz‘ die Steuerung zum Wohle Gaias übernehmen.
Die Rezeption ist das eigentliche Skandalon bei diesem Spätwerk eines wahrhaftig in Ehren gealterten Mannes. Die mehr als ehrerbietige Lobpreisung des Anspruch heischenden, aber eine abstruse ‚Vollendung‘ der Universalgeschichte verkündenden Buchs sagt mehr über den heillosen Zustand unseres gesellschaftlichen Bewusstseins aus als der Text selbst.
- James Lovelock: Novozän. Das kommende Zeitalter der Hyperintelligenz. C. H. Beck Verlag, München 2020. 160 Seiten, 18 Euro.

Ludwig Fischer, geboren in Leipzig, aufgewachsen in Oldenburg (Oldb), Studien- und Berufsjahre in Tübingen, Basel, Zürich, Stockholm, Berlin. Lehrte als Ordentlicher Professor von 1978 bis 2004 Literaturwissenschaft und Medienkultur an der Universität Hamburg, veröffentlichte zahlreiche Bücher und Aufsätze zur deutschen Literatur, zu Film und Fernsehen, zum Naturverständnis, zur Kultur- und Regionalgeschichte. Gedichte, Essays, Kurzgeschichten in Anthologien, Jahrbüchern, Zeitschriften. Mehrere Lyrikbände, zuletzt ‚Folgelandschaften’ (2015). Bei Matthes & Seitz Berlin ‚Brennnesseln. Ein Portrait’ (2017) und ‚Natur im Sinn. Naturwahrnehmung und Literatur’ (2019) – hier nebenan von Alf Mayer besprochen.
Ein Text über Die Entdeckung des Moors für Literatur und Kunst hier bei uns.
Im Sommer 2022 geplant bei Matthes&Seitz: ein großer Essay zum Thema „Naturallianz“.