
Jenseits von Kunst und Können
Alle fünf Jahre hat man, wenn man in Kassel wohnt, plötzlich eine Menge Freunde: sie suchen während der 100 Tage dauerndern documenta nach einer Möglichkeit, möglichst kostenfrei in der Stadt an der Fulda zu übernachten. Diesmal nicht. Ironischerweise gerade dann, wenn wie bei dieser 15. Ausgabe das Motto „Make friends“ kursiert. Was, zugegeben, nur die halbe Wahrheit ist. Vollständig lautet die Aufforderung „Make friends not art“: und es ist der zweite Teil des Satzes, der viele von einem Besuch der diesjährigen documenta abhält. Anfang 1965 hat die Hippiekultur in Kalifornien mit der zugrunde liegenden Parole „Make love not war“ gegen den Vietnamkrieg Stellung bezogen, jetzt wird eine Parodie davon benutzt, um auf einer der bislang weltbedeutendsten Kunstausstellungen der Kunst den Krieg zu erklären. Zeiten ändern sich.

Es geht hier nicht um Kunst: was soll uns Kunst, wenn alles im Argen liegt. Es geht darum, auf der richtigen Seite zu stehen. Gegen das zu sein, was von Übel ist: all das Kapitalistische, Rassistische, Ausbeuterische, Islamophobische, Zerstörerische, Unsoziale, gegen Natur und Menschlichkeit Gerichtete. Wo die Welt schlecht ist, wollen die documenta-Teilnehmer zu den Guten gehören. Und an Tradition und Erfahrung weitergeben, was die Welt besser macht. Nur: muß dieses Weitergeben, in welcher Form auch immer, so eindimensional („unterkomplex“, sagt eine Besucherin), platt und plakativ daherkommen? So heillos dilettantisch sein, so hilflos naiv? Ein Kramladen in der documenta Halle voller gehäkelter und getöpferter Lebensmittel soll Hunger, Umweltveränderungen und falsche Ernährungspolitik vor Augen führen, „hübsch“, sagt eine Besucherin dazu. „Ja, ich kenn’ das von einer Künstlerin aus Berlin“, fügt ihr Begleiter hinzu, sein Dialekt klingt bayrisch, „die macht solche Objekte seit Jahren, aus Porzellan, zahlst du ein Schweinegeld für.“ Die beziehungslos im Erdgeschoß des Fridericianum herumliegenden und -stehenden Anhäufungen aller möglichen Materialien und Kulturgegenständen lassen sowas wie Interesse erst gar nicht aufkommen, „alles kurz vor Müll“, ist der Kommentar einer Freundin aus Freiburg. Und die Arrangements mit Holzschnitzereien, Puppen und Muscheln im Hübner-Areal erinnern einen Franzosen an frühere Flohmarktbesuche, als Stände mit folkloristischen Handarbeiten an der Tagesordnung waren.

In diesem Umfeld nehmen sich die wenigen Kunstwerke, auf die man hin und wieder dennoch trifft, wie ein Versehen aus, wie ein Sabotageakt: künstlerisches Bewußtsein als Widerstand. „Kunstwerke“, schreibt die Essayistin Rebecca Solnit in ihrem neuen Buch „Orwells Rosen“ so wahr, „fördern die Bildung eines Selbstverständnisses, zu dem auch politisches Engagement gehört.“
Daß Kunst und Politik sich keinesfalls ausschließen müssen, hat 2012 die d(13) so wunderbar sinnlich, intelligent, rätselhaft, widersprüchlich, leidenschaftlich, einfallsreich, kühn und engagiert gezeigt. Es war eine Kunst, die mit ihrer massiven Kritik an herrschenden Verhältnissen tiefer drang als die hier vorgeführten Projekte und Dokumentationen (von der Art, wie sie auf arte eh immer wieder zu sehen sind), die endlosen Diskussionen, Belehrungen, Mitmachaktionen. Eine Kunst, die sich vehement gegen Antropozentrismus und Logozentrismus richtete und die weitaus mehr als jene Themen, die hier so „unterkomplex“ (um noch einmal die Besucherin zu zitieren) behandelt werden, schöpferisch bearbeitete. Eine Kunst, die aufschreckte, umtrieb, begeisterte, rasend machte oder andächtig, eine Kunst, die im Blut brannte wie ein Entzündung und dazu anhielt, anders hinzusehen, um anders denken zu lernen: als Voraussetzung für ein anderes Handeln.
Aber auch ums Denken geht es bei der d15 nicht, im Gegenteil: mit einer Installation aus Messern wird das westliche Denken gebrandmarkt, das die Realität zerstückelt. Also besser gemeinsam pflanzen, ernten, kochen und essen. Freunde finden, neue Beziehungen knüpfen, Spaß haben, abhängen, die eigene soziale Ader entdecken. „Kirchentag ohne Kirche“, wie einer es treffend zusammenfaßt. Sich gut fühlen: darum geht es hier, das wollen auch die Besucher. Möglichst ohne den Verstand groß in Mitleidenschaft zu ziehen. Die Welt ist kompliziert genug: sie lechzen nach einfachen Antworten und Lösungen. Und übersehen, daß die Welt nicht nur kompliziert, sondern auch komplex ist: und in einer komplexen Welt gibt es keine einfachen Lösungen, und jede einfache Antwort ist eine Lüge.
Auf dem Bahnhofsvorplatz gestaltet ein Rumäne das, was er Zeitung nennt: daß es bei dieser documenta um das Teilen gehe, schreibt er, um Gemeinschaft und Austausch. Und setzt in etwa 30, 40 Rechtecke auf dem Boden Schlagworte und Zeichnungen: Waffen, Heizungsrippen, cold war, steht da, und hot climate, Ukraine und Stop Razputin. Jemand, dem das aufgerüstete Vokabular zu martialisch war, hat in einem der panzergeschmückten Vierecke den im Mai 2022 verstorbenen Musiker und Friedensaktivisten Henning Zierock zitiert: „Den Frieden gewinnen, nicht den Krieg!“ Was ein empörtes „This is not me“ des Rumänen zur Folge hatte, er verbat sich derlei Einmischungen mit dem Hinweis, jeder, der es für nötig hielte, sich auszudrücken, solle sich seine eigene Zeitung suchen. Soviel zu Teilen, Gemeinschaft, Austausch.

Der Niedergang der documenta hat schon 2017 mit der d14 begonnen, als der damalige künstlerische Leiter den Satz: „Qualität ist eine leere Kategorie“ in die Runde geworfen hat. Allerdings gab es damals noch Künstler, die dieser Aussage gekonnt zuwiderhandelten, während die Akteure der d15 geradezu rührend bemüht sind, sie einzulösen. Damit ist die d15 zwar nicht, was die Kunst, jedoch was die überall zunehmende Entprofessionalisierung betrifft, auf der Höhe der Zeit. Und wenn Kunst und Leben eins sind, wie es die diesjährigen Veranstalter verkünden: erübrigt sich eine Kunstausstellung dann nicht sowieso? Den Teilnehmern selbst schwant das Ende. Er sei so dankbar, schreibt der Rumäne in eins seiner kriegerischen Rechtecke, „to be in the last documenta“.
© 2022 ingrid mylo

- Im Dezember 2022 erschien, herausgegeben, kommentiert und übersetzt von Ingrid Mylo: „Katharine Mansfield: Alles, was ich schreibe – alles, was ich bin. Texte einer Unbeugsamen“ (unsere Besprechung hier.) Ingrid Mylos Texte bei uns hier, darunter auch ihre „3 x 11 Spielworte“ – eine andere Art, auf Bücher zu deuten, nämlich auf Zitate mit bestimmten Worten. Vier Blicke auf ihren Gedichtband Überall, wo wir Schatten warfen bei uns. Im April 2023 erscheint in der Edition Azur bei Voland & Quist ihr Werkband „Die Entfernung der Sterne“. – Zur d13 entstand von Ingrid Mylo und Felix Hofmann das „100-Tagebuch“. Einhundert Tage lang waren sie jeden Tag auf der documenta. So genau hat dort noch nie jemand hingesehen. Eine Besprechung bei uns hier.