Geschrieben am 31. Dezember 2019 von für Highlights 2019

CulturMag Highlights 2019, Teil 8 (Mayer – Mohr – Moore – Münder)

Alf Mayer –
Christina Mohr –
Christopher G. Moore –
Peter Münder –

Alf Mayer: Die Ungleichzeitigkeit des Gleichzeitigen

„Die Hölle sind wir“ (Hell in the Pacific): Zwei Männer, auf einer Insel isoliert, und der Wahnsinn, der dann einsetzt: 1968 holte John Boorman nach der Richard-Stark-Verfilmung „Point Blank“ erneut Lee Marvin vor die Kamera, ließ ihn fast nackt auf den großen Toshirō Mifune los. Ein amerikanischer und ein japanischer Soldat und der Zweite Weltkrieg, der auf einer kleinen Pazifikinsel nur sie selber sind. Ein Extremfilm, jetzt wieder als Pidax-Klassiker zugänglich. Etwas Vergleichbares habe ich viele Jahre nicht gesehen. 2019 brachte mit The Lighthouse“ (Der Leuchtturm) von Robert Eggers einen würdigen Nachfahren, im klaustrophobischen Format 1.19:1 gedreht, das aus der Zeit des Übergangs zum Tonfilm stammt. Willem Dafoe und Robert Pattinson gehen in die Vollen, Sex mit einer Meerjungfrau inklusive. Für das Filmerlebnis ist unbedingt ein Kinosaal zu empfehlen, weil auch der Ton physisch wird und Raum braucht.

Noch niemand, den ich sprach, hat diesen Film ebenfalls im Kino gesehen. Generell bin ich mir schon länger nicht mehr so sicher, ob ich mit anderen über denselben Film rede, selbst wenn sie ihn „doch auch gesehen“ haben, per Streaming und/oder auf dem Laptop. Ja, Scorsese„The Irishman“ haben weltweit 26,5 Millionen in der ersten Woche bei Netflix geschaut, aber ist das noch Sehen? A 3-Querformat, A 5 oder noch kleiner? Hallo, all die „Film“-Gucker auf Handy im ICE: Brauchen wir ein neues, dünneres Wort für Sehen? So etwas wie Backen ohne Mehl? Querlesen? Dünnpfeifen? Flachsehen?
Ich bin einer von weniger als Zehntausend weltweit, die Alfonso Cuaróns Netflix-Produktion „Roma“ in einem Kinosaal begegnet sind und nicht wie vom Abo-System vorgesehen als home entertainment. Der Film gewann einen Oscar für die beste Kamera, ich bezweifle, dass ein Miniformat davon auch nur 35 Prozent wahrnehmbar macht. Es ist ein verkümmertes Sehen, es mag bequem sein wie Essen aus der Mikrowelle – aber niemand erzähle mir, dass das ein Fortschritt oder gar ein Qualitätsgewinn sei. Es ist Verflachung. Instant Viewing.

Jeder sein Programmdirektor, das versprach das Videorekorder-Format Betamax bereits im Jahre 1978. Heute ist es tatsächlich so weit. Das Ergebnis: Wir sehen nicht mehr dasselbe, Austausch fällt flach. Viele Netflix- oder Amazon-Serien werden nie außerhalb ihres Abo-Systems zugänglich. Ich hasse das und finde es einen Kulturverlust. Meine Serienentdeckung des Jahres lief bei uns Ende 2016 auf Sky Atlantic HD, immerhin ist sie als DVD im Umlauf. Es ist „The Night Of“ (Die Wahrheit einer Nacht), Drehbuch der große Richard Price, jede Folge hat Kinoformat. Ein Erzählen, das niederknien lässt. Aber wer hat das gesehen? Wer will es?

Ebenfalls aus der Abteilung Seherlebnisse: „Narziss und Psyche“ (Ungarn 1980), das Magnum Opus des leider zu früh von uns gegangenen Ungarn Gábor Bódy, gibt es jetzt bei absolut Medien aufwendig restauriert auf DVD. 261 Minuten wunderbar magischer Realismus. Auf Youtube zugänglich gefunden habe ich Bódys nie vergessenen Erstling: „Amerikai Anzix“ (American Postcard), Ballistik & Artillerie, Ambrose Bierce & ungarische Scharfschützen im US-Bürgerkrieg, das Filmmaterial experimentell künstlich gealtert.

Kennen Sie den Topicus Verlag? Er gehört zu Amazon. Ich bin nur auf ihn gestoßen, weil ich nachschauen wollte, ob es eine deutsche Ausgabe von Outlaw Ocean gibt. Der Investigativ-Journalist Ian Urbina war dafür 40 Monate auf hoher See unterwegs. Es ist ein irres Buch über eine kaum bekannte und kaum reglementierte Welt. 90 Prozent aller auf der Welt verkauften Waren werden über das Meer transportiert, bis auf ein wenig über somalische Piraten aber erfahren darüber nie. Das Buch ist ein Meilenstein. Auch David Whish-Wilson erzählt in unserem Jahresrückblick davon. Ausführliche Besprechung in unserer Februarausgabe.

Bereits von mir rezensiert und eine Wundertüte, die mir noch lange Spaß machen wird, ein üppig illustrierter, kluger Ausflug in die Gegenkultur: Sticking It to the Man: Revolution and Counterculture in Pulp and Popular Fiction, 1950 to 1980. Co-Autor Andrew Nette ist ebenfalls in unserem Jahresrückblick vertreten.

Klar gibt es an jeder Tagung etwas zu kritisieren, aber na und. Wichtig ist, dass man sich austauscht und das Blickfeld erweitert. Für die TV-Branche gab es das 44 Jahre lang, von 1968 bis 2011 als „Mainzer Tage der Fernsehkritik“. Warum sollte das für die Kriminalliteratur nicht auch möglich sein? 2019 bot gleich zwei solcher Gelegenheiten: die Litprom-Literaturtage zum Thema „Global Crime“ im Januar in Frankfurt und „KrimisMachen 4“ im September in Köln. Ich bin ein unbedingter Verfechter eines Branchentreffs. Für „KrimisMachen ferner folgende“ gibt es die Idee eines bundesweiten Vereins, schon ein kleiner Mitgliedsbeitrag würde einen finanziellen Grundstock aufbauen, der Veranstaltungen risikoloser möglich macht.

Die Frankfurter Bahnhofsbuchhandlung ist mir öfter eine Zählstation für schnellen Überblick. Die Regale verteilen sich dort so:
Literatur                     2
Unterhaltung             2
Historisch                   2
Spannung                  6
Fantasy                       2
SF                                 1

Wir leben in einem Neuen Goldenen Zeitalter der Kriminalliteratur. Das nicht nur mengenmäßig, sondern auch bezogen auf Qualität und Diversität. Die Anzahl der Neuerscheinungen pro Jahr ist beinah unüberschaubar. Der deutschsprachige Markt ist dabei – fast – unvergleichlich breit aufgestellt, das wurde mir neulich wieder klar, als ich Barry Forshaws aktuelle Enzyklopädie Crime Fiction: A Reader’s Guide (Oldcastle, 2019) studierte. Dort gibt es bei 448 Seiten Umfang keine 40 Seiten außerhalb Großbritanniens und der USA, kein Australien, kaum Asien, Lateinamerika oder Südafrika.

Zusammen vom gleichen Buch zu reden wird immer schwieriger weil es mehr als genug zu lesen und zu übersehen gibt. Die großen Verlage  verdrängen dabei die Kleinen, wobei sich mit Ariadne, ars vivendi, Liebeskind, Nautilus, Pendragon, Polar, Pulp Master und Unionsverlag ein Arthouse der Kriminalliteratur etabliert hat. Auf dem Kinomarkt hat gerade dieser Sektor sich als stabil und krisenfest erwiesen.

Ins Kino kommen jährlich rund 500 neue Filme, es gibt Wochen mit zehn Filmstarts, unmöglich, das alles wahrzunehmen. Die Berliner Krimibuchhandlung Hammett, deren Vorschau stats formidabel ist, meldete jetzt für Dezember 2019, es gäbe „kaum noch Neues“, gemeint waren 66 neue Kriminalromane aus 24 Verlagen. Der normale Monatsdurchschnitt liegt bei über 150 Krimi-Neuerscheinungen – wohlgemerkt für Qualitätsbücher, die Aufmerksamkeit verdienen (würden). Von Februar bis Juni 2019 umfasste die Hammett-Vorschau 807 Titel, August bis November waren es 613. Unsere CrimeMag TopTen, abgestimmt von 27 Jurorinnen und Juroren, zeitigte auf den vorderen Plätzen klare Favoriten, aber es gab auch 86 Bücher mit nur je einer Stimme, die immerhin auch jemand für preiswert gehalten hatte. Long List also für die Kriminalliteratur des Jahrgangs 2019: rund hundert Titel.

Wir bei CrimeMag oder CulturMag, je nachdem, wie Sie es nennen wollen, halten unsere Hände in diesen Strom, fischen darin – ohne Anspruch auf Vollständigkeit, die ist mit einem ganz und gar ehrenamtlich entstehenden Magazin nicht zu leisten. 

Neun reguläre CrimeMag-Ausgaben in 2019 macht:
270 größere Artikel,
davon 97 große Buchbesprechungen
sowie 111 Kurzbesprechungen (bei in Länge einer Zeitungskritik)
und 107 Sachbuch-Rezensionen,
dazu 13 große Porträts (Theodor Fontane, Chester Himes, Thomas Mann, Quentin Mouron, Anthony Price, J.W. Rider/ Shane Stevens, Georgio Scerbanenco, Peter Temple und der cass verlag),
Reden und Laudatios (von Thomas Adcock, für Susanne Saygin und Mercedes Rosende),
sieben große Interviews (Jeong Yu-jeong, Katja Bohnet, Nico Walker, Frank Goldammer, Thomas Adcock, Max Annas, Dirk Brauns),
vier mal Bloody Questions (an Attica Locke, James Lee Burke, Louise Penny, Sara Gran),
14 exklusive Textauszüge (Shoshana Zuboff, Ivy Pochoda, Max Annas, Garry Disher, Ross Thomas, Stephen Hunter, Regina Nössler, Peter Temple u.a.)
und 30 in die Tiefe gehende Besprechungen von Filmen und Serien.
Dazu Kurzgeschichten, Filmbücher, Graphic Novels, Klassiker und Science Fiction, Blicke über den Zaun, Reflektionen zu Komik, Langeweile oder Helden. Und dann noch ein Jahresrückblick mit 66 Beiträgen in 2018 und dieses Jahr 83.

Aber auch wir haben es nicht geschafft, eine eigentlich sensationelle verlegerische Leistung  zu würdigen, nämlich die komplette Neuübersetzung des Klassikers Die Nackten und die Toten von Norman Mailer. Peter Torberg und Jürgen Bürger haben hier Großes geleistet – interessiert hat es, ich muss es so sagen, keine Sau. Ich schätze, dass keine 500 Exemplare davon verkauft worden sind. Erschienene Kritiken: Null.

Für meine Begriffe ebenfalls deutlich unter Bedeutung vorgekommen ist das Zeitenwende-Buch Das Zeitalter des Überwachungskapitalismus von Shoshana Zuboff (Campus Verlag), ein Textauszug bei uns hier. Die Harvard-Professorin und Spezialistin für Informationstechnologie erzählt darin den Kapitalismus neu. Unser aller Überwachung durch Privatfirmen und was sich daraus generiert ist für Shoshana Zuboff ein ebenso realer und bedrohlicher Krisenzustand wie der Klimawechsel. Sie zeichnet ein unmissverständliches Bild der neuen Märkte, auf denen Menschen nur noch Quelle eines kostenlosen Rohstoffs sind – Lieferanten von Verhaltensdaten. 

Die Liste des Übersehenen ist noch viel länger. Eine der Ungerechtigkeiten zum Beispiel, dass es in keinem überregionalen Blatt eine mehr als notizgroße Besprechung von Andreas Pflügers interstellarem Thriller Geblendet gab. Begründung: Es sei ja der dritte Teil einer Serie. Aha. Deshalb lesen wir auch nie etwas über den neuen James Bond, ein neues „Star Wars“ oder „Mission Impossible“. Nach dieser Logik würde auch ein „Joker“ unter den Tisch fallen, der kam ja schon bei Batman vor. Mich ärgert dabei nicht nur ein missachteter Autor, es fällt ja auch ein Platin-Standard unter den Tisch. 

Platin, das ist auch Charles Bowden. Mit einem Porträt von ihm und einer Besprechung seines Buches Murder City: Ciudad Juárez and the Global Economy’s New Killing Ground (2010) gab ich am 8. Oktober 2011 meinen Einstand bei CrimeMag/ CulturMag. Bowden starb 2014, keines seiner 26 Bücher wurde je ins Deutsche übersetzt – mein Nachruf hier. Jetzt ist – pünktlich für mich als Weihnachtsgeschenk eingetroffen – bei der University of Texas Press eine Hommage an ihn erschienen, der Titel sagt alles: America’s Most Alarming Writer. Essays on the Life and Work of Charles Bowden. Es ist ein breitgefächertes Buch mit 50 Texten von Kollegen, Freunden, Lektoren, Redakteuren und Autoren, reich illustriert, tief schürfend, interessant.

Bowden war Wegbereiter einer realitätstüchtigen Kriminalliteratur bestimmter Sorte, er war ein Rufer in der Wüste, eine Stimme, die in der Wildnis schrie und weinte. Er konnte trauern und empathisch sein – und wütend. Sehr wütend. Er war ein Mann mit Flammenschwert, mit unbestechlichem Blick. Er schrieb über das Schicksal der namenlosen Migranten, die aus Mexiko nach Norden wollen. Über die Zerstörung der Landschaft durch Gier, Spekulation und Rücksichtslosigkeit. Über die Gewalt, die Menschen anderen Menschen antun. Über die Folgen und Kosten, die der amerikanische „Krieg gegen die Drogen“ fordert. Dies aus Rinnstein-Höhe, vor Ort und oft unter Lebensgefahr recherchiert und erlebt. Ohne Bowden wäre ein Don Winslow (Tage der Toten, Kartell usw) nicht vorstellbar. Bowden war ein frühes Licht der „border literature“, ein Frontschwein par excellence. Und ein klasse Kerl. Mein Nachruf hier.

Aufmacher für unser CulturMag Special NATUR

Eine der Freuden des Jahres war es, das CulturMag-Special „Natur“ zu kuratieren. Der gerade für sein Berlin Prepper mit dem Deutschen Krimipreis ausgezeichnete Johannes Groschupf schrieb darin recht schonungslos über eine Reise auf den Spuren des Naturforschers Georg Steller und ein gescheitertes Buchprojekt. Markus Pohlmeyer, der mit seinen Essays für CulturMag im Jahr 2019 die Zahl 50 überschritt und jetzt auf 100 zusteuert, brachte uns Alexander von Humboldts KOSMOS und die Schöpfung nahe. Anna Hoffmann richtete ihr Licht auf Hartmut Robert Andryczuk, Ludwig Fischer auf das Moor, Georg Seeßlen sinnierte über Primzahlen und Zikaden und ich behauptete: Alle Menschen sind Gärtner. Eigentlich.

Natürlich kam dabei auch die von Judith Schalansky herausgegebene Reihe Naturkunden nicht zu kurz – hier und hier bei uns besprochen. Zwei neue Bände begeistern mich gerade wieder. Susanne Wedlich gewinnt Schleim unglaubliche kulturelle (und naturwissenschaftliche) Zusammenhänge ab. Der britische Naturforscher Richard Mabey, der gerade seine Autobiografie Turning the Boat for Home vorgelegt hat, erzählt uns vom Varieté der Pflanzen so spannend wie Kriminalliteratur. Und Jürgen Goldschmid, ganz neu, über die Sprachlandschaften des Nature Writing in Naturerscheinungen.

Was ich mir wünsche? So etwas wie Dietmar Daths große SF-Genrereflektion  Niegeschichte für die Kriminalliteratur.
Wenigstens einen Schatten der Wertschätzung, den Drive Your Plow Over the Bones of the Dead im angelsächsischen Raum als Noir-Roman erfährt. Bei uns erschien der Roman der Nobelpreisträgerin Olga Tokarczuk sehr unbeachtet als Gesang der Fledermäuse bei Schöffling, wird jetzt bei Kampa neu aufgelegt. Ist das Buch schon „durch“?

A propos Kultur: Der Verlag Das kulturelle Gedächtnis macht seinem Namen immer wieder Ehre, aktuell mit der von Thomas Böhm und Carsten Pfeiffer herausgegeben Wunderkammer der deutschen Sprache, ein Füllhorn, wie der Untertitel verheißt. Ein Fest. Eine Freude. Ein Genuss. Eine Sensibilisierung für die Schönheit der Worte.

Die Wörter heißt der Sozialisationsroman von Jean-Paul Sartre, ist immer noch eine Empfehlung. Einem ganzen Haufen Worte, ameisenhügelhoch und ausgeschnitten aus Zeitschriften und Zeitungen, begegnete ich unverhofft in einer Vitrine der Ausstellung  „…der Wind stellt seine Tasche in ein anderes Land…“ – Herta Müller. Collagen” im Deutschen Exilarchiv der Deutschen Nationalbibliothek in Frankfurt am Main. Diese Dichterin ordnet Worte in neue Zusammenhänge, in eine eigene Poetik. Ihre Wortcollagen haben je Postkartengröße. In der Ausstellung kann man die Dichterin selbst die oft sehr absurden Sätze lesen hören. Ich war eine ganze Weile der einzige Besucher, als ich einer alten Dame mit dem Audio-Guide half, stellte sich heraus, dass sie Herta Müllers Buchhändlerin in Bergen-Enkheim war und die Nobelpreisträgerin persönlich kennt. So kam ich zusätzlich in den Genuss von Anekdoten und Hintergrund. Die Ausstellung ist noch bis 16.1.2020 zu sehen.

Ein neues Wort, das Herta Müller sicher gefällt, müssen wir gerade lernen: Feuerwolke oder Pyrocumulonimbus, kurz pyroCb. Vergleichbar ist sie einer Pilzwolke nach der Zündung einer Atombombe, nur noch größer. Die in die Stratosphäre gelangten Partikel, Ruß und Asche, können Höhen von bis zu 23 Kilometern erreichen, sie bleiben dort Monate. Durch solche Schleier dringt die kleine orange Sonne kaum mehr durch, Sydney erlebt das gerade heftig. 

Die bisher verhängnisvollsten Feuerwolken erlebte Australien bereits vor zehn Jahren. Am sogenannten Black Saturday, am 7. Februar 2009, hatten sich im Bundesstaat Victoria drei pyroCbs gebildet. 173 Menschen verbrannten an jenem Tag, es war die tödlichste Feuerbrunst in der Kolonialgeschichte des Kontinents. 400 verschiedene Feuer wüteten dabei. Natur brutal. Zur Menschheitsgeschichte gehört das Feuer, das werden wir noch viel öfter (wieder) lernen müssen. Auch die Autorin Chloe Hooper wurde an jenem „Schwarzen Samstag“ beinahe selbst von einem Buschbrand eingeschlossen. Fast zehn Jahre beschäftigte sie sich mit zwei der Feuer, für die die Polizei bald den Täter fand: Brendan Sokaluk, 42 und aus der Gegend stammend, wurde als Brandstifter für zehn Tode und 156 zerstörte Häuser verantwortlich gemacht und trotz attestiertem Autismus zu 18 Jahren Gefängnis verurteilt.

Chloe Hooper, die sich in ihrem zu Recht gerühmten Buch Der große Mann – CulturMag-Besprechung hier – einem rassistischen Polizisten annäherte und erstaunlich differenzierte Antworten fand, besuchte den Delinquenten im Gefängnis, rekonstruierte Ermittlung und Verhandlung. In The Arsonist. A Mind on Fire fragt sie sich nicht nur, welch eine Art von Person eine Brandkatastrophe anzettelt, sie seziert auch eine Gesellschaft, die sich Monster baut, der Natur entfremdet ist und einfache Antworten statt Zusammenhänge will. Ihr Buch handelt darüber hinaus vom Niedergang einer ehemaligen Kohle-Stadt, von der Ausbeutung der Ressourcen und der Energieversorgung des Molochs Melbourne, kurz von unserm räuberischen Verhältnis zur Natur. Siehe auch Felix Hofmann neulich bei uns – mit „Das Planetenspiel“.

Alf Mayer ist mit Thomas Wörtche Herausgeber von CrimeMag und der CvD. Mit Frank Göhre hat er je ein Buch über Ed McBain und Elmore Leonard gemacht, hat die vier Crissa-Stone-Romane von Wallace Stroby übersetzt (bei Pendragon). Im Februar 2020 erscheint, von ihm übersetzt, Young God von Katherine Faw bei Polar, im April Flucht von Benjamin Whitmer – ein Gefängnisausbruch an Silvester 1968 in Colorado, erzählt in einer Nacht. Seine Texte bei CulturMag/ Crimemag hier. Im Frankfurter „strandgut“ schreibt er seit 1984 eine Krimikolumne, ist Jurymitglied beim Deutschen Krimipreis und Mitglied der Krimibestenliste von FAS und Deutschlandfunk Kultur.

DJ Christina Mohr im Knobbe

Christina Mohr

10 Lieblingsalben: 

Die Heiterkeit: Was passiert ist
Sudan Archives: Athena
Die Türen: Exoterik
Ilgen-Nur: Power Nap
Aldous Harding: Designer
King Princess: Cheap Queen 
Kim Gordon: No Home Record
FKA twigs: Magdalene
Rocko Schamoni: Musik für Jugendliche
Jamila Woods: Legacy, Legacy

10 Lieblingssongs: 

Billie Eilish: „Bad Guy“
Sudan Archives: „Iceland Moss“
Jamila Woods: „Basquiat“
Dua Lipa: „Don’t Start Now“
Miley Cyrus: „Mother’s Daughter“
Jack Penate: „Murder“
Georgia: „About Work on the Dancefloor“
Madonna: „I don’t search I find“
Aldous Harding: „The Barrel“
Andreas Dorau: „Unsichtbare Tänzer“

10 Lieblingsbücher: 

Vivien Goldman: Revenge of the She-Punks
Debbie Harry: Face It
Juliane Streich (Hg.): These Girls
Sasa Stanisic: Herkunft
Defying Gravity: Jordan’s Story
Celeste Bell: Day-Glo! The Poly Styrene Story
Bauhaus-Mädels (Taschen) 
Jan-Niklas Jäger: Factually. Pet Shop Boys in Theorie und Praxis
Aydemir/Yaghoobifarah (Hg.): Eure Heimat ist unser Albtraum
Knarf Rellöm: Wir müssen die Vergangenheit endlich Hitler uns lassen 

Christopher G. Moore

Christopher G. Moore: Round up 2020

The first Vincent Calvino novel, Spirit House was published in 1992. Twenty-eight years have passed and Bangkok and the rest of world has altered in ways that we couldn’t imagine at the beginning of the ‘90s. As a crime fiction novelist I have sought to capture the atmosphere, mood and preoccupations that move and motive readers; tapping into their fears, desires and psyche. The crime is an exploration of a space and time. If a book or series of books succeeds to find readers nearly thirty years later that is evidence something has been preserved about the past and remains meaningful to the reader today.

This year I end the Vincent Calvino crime novel series with the 17th novel titled Dance Me to the End of Time, a riff on Leonard Cohen’s „Dance Me to the End of Love“. I end the series by taking Calvino deep into a future Bangkok. 

We are in decades into the future. Most of civilization has entered the Great Upheaval. A time of collapse and derangement. An AI named Henrietta is in the background, pulling strings. The Chinese have built a theme park in Khlong Toey called Silk & Belt and erected the world’s largest Ferris wheel.

In his final case, Calvino searches for a missing person in a post-climate change broken society Bangkok where missing has become the norm. It’s easy to get lost. The city overflows with climate migrants. Resources are stretched. The population has aged. The percentage of children has plunged to a single percentage. The old and young have joined either Science or Religious Guild. The old social and economic system is in freefall. The political system has hit the bottom of a sinkhole. Calvino and Pratt find themselves as principal Investigators into a missing person case that traps them in the struggle between two warring factions. 

The new Calvino novel takes the reader on a journey into Jean Baudrillard’s hyperreality where the distinction between the real and the imaginary has collapsed. Looking back at the previous sixteen books in the Vincent Calvino, I have the feeling that I’ve been slowly erasing the distinction between the ‘real’ and ‘imagined’ Bangkok indirectly for three decades. In Dance Me to the End of Time—I go straight to the core of that collapsed binary. What was implicit in the previous books becomes explicit in the finality.

Our great upheaval in communication networks, limitless information and the speed of connectivity has transported to the fourth dimension where we are everywhere and nowhere. Our relationship with other people and objects has shifted. What is criminal has taken on new meaning. Crime writers and readers will now converse in this fourth dimension. It will take adjustment. We will have to adapt to a new environment. We will find new tools for investigation and new concepts about innocence and guilt. Our imaginations will explore the boundaries of the new space and we will map how the rivers of blood and tears flow along new river systems.

My Foundation in London has awarded the Moore Prize 2019 for The Sun Does Shine: How I found Life, Freedom, and Justice by Anthony Ray Hinton. 

The short-list included: No Friend But the Mountains, by Behrooz Boochan (Anansi International 2019); The Beekeeper of Sinjar, by Dunya Mikhail (New Directions 2018); The Sun Does Shine, by Anthony Ray Hinton (St. Martin’s Griffin 2019); No Turning Back by Rania Abouzeid(W. W. Norton & Company 2019). These are five terrific non-fiction works that will expand your horizon on human rights. You can find out more about the books from the Christopher G. Moore Foundation website.

My other project for 2020 is a film festival that I founded:  Changing Climate, Changing Lives Film Festival 2020. The concept is local camera, local people, filming the story of local climate/human rights problems. The purpose is to visualize and dramatized the problem of climate change so as to bring empathy to the cold, dry science of climate change. These will be powerful story telling with the focus on real and practical problems facing real people, their families, communities, rice fields, rubber plantations, domesticated livestock and water resources. 

The working idea behind the film festival is to identify Thai storytellers in as many genres as possible to deliver the message of climate breakdown on ordinary people’s lives. At the same time, I’m hoping to find threads of hope from the efforts of people and communities to adapt or mitigate the impact from climate change. Throughout 2020, you can follow our progress by going to our website. You’ll also find links to our Twitter, Facebook, Instagram and YouTube accounts. Please follow us on social media.

The end of the Vincent Calvino series does not signal the I’m pulling off the writing expressway. I’m not certain where the new road will take me but you will be invited to climb aboard and join me. That’s pretty much how I started the Vincent Calvino series in 1992—got in and pressed the gas pedal to the floor. What will be next? If my writing history is any indication the new path will be one that even I can’t predict.

Christopher G. Moore who lives in Thailand, is our Asia correspondent. His essays on CrimeMag. His website. Answering „Bloody Questions“ from Marcus Müntefering.

Peter Münder


Peter Münder: Wer warst du, Kotzebue?

Bei schönstem Juni-Wetter morgens um zehn am idyllischen Hafen des litauischen Örtchens Yuodkrante zu hocken und  or dem verschlossenen Kombi-Lkw mit Rad-Depot im Laderaum und Büro am Lenkrad des Fahrradverleihers auf den Herrn der Räder zu warten, um die Drahtesel zurückzugeben, wäre ja vielleicht ganz beschaulich, wenn  man Yoga-Praktikant ist. Aber für mich schien es sich dann um 10.30 Uhr (statt der vereinbarten 9 Uhr) doch eher zum Prolog von „Warten auf Godot“ zu entwickeln. Als ich ziemlich sauer aufstand, um nach dem immer noch nicht auftauchenden Verleiher zu spähen, radelten zwei junge Typen auf schwer bepackten Rädern in Schlangenlinien auf den Parkplatz. Sie hielten ihre Handys in die Luft, rollten nach links, nach rechts und  filmten die Hafenszenerie inklusive Parkplatz sowie die über den Rasen watschelnden Enten. Die bärenstarken Jungs entpuppten sich als Igor und Pjotr aus Petersburg und erklärten in holprigem Englisch, dass sie mit ihren selbstgebauten E-Bikes gerade aus Petersburg kamen und auf dem Weg nach Prag waren. Die in die Radachsen eingebauten chinesischen E-Motoren gab es günstig im Internet, erklärten sie mit strahlendem Lächeln und für die gesamte Tour hätten sie drei Wochen eingeplant. Zelt, Schlafsack, Proviant, Camping-Ausrüstung – alles hatten sie festgezurrt und hoch aufgetürmt und dann schnurrten sie schon mit kräftigen „Bye Bye“-Rufen weiter: Echte Pioniere und Abenteuer. 

Mit Kotzebue durch Estland?

So ähnlich – zwar nicht gerade mit Zelt und  Luftmatratze, aber wissbegierig und neugierig – wollte ich ja eigentlich auch durch Estland kurven: auf den Spuren von August von Kotzebue (1761-1819), der diverse Ämter in der damaligen russischen Provinz Livland (heute Estland) innehatte, seine Stücke dort am Theater aufführen konnte und das Krongut Woroküll  mit 400 Leibeigenen vom russischen Zaren Paul  sozusagen als Trostpreis – nach seiner Verbannung in Sibirien erhielt. Immer mal wieder tauchte sein Name in Fontanes Theaterkritiken oder in denen von Alfred Kerr auf.  Nämlich dann, wenn die Kritiker mal wieder gegen allzu trivialen Flachsinn in den Boulevard-Stücken polemisierten und Kotzebue als abschreckendes Kitsch- und Tränen-Beispiel zitierten. Aber Fontane kam auch zur Einsicht, dass „Das gewöhnliche, das ganz Alltägliche immer das größte Publikum haben wird; es ist eben nicht möglich, Millionen auf eine hohe ästhetische Kunstebene zu heben. Das kann keine Schule leisten.“ Wer wollte da in diesen Trump-Twitter- und Instagram-Zeiten widersprechen?

Plakette in Weimar © Wiki Commons

In diesem Fontane-Jahr 2019 konnte man nämlich nicht nur den 200. Geburtstag des Neuruppiner Brandenburg-Wanderers begehen, sondern sich auch an Leben und Werk des aus Weimar stammenden theatralischen Kitsch-Spezialisten August von Kotzebue herantasten, der vor 200 Jahren ermordet wurde. Fontane wollte den Rührstück-Spezialisten ja am liebsten auf den Index setzen: Denn unter den ca. 230 (!!!) Kotzebue-Stücken waren laut Fontane viel zu viele kitschige  Schmalz- und Tränen-Machwerke, in denen Sinn und Unsinn plump durcheinandergewirbelt waren und der gesunde Menschenverstand  ignoriert wurde. In Fontanes Theaterkritiken tauchten immer wieder kritisch-komische Exkurse über diesen rätselhaften, abenteuerlichen, umstrittenen, berühmten Dramatiker, Advokaten, Petersburger Generalgouverneur, Informanten des russischen Zaren Alexander I. auf, der am 23. März 1819 vom Jenaer  Theologie-Studenten und Burschenschafter Karl Ludwig Sand in seiner Wohnung in Mannheim erstochen wurde.   

Schon an Goethes Theater: Kotzebue „Nutzt der Kasse“

Hanebüchener Quark wurde von Kotzebue offenbar besonders breitgetreten in Rührstücken wie „Menschenhaß und Reue“ (von 1788) , „Die beiden Klingsberg“ oder in „Die deutschen Kleinstädter“; aber Kotzebue war zu seiner Zeit der meistgespielte Dramatiker in Europa, sogar in New York wurde „Menschenhaß“ im Jahr 1798 aufgeführt.  Man kann sich natürlich mokieren über „Eulalia“, die da als grundsolide Ehefrau einen Seitensprung riskiert – aber vor 200 Jahren war die satirisch überhöhte Thematisierung dieses Tabus ein absoluter Hammer und wurde daher auch zum theatralischen Straßenfeger. Goethe führte diesen vermeintlichen Kotzebue-Schund an seinem Weimarer Theater doppelt so oft auf wie seine eigenen Stücke oder die von Schiller – denn nie klingelten Theater-Kassen so süß wie bei den Aufführungen der Kotzebue-Dauerbrenner. Dafür gab man das kritische Bewusstsein gern an der Garderobe ab – was Goethe selbst zugab, als er erklärte, „Kotzebue unterhält und nutzt der Kasse“. Gleichzeitig war der Dichterfürst aber auch extrem verärgert und verletzt ob  Kotzebues „gewisser Nullität“. Womit er dessen Tendenz zur bühnenreifen Effekthascherei ebenso meinte wie seine Vorliebe für Intrigen und das Entfachen und Verstärken von Konflikten. Der egomanische Kotzebue wollte offenbar Goethe übertrumpfen und schon in Weimar immer im Mittelpunkt stehen. Er konnte es nicht ertragen, zu Goethes Mittwochs-Salon nicht eingeladen zu werden – was ihn dann veranlasste, seinen eigenen Donnerstags-Gegen-Salon zu eröffnen, der allerdings kaum besucht war. Außerdem  genoss er es, bekannte Vordenker wie etwa Friedrich Schlegel zu provozieren, was ihm dann auch mit seinem satirisch-ätzenden Verhöhnungs-Einakter „Der hyperboräische Esel“ mit maximaler Publicity und unter empörter Anteilnahme maßgebender Geistesheroen gelang. Wie in seinen erfolgreichsten Stücken nahm Kotzebue hier auch den aufgeblasenen Jargon der Eitelkeiten, die verbreitete Titel-Sucht, das hochtrabende Geschwätz von  Wichtigtuern wie dem nach Hause zurückkehrenden Studenten Karl ins Visier, dessen Sentenzen alle aus Schlegels Athenäums-Fragmenten und seinem Roman Lucinde stammen: Wer so pfauenhaft über die Bühne stolziert und wichtigtuerisch verkündet, er habe „bei Fichte die Wissenschaftslehre, bei Schiller die Historie und bei Schlegel die Ästhetik gehört“, während er nur heiße Luft absondert, der wirkt ja wirklich nur noch lächerlich. Aber Kotzebues Hang zur Übertreibung, mit der er Schlegel angreifen wollte, fiel hier auf ihn selbst zurück. Es gab diverse satirische Gegenattacken wie etwa die 1800 von August von Schlegel veröffentlichte geistreiche Persiflage „Ehrenpforte und Triumphbogen für den Theaterpräsidenten von Kotzebue bei seiner gehofften Rückkehr ins Vaterland“. 

Wunderkind, Spion, rätselhaftes Phantom?

Keine Frage: Das „dramatische Wunderkind“ (Alfred Kerr), das als Siebenjähriger bei  seinem ersten Theaterbesuch mit einem umwerfenden Erweckungserlebnis  konfrontiert war, das ihn zeitlebens prägte, war ein rätselhafter, widersprüchlicher, ungeheuer kreativer Kopf, aus dem man jedoch nicht richtig schlau wurde. All diese Widersprüche und Ungereimtheiten! Sein Hass auf Napoleon ist grenzenlos, nachdem sein Sohn in der Schlacht von Polozok 1812 gefallen war, dennoch wird er als französischer Spion verfolgt. Als Russischer Gesandter und Informant des Zaren wird er verdächtigt, für den Zaren zu spionieren, doch der Zar schickt ihn – wohl aufgrund falscher Verdächtigungen – nach Sibirien. Trotzdem zeigt sich Kotzebue in seinem Erfahrungsbericht über diese sibirische  Episode als dankbarer und verständnisvoller Untertan, da der Zar sich für seine Fehleinschätzung so großzügig mit der Schenkung von Ländereien samt 400 Leibeigenen revanchierte. War der  vielseitige Kotzebue eine Art Chamäleon? Ein Multi-Tasker oder abenteuerlustiger Provokateur? Alfred Kerr  brachte diese Ungereimtheiten in seiner üblichen schnoddrigen Art so auf den Punkt:

„Student in Jena, Gouverneur in Rußland, Flüchtling in Paris, Verbannter in Sibirien, Grundherr, Librettist Beethovens, Ärmelschüttler, Bühnenfuchs, Plankenkenner, Reptil; geistiger Plattfuß; der zweiten Menschengarnitur angehörend – er ist nicht ganz von hier… Der Bursche ist ein Rätsel. Da ihn Sand abdolchte, haben den jungen Mörder dessen Landsleute mit einer Marmortafel geehrt – ich sah sie“. 

Einige dieser Etiketten passen ganz gut, ein „geistiger Plattfuß“ war Kotzebue aber ganz sicher nicht! Was mein  Rückblick auf immer neue Aspekte des K-Phantoms ja auch demonstrieren soll. …

Da man außer dieser Gedächtnistafel hierzulande nichts  Konkretes hat, was den Zugang zum „Bühnenfuchs“ erleichtern und den rätselhaften Menschen Kotzebue weniger  kapriziös erscheinen lässt, wollte ich die markanten estländischen Locations in Tallin und auf dem Land besuchen. Schließlich hatte ich bei Visiten für die SZ-Serie „Autoren und ihre Schauplätze“ in San Francisco, Broadstairs, Tokio oder Edinburgh auch interessante Einsichten über Hammett, John Buchan, Arimasa Osawa und Ian Rankin mit auf den Weg bekommen. Aber meine Recherchen zu Kotzebue tendierten fast immer gegen Null. Eigentlich waren alle seine Bauten und Ländereien längst zerstört und plattgemacht. Über den „Thüringer, der alles, was er unter die Finger bekam, verkitschte und verspießerte“ (Alfred Kerr) konnte man zwar hunderte von hämisch-skeptischen Sottisen lesen, aber nichts Handfestes eruieren. Das hätte man sich ja zweihundert Jahre nach Kotzebues Ermordung  auch denken können, werden alle Schlauberger dieser Welt  kopfschüttelnd kommentieren. Vielleicht, aber nach Stratford pilgern auch immer noch Theater-Fans, um mehr über den großen Barden zu erfahren. Und der lebte ja immerhin auch einige Jahre früher als der Bühnenfuchs aus Weimar.

Sein Grab in Mannheim

Umparken im Kopf: Kotzebue demnächst im neuen Jahr?

So kam es dann, dass wir statt umständlicher Flüge über Helsinki oder Stockholm mit langen Wartezeiten für weitere Verbindungen nach Tallin in Kiel die Fähre nach Kleipeda nahmen und in Litauen Entschleunigungs-Touren mit dem Rad durch traumhafte Wälder und entlang  großartiger Strände und Dünen unternahmen. Und ich die beiden Russen  am Hafen von Youdkrante traf. 

Dieser Rückblick wird daher auch ein Ausblick auf  spannende Projekte des nächsten Jahres werden – schon deswegen, weil im Fall dieses egozentrischen Plankenkenners seine Biographie viel spannender als das Werk ist und die Frage, wer dieser rätselhafte Zeitgenosse Goethes überhaupt war, immer noch im Nebel des Ungefähren schwebt und vielleicht mit einem Total-Immersion-Visit in Estland zu klären ist …

Als heißen Tipp für Leser, die sich an den Kitsch- und Tränen-Kosmos von Kotzebue heranlesen wollen, kann ich übrigens diverse Studien (Axel Schröter) und  die neu aufgelegten Bühnenerfolge sowie Kotzebues Rückblick auf seine Verbannung nach Sibirien (Das merkwürdigste Jahr meines Lebens) aus dem Hannoveraner Wehrhahn Verlag empfehlen. 

Die Texte von Peter Münder bei uns hier.

Kotzebues Ermordung durch den Burschenschafter Karl Ludwig Sand am 23. März 1819 in Mannheim

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