Geschrieben am 31. Dezember 2019 von für Highlights 2019

CulturMag Highlights 2019, Teil 16 (Wilson – Wörtche – Ziegler)

Robert Wilson –
Thomas Wörtche –
Helmut Ziegler –

Robert Wilson

My book of the year is Second Hand Time by Nobel Prize winner Svetlana Alexievich, which, if you need a category is ‘True Crime’. It is a doorstop tome in which are arranged the stories of people, rarely heard, telling their experiences of the break up of the Soviet Union…and more. The tales come from every sphere of life and from mouths of all ages from a 59-year-old architect to a 22- year-old student. The ages are important because those who’d lived in the Soviet Union were on a different planet to those who’ve mainly known Putin’s Russia.

            This is not a book for the faint-hearted. The crimes are on an immense scale and the suffering is correspondingly enormous and ongoing. It is no less than what you’d expect after a belief system, in which God was not allowed, suppression was paramount, betrayal was constant, violence, slavery, torture and death was commonplace, suddenly collapsed.

            It was a world where fathers could be arrested and, after years in the camps, would come back to drink themselves to death leaving their children to discover that the informants were not only neighbours but dear Aunt Olga as well. One woman, as she was being taken away, begged her neighbour to look after her little girl. She returned to find the neighbor had been as good as her word and her daughter was happily grown up. All that remained was for her to read in her file that it was that same neighbour who’d informed on her in the first place.

            ‘Why didn’t we put Stalin on trial? I’ll tell you why… In order to condemn Stalin, you’d have to condemn your friends and relatives along with him. The people closest to you.’

            It is, therefore, quite staggering to find that when Perestroika occurred many people couldn’t stomach the new freedom, had no comprehension of the market, and were totally unprepared for this new brutality: capitalism. So disorientating did they find it that all they wanted was for Stalin to come back.

            ‘You want to talk about the nineties… I wouldn’t call it a beautiful time. I’d say it was revolting. People’s minds flipped 180 degrees. Some couldn’t handle it, they went crazy, the psych wards were overflowing. I visited a friend of mine in one of them. One guy was screaming ‘I’m Stalin! I’m Stalin!’ while another one screamed ‘I’m Berezovsky! I’m Berezovsky!’’

            They lived for the kitchen and the conversations they used to have about great Russian writers. ‘Books replaced life for us.’ 

But nobody cared about words anymore. They only cared about money. 

‘The first thing to go was friendship.’

‘There’s loads of salami in the shops, but no happy people. I don’t see anyone with fire in their eyes.’

‘Russians need something to believe in… Something lofty and luminous. Empire and communism are ingrained in us. We seek out heroic ideals.’

            It is a brilliantly conceived and organized book in which humanity does not come out very well. But all is not bleak. There is love as well. As one young woman tells of the brutality of imprisonment after being arrested in a non-violent protest in Minsk, Belarus: ‘The first few days we talked about politics, but after that we only ever talked about love.’

Well-travelled Robert Wilson is the author of the Bruce Medway-, Charles Boxer- and Javier Falcon-novels. In 2003 his novel Tod in Lissabon (A Small Death in Lisbon) won the „Deutscher Krimipreis“. He has finished a manuscript for a WW II-thriller, set among the exiles in France and Portugal.  His appearance at CrimeMag here.

Thomas Wörtche

Die kostbarste Ressource ist Zeit. Das wird nicht falscher, nur weil´s banal ist. Keine Zeit haben, heißt leider, nichts zu Büchern und Platten und Filmen und Serien geschrieben zu haben, über die man eigentlich hätte schreiben müssen und, noch schlimmer, wollen. Das permanent schlechte Gewissen nagt, aber so weit, dass ich mich für ein paar Wochen Urlaub am Stück (nach Jahrzehnten ohne) entschuldige, geht´s dann doch nicht. Wobei wir schon ein persönliches Highlight abgehakt hätten, das immerhin die Erkenntnis gebracht hat, dass sich die Welt auch ohne mich weiterdreht. Ist diese putzige narzisstische Kränkung nach ein, zwei Tagen erstmal überwunden, kann ich Urlaub nur empfehlen. 

Und was war sonst noch?

Wolfram Knauer: “Play yourself, man!” Die Geschichte des Jazz in DeutschlandDie erste, wirklich brauchbare Geschichte des Jazz in Deutschland – von den Anfängen bis heute. Faktensicher, einschätzungssicher, schon fast übermenschlich gerecht, schlichtweg kompetent. Jazzgeschichte als Kulturgeschichte, klug und weise, ohne die üblichen ideologischen Querelen. Ach, wenn es sowas nur für die Kriminalliteratur gäbe!

Andrea Noack: Die Bestie schläft. Kann man zuweilen kreuzkomisch über den eigenen Alkoholismus schreiben und dabei absolut seriös bleiben? Rhetorische Frage, klar. Andrea Noack schreibt großartig über ihre Sucht, ihren Kampf dagegen, über Rückschläge, Desaster und Debakel. Genau deswegen ist bei aller Selbst-Skepsis ein letztendlich optimistisches Buch dabei herausgekommen.

Ulrich Woelk: Der Sommer meiner MutterComing-of-age-Roman über die Mondlandung 1969, über Fortschrittsglaube, Emanzipation und sich neu sortierende Geschlechterrollen. Ich war 15, Ulrich Woelks Hauptfigur Tobias 11 Jahre alt, deswegen darf ich das sagen: unfasslich präzise Rekonstruktion der Zeit, kein Gottfried-Keller´scher „goldener Schimmer“, aber auch kein Report aus der Vorstadt- Hölle, erzählökonomisch und kompositorisch meisterhaft.

Ángel de la Calle: Pinturas de Guerra. Nach Tina Modotti die zweite große Graphic Novel von Ángel de la Calle, ziemlich der spannendste zeitgenössische spanische Comic-Künstler. Die in Text und Bild hochverdichtete, anspielungsgespickte Geschichte über exilierte südamerikanische Maler im Paris der 1960er und 1970er Jahre, die der Unterdrückung entkommen wollten und in die nächste Unterdrückung schliddern. In diesem Aspekt war die Welt auch schon damals globalisiert und de la Calles Graphic Novel ist ein faszinierendes Stückchen Kultur- und Politikgeschichte mit unendlich vielen Implikationen. Eine deutsche Fassung ist mehr als überfällig. 

José Muñoz & Carlos Sampayo: Alack SinnerEndlich eine Gesamtausgabe des Alack-Sinner-Zyklus (1972 – 2006) auf 705 (!) Seiten. Ein Grosswerk der Neunten Kunst, in dem die beiden Argentinier aus innerer Notwendigkeit Graphic Novel, Kriminalliteratur und Jazz genial zusammenbringen. Epochal.

Leonard Cohen, Thanks for the dance. Was soll ich sagen? Posthumes Meistwerk, „Happens to the Heart” ist ein Großjuwel unter lauter Juwelen. Understatement pur, mit einem Riff, das man nie wieder aus den Ohren bekommt. Und wenn´s ganz am Ende heisst: „Listen to the hummingbird, don´t listen to me“, werden wir das, sorry, bestimmt nicht tun.

Stuart Jeffries: Grand Hotel Abgrund. Die Frankfurter Schule und ihre Zeit. Spannende, komprimierte (naja, auf 500 Seiten) Kontext- und Mentalitätsstudie und auch ein (nicht unkritisches) Plädoyer für die Aktualität der Frankfurter Schule, um deren Denkmuster man, sogar nolens volens, nicht herumkommt.

Michael Caine: Die verdammten Türen sprengen und andere Lebenslektionen. Michael Caines Biographie vom Cockney zum Weltstar ist ja Legende. Die Rolle als Lebensberater wäre bei jedem anderen peinlich danebengegangen. Aber seine Selbststilisierung als jemand, der stets auf dem Boden geblieben ist, kommt derart charmant und cool rüber, dass man dankbar ist für einen unhysterischen Point-of-View auf die Welt. Und natürlich ist das Büchlein vollgestopft mit lustigen Stories über eine Menge Celebrities. Ein Michael-Caine-Fanbuch. 

Matthew L. Tompkins: Die Kunst der Illusion. Magier, Spiritisten und wie wir uns täuschen lassen. Täuschen, tricksen, reinlegen – das Kerngeschäft von Crime Fiction. Auch Zauberer, Ilusionisten, Magier, Spiritisten und andere Leute, die nach dem Prinzip „mundus vult decipi“ agieren, brauchen ein dankbares Publikum, das sich gerne an der Nase rumführen lässt. Fette Beute auch für Leute, die dem Hokuspokus auf die Schliche kommen wollen.  Hier finden Sie Material (Bilder aller Art, Quellen galore) in Hülle und Fülle und ein paar kluge Anmerkungen zur experimentellen Psychologie. Unsere Wahrnehmung von Welt ist in der Tat ein fragiles Ding, aber an irgendwas Übernatürlichem liegt das bestimmt nicht. Opulentes Bilderbuch.

Ahmed Saadawi: Frankenstein in Bagdad. Sehr vergnügliches, arabisches Rewriting von traditionellen Topics von Frankenstein bis Golem.  Clevere, kreative und sehr überraschende  Kontextverschiebung in eine aktuelle Hölle, die prächtig funktioniert. 

Hilaire Beloc: Ladies und Gentlemen; Klein-Kinder-Bewahranstalt. Zwei schön gemachte Bändchen, schwarzer Humor in virtuosen Versen, boshaft, gemein, voll auf die Nuss, elegant und voller Abscheu gegenüber der britischen Klassengesellschaft, so paradox und kratzbürstig wie Beloc selbst. 

Vincent Klink: Ein Bauch lustwandelt durch Wien. Wiener Causerien von meinem Lieblingsgastrosophen, gespickt mit Anekdoten, biestigen persönlichen Statements und kulturhistorischen Abschweifungen, alkoholgeschwängert und verfressen – mon dieu, was muss der gute Vincent Klink für eine Kondition habe. Offensiver Hedonismus, gut! Nix wie nach Wien.

Jean-Michael Guesdon/Philippe Margotin: Jimi Hendrix. Alle Songs. Die Geschichte hinter den Tracks. Das ideale Nachschlagewerk, falls man sich gerade mit Jimi Hendrix auseinandersetzt. Jede benutzte Gitarre, jedes Mikrophon, jeder Verstärker werden minutiös dokumentiert, die Entstehungsgeschichte eines jeden Songs wird penibel rekonstruiert, die biographischen und situativen Kontexte aufgefächert. Dazu jede Menge Bildmaterial. Nichts zum Durchlesen, aber stets verläßlich, wenn man gerade ein Detail braucht. Das ist schon sehr beeindruckend, dieser monographische Wahn. Bleibt mein lebenslanger Dauerseufzer an der Stelle: Ach, wenn doch Jimi Hendrix und Miles Davis wenigstens eine Platte zusammen gemacht hätten

Elisabeth Schawerda/Sylvia Zwettler-Otte: Gefährliche kleine Wörter. Extrem kluge Meditation über Sprachbewusstsein, Sprachsensibilität und Sprachverwendung anhand der kleinen „unauffälligen“ Wörter, die, so beiläufig sie in gesprochenen und geschriebenen Texten vorkommen, ihre sehr eigene und kräftige Semantik haben, auch wenn es sich nur um winzigste Nuancen handelt – also all die „na ja“, „echt“, egal“, „schon“, „kaum“, „jein“ usw. Unschuldig sind die kleinen Biester nie, viele von ihnen, gerade wenn sie ganz unauffällig eingestreut sind, können recht toxisch sein. Und manche, die man vorschnell als harmlose Floskel begreifen möchte, sind Teil dessen, was ich „abscheuliche Sprachspiele“ nennen möchte. Zu diesen „abscheulichen Sprachspielen“ sammle ich seit geraumer Zeit Material – dieses kleine Büchlein wimmelt von schönen Beispielen. Dafür im voraus besten Dank, Credits garantiert!

Ach ja, übrigens: Vieles spricht sehr dafür, dass 2020 großartig wird.

Thomas Wörtche, gibt u.a. Bücher heraus, schreibt hin und wieder ein  paar Texte.

Helmut Ziegler

Asana des Jahres I
Der Baum
Morgendlicher Test, wie es ums Gleichgewicht bestellt ist

Motto des Jahres
Go East!
Mosaiken der Sowjetmoderne in Georgien. Lego-KZ als Kunst in Warschau. Autobahn-Graffitis in Stettin. Vier Wochen Litauen, Lettland und Estland. Stasi-Museum und Stasi-Gefängnis in Berlin. Hat sich alles ungeplant so ergeben.

Getränke des Jahres
Alveus: Amour Provence 
Bio-Kräuter-Tee mit Zitronengras, Olivenblättern, Verbene, Rosmarin, Thymian, Lavendel, Lindenblüten und Zimtstange. »Der Burner«, sagte die Verkäuferin. Sie untertrieb.
Störtebeker: Atlantik Ale
Immer noch.

Songs des Jahres
Koffee: „Toast“
Jamaikas Zukunft, geboren 2000 a. D. 

The Leisure Society: „A Bird, A Bee, Humanity“
Ambitioniert zirpender Folk-Pop

Gang Starr w/ J. Cole: „Family & Loyalty“ (DJ A-L C.R.E.A.Mix)
So schön, Dich wieder zu hören, Guru!

Album des Jahres
Lana Del Rey: Norman Fucking Rockwell
Tranig-lasziver Westcoast-Sound, einmal mehr reduziert, Reggae und Krautrock sowie Silvia Plath und »Feminismus aus der Fabrik, in die niemand mehr geht« (Spiegel Online) draufgetupft

Krimi des Jahres
Denise Mina: Klare Sache
»Realität ist etwas für Leute«, sagt die heimliche weibliche Hauptfigur in Woody Allens A Rainy Day in New York, »denen nichts Besseres einfällt.« Könnte meine Begründung sein, warum ich so wenige Krimis las. Zu viel Bestätigung, dass es schlecht zugeht in der Welt, zu viel Verdoppelung des Elends. Denise Mina feiert dagegen das Erzählen an sich und fährt einmal mit dem Schleppnetz durch die Historie von Scheherazade bis Podcast

Roman des Jahres
Jackie Thomae: Brüder
Ein aus Afrika stammender Vater. Seine zwei Söhne, um 1970 geboren, die sich nicht kennen. Der eine, großartig konzeptlos, erlebt die feiernde Nachwende-Zeit in Berlin. Der andere, streng pragmatisch, die gierigen 2010er in London. Vollkommen anstrengungslos schiebt Thomae das zu einem wunderbaren Wandgemälde zusammen, auf dem rasantes House und rassistische Haue nur zwei Farbtöne von vielen sind

Sachbuch des Jahres
Dietmar Dath: Niegeschichte
Wilde, fast 1000 Seiten umfassende Genre-Geschichte der Science Fiction. Unter M im Namensregister: Marx, Mozart und Musil

Serien des Jahres
„Fleabag“ (Staffel 2)
Das Leben einer Frau läuft tragisch schief – sie weiß es genau, ist durchaus verzweifelt und macht etwas extrem Komisches daraus

„Killing Eve“
Eine soziopathische russische Killerin verliebt sich in ihre bürokratische britische Ermittlerin – leicht irre und irre lustig.

„The Boys“
Abgefuckte Superhelden  im Sold eines Konzerns, der den Krieg privatisieren möchte – sehr böse, für die dreckige Lache

Flop des Jahres
„Joker“
Ja, Joaquin Phoenix, klar. Ja, Taxi-Driver und King of Comedy zusammengefasst, auch toll. Aber dann doch: nö. Alles, was am Joker einst anarchistisch, geheimnisvoll und unberechenbar war, wird hier als Erstsemester-Vorlesung für Sozialpädagogik-Studenten übervollständig durchdekliniert.

Hasswort des Jahres
Morgenroutine.

Asana des Jahres II
Die seitliche Krähe
Der zweite Test für das Gleichgewicht. Wichtiger als die Haltung ist: Wie sehr man lacht, wenn man aus der Position knallt.

Helmut Ziegler, 1958 geboren, arbeitet als Journalist und Autor in Hamburg. Er hat zwei Jugendromane um Peng, der Penguin veröffentlicht sowie (mit Ko-Autorin Paula Lambert) Brüste – das Buch. Ansonsten schreibt er für Geld. Bei CrimeMag erschien 2018 sein legendäres Porträt des „Mister Dynamit“-Autors C.H. Guenter aus dem Wiener von 1987 in einer Neuauflage.

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