Geschrieben am 31. Dezember 2019 von für Highlights 2019

CulturMag Highlights 2019, Teil 14 (Sommer – Stroby – Thoke – Treue)

Heide Sommer –
Wallace Stroby –
Christoph Thoke –
Peter Treue –

Heide Sommer © Paula Markert

Heide Sommer: Fritz J. Raddatz und Tucholsky

Er nannte sie „Ma Reine“ – meine Königin – und war geistig-seelisch in sie vernarrt: Mary Gerold, die einstige Ehefrau von Kurt Tucholsky, inzwischen längst dessen geschiedene Witwe, die der Schriftsteller qua Testament als Erbin seines Urheberrechts eingesetzt hatte. Fritz J. Raddatz verehrte diese Frau, seitdem er sie 1953 kennengelernt hatte, als er mit der von ihm selber so genannten „hochsinnig-besessenen Idee einer gesamtdeutschen Tucholsky-Ausgabe an der Gartenpforte ihres Knusperhäuschens in Rottach-Egern klingelte“. Der schön-gestrengen Mary hat Raddatz übrigens in seinen Erinnerungen mit dem Titel Unruhestifter (Propyläen 2003) eine „Gemme“ gewidmet, wie er die in die chronologische Lebenserzählung eingestreuten Porträts ihm wichtiger oder auch dubioser Menschen wie Wolfgang Harich („Auftritt der Verräter“) nannte. 

Raddatz und Mary Gerold, eine intellektuelle Flirtbeziehung in gegenseitiger Verehrung bis zum dann doch leicht bitteren Ende, in der sie die Königin und er der „Fürst“ oder dank seiner üppigen schwarzen Haarpracht auch mal der „Lockenkrull“ war. Raddatz und Tucholsky – eine symbiotische Verbindung zweier Schriftsteller, die sich im Leben verpassten – der eine, Tucholsky, das genuine Genie (1890-1935), der andere, Raddatz (1931-2015), der durchaus bedeutende Epigone, der mit seinem analytischen Intellekt das Geniale an Tucholsky verstand und sich dessen wachsame Unbestechlichkeit auf die Fahnen schrieb. Er saugte alles, das Tucho geschrieben hatte, in sich auf und versuchte Zeit seines Lebens so aufrecht und kritisch zu denken wie jener. Selbst im Tod von eigener Hand, sofern wir die These vertreten, dass Tucholsky die Überdosis an Medikamenten durchaus mit Absicht eingenommen habe, ahmte er ihn nach und ging diesen Weg ganz bewusst, um den Gebrechen des Alters, des geistigen und körperlichen Verfalls davonzulaufen.

            Als es Raddatz noch gut ging und er auf der Höhe seiner Schaffenskraft war, hat er das Werk Tucholskys in sich aufgesogen, als Herausgeber in Millionenauflagen betreut und letztlich gemeinsam mit der „Reine“ die Kurt Tucholsky Stiftung gegründet, deren Vorstandsvorsitzender er dann bis zu seinem achtzigsten Lebensjahr blieb, wie er es ihr, der 1987 Verstorbenen, einst versprochen hatte. Schließlich mussten die vielen Gelder, die mit dem Werk bis zum Ablauf des Urheberrechts im Jahre 2005 verdient wurden, ja irgendwo untergebracht und sinnvoll – in diesem Fall für Stipendien ausländischer Studenten in Deutschland oder deutscher Studierender im Ausland – ausgegeben werden. Mary Gerold war nach Ende des zweiten Weltkriegs in ein winziges Hexenhäuschen in Rottach-Egern gezogen und gründete dort das Tucholsky-Archiv, das sie später an das Deutsche Literaturarchiv in Marbach am Neckar verschenkte.

            Und Raddatz? Er leitete nicht nur die Stiftung, die übrigens nach wie vor ihre Arbeit tut, und gab die Werke von Tucholsky heraus, sondern publizierte auch selber Bücher und Artikel über Tucho, die von tiefer Liebe, Bewunderung und Werkkenntnis zeugen.

            So kann es nicht wundernehmen, dass er die Anfrage des Herder-Verlags im Jahre 2010, ob er Lust hätte, für die neue Reihe „Der wichtigste Tag im Leben von…“ über Kurt Tucholsky zu schreiben, sofort mit „Nein, ich habe alles über Tucholsky gesagt“, beantwortete. Ich war damals die Privatsekretärin von Raddatz, der keiner Redaktion mehr angehörte und nur noch mich als Hilfskraft hatte, und ich war mit dieser Antwort ganz und gar nicht einverstanden. Ich wusste auch, wie ich ihn eventuell umstimmen und zu dem gewünschten Essay animieren konnte. „Nur mal so für mich ganz privat – was wäre denn Ihrer Meinung nach der wichtigste Tag im Leben von Kurt Tucholsky?“, fragte ich ihn nach einiger Zeit. Die Antwort kam wie aus der Pistole geschossen: „Der Tag, an dem er Mary Gerold kennenlernte.“

            Na also – damit hatte ich ihn dort, wo ich ihn haben wollte, denn im untersten Fach des von Raddatz „Höllenmaschine“ genannten Fotokopierschranks ruhten seit geraumer Zeit und offenbar völlig vergessen die dünnen Durchschläge der Tagebucheinträge, die Mehri, wie Eingeweihte ihren Namen aussprachen, als junge Frau eigenhändig getippt hatte, und sie betrafen genau die Zeit, in der Tucho und sie sich kennenlernten: der damals fünfundzwanzigjährige, im April 1915 eingezogene und zum „Kompanieschreiber“ in der Fliegerschule Alt-Autz in Kurland abgestellte Journalist, und die zwanzigjährige, aus Riga stammende Deutschbaltin Mary Gerold, die ihrerseits dorthin dienstverpflichtet worden war.

            Diese Tagebucheinträge waren ein Schatz, den Raddatz nur zu heben brauchte. Er allein war qua Stiftung der Rechteinhaber, und diese Notizen sollten und konnten nach meiner Einschätzung den Grundstock für diesen Essay bilden. Raddatz studierte das Material, ich versprach, bei der Auswahl der Einträge behilflich zu sein, und schließlich stimmte er zu. Was dann im blauen Einband unter dem Titel Kurt Tucholsky. Eine biografische Momentaufnahme bei Herder erschien und inzwischen unter dem Titel „Dann wird aus Zwein: Wir beide“. Kurt Tucholsky und Mary Gerold als Taschenbuch neu herausgegeben wurde, ist ein menschliches, politisch-zeitgeschichtliches Kleinod, das Beste, das Raddatz je geschrieben habe, wie Theo Sommer später nach der Lektüre urteilte.

            Bei Mary, der damals 20-jährigen jungen Frau, finden sich intime Bekenntnisse, zaghaft, doch auch offen dem Tagebuch anvertraut, wie diese:

Freitag, 25. Januar 1918: Einen zweiten Mann wie Tuch gibt es nicht, werde ich nie finden, der so sauber, so rein mit einer Frau umgeht, an dem nichts abstoßend ist…, vielleicht bereue ich noch einmal…

„Du weißt ja nicht, wie es ist. Sieh, auf dem einen Ufer blüht alles – auf dem andern nichts. Du vertraust mir, vertrau mir auch hier – es ist nur ein Graben, der uns trennt – tu den Sprung, ich fange dich auf…“

                  Während ich das schreibe, höre ich seine Stimme. Soll ich hinausgehen oder nicht? Ich gehe. Gehe, ohne ihn ‚zu bemerken‘. Er kommt mir entgegen, grüßt, ich danke mit einem Kopfnicken – auch der schärfste Beobachter konnte nichts entdecken.

                  Lebe ich? Befinde ich mich in der Wirklichkeit? – Nein, ich träume…

Sonnabend, 26. Januar 1918: Als ich ins Büro gehe, kommt er mir entgegen. „Mätzchen, warum kamst du gestern nicht, ich habe dich erwartet-“ Um 2 Uhr wollen wir uns treffen.

Sonntag, 27. Januar 1918: Ich war bei ihm. Die Zeit stand still… „Ich will nichts von dir, ich will alles vergessen, bei dir sein.“ Ich vertraute ihm. Waren es Minuten oder Stunden? – Ich weiß es nicht mehr.

Montag, 28. Januar 1918: Er schenkte mir wieder ein Bild – und dieses Gedicht dazu. Ich habe ihn unsagbar gern. Ich begreife es selbst nicht, ich verstehe noch nicht mein Glück zu schätzen – ‚erst in Leid und Bangen…‘.

Dienstag, 29 Januar 1918: Es war sehr sehr schön. Wir tranken eine Flasche Sekt und ich hatte einen reizenden Schwips. „Lach mich nicht aus, daß ich dir das sage, aber wenn ich eine Frau liebe, dann fresse ich mich in sie hinein. Ich mußte dich gestern immerfort ansehen. Du sahst aus, wie eine junge Frau, wie du am Ofen saßst, so müde und mit einem Gesicht: ihr könnt mich alle… eine Frau ist eben immer neu.“ Und dann gab er mir eine Stelle aus Heinrich Manns „Venus“ zu lesen. Ich habe aber die Stelle verschlagen und lese das ganze Buch.

Donnerstag, 31. Januar 1918: Da kriege ich nun ein Buch, diesen Brief, eine Dose Mixed-Pickles, eine Flasche Milch… Er sorgt für mich wie eine Mutter. Am Abend war ich bei ihm. Er hörte mich nicht kommen, saß in der Bibliothek und las Zeitung, ich saß mucksmäuschenstill, bis er kam – und dann…Es war wieder ein stürmischer Abend.

Später nennt sie ihn nur noch „Dickerchen“, die Affäre entwickelt sich rasend schnell, und am Donnerstag, dem 18. April 1918, schreibt sie:

Wie wird das enden? Wahrscheinlich wird es plötzlich abgeschnitten sein über Nacht, und keiner weiß wo, wie, warum. Nun dauert es den 4. Monat.

Freitag, 19. April 1918: Es ist 11 Uhr vormittags. Da kommt er plötzlich herein. Steht da, sagt kein Wort… 
„Ich möchte dich bitten, dich Sonnabend und Sonntag mir ganz zu widmen.“ – 
„Warum?“ – 
„Du weißt schon!“
Ich sah ihn an – und wußte es… 

Den beiden passiert, was allen Menschen gelegentlich passiert: Sie verlieben sich, der Blitz schlägt ein wie ein „Coup de Foudre“, aber dann werden sie vom Schicksal getrennt und haben Kummer. Er wird versetzt und sie schreibt:

Mittwoch, 24. April 1918: Am Vormittag trat ich die Erbschaft an: sein Bett, Waschtisch, Spiegel. Unser Zimmer sieht jetzt sehr nobel aus. Mittags holte ich ihn ab. Wieder gingen wir in unser Wäldchen. Wir lagerten uns – keiner sprach ein Wort – beide heulten wir.

                  Dann war der Zug da. Er stieg ein, und ich ging den Bahnsteig entlang. Als ich zurückkam, war Meyer da. Da setzte sich der Zug ganz leise in Bewegung. Wir sahen uns das letzte Mal an… unsere Augen waren von Tränen verdunkelt. Eine Hand winkte aus dem Fenster, ich winkte zurück, immer undeutlicher wurde die Hand – und dann war alles grau… Zu Hause schloß ich mich ein, warf mich aufs Bett, und vom Weinen müde geworden wie ein Kind schlief ich ein.

Raddatz schreibt dazu: „Wir sind also Zuschauer eines Zweipersonenstücks, eines Dramas, das eines Tages zur Tragödie werden soll.“ Und ordnet die Vorgänge historisch und psychologisch in die Zeitläufte ein, erkennt und benennt mit deutlichen Worten das „große Glück“, das schnurstracks in die „große Katastrophe“ – auch des zweiten Weltkriegs und der Naziherrschaft – führt.

            Im dritten Drittel seines Essays gebietet Raddatz der Erzählung „vom Gang der Ereignisse Einhalt“ und untersucht, „warum die Begegnung mit Mary, die Beziehung zu ihr, für Kurt Tucholsky von so ganz und gar einmaliger, existenzieller Bedeutung war“. Er beschreibt, dass Mary, die Tucholsky zu seinem „Berater“ ernannte, diese „Funktion“ perfekt erfüllte. „Sie war ‚der Mann an seiner Seite‘. Zahllose Briefe geben Zeugnis davon.“

            Am Schluss integriert Raddatz noch eine Auseinandersetzung zwischen Tucholsky und Karl Kraus in den Text und verleiht seinem Essay dadurch eine brisante politische Dimension, die aber wiederum im Privaten ihren Höhepunkt findet. Weil er unstet in der Liebe ist und nicht treu sein kann, schreibt Tucholsky einen Abschiedsbrief an Mary, die er inzwischen „Mala“ nennt und mit „Er“ anredet. Raddatz zitiert den Eintrag aus dem „Sudelbuch“ von Kurt Tucholsky vom 7. November 1935: „Ich habe nur eine Frau in meinem Leben geliebt und ich werde mir nie verzeihen, was ich ihr angetan habe.“ Dieses „Nie“, so Raddatz, währte einen Monat. „Kurz bevor Kurt Tucholsky am 19. Dezember 1935 das Gift nahm, an dem er zwei Tage später starb, schrieb er diesen Abschiedsbrief an die große Liebe seines nun verlöschenden Lebens, an Mary. Es ist eines der unvergesslichen Briefdokumente der modernen Literatur.“ Lesen! 

Oder vorlesen, wie ich es dann auf einer Reise mit der MS DEUTSCHLAND tun durfte. Eigentlich hatte die Reederei Raddatz eingeladen – „Sie kennen doch das Traumschiff aus dem ZDF?“ –, aus dem Herder-Bändchen zu lesen, weil man auf dieser Ostsee-Route an Riga, dem Geburtsort von Mary Gerold, vorbeikam und auch Gelegenheit haben würde, Tucholskys Grab in Mariefred südwestlich von Stockholm zu besuchen. Doch Raddatz lehnte ab. Die Vorstellung, auf solch einer Reise ständig für die – selbstverständlich ungebildeten – Kreuzfahrtteilnehmer ansprechbar sein zu müssen, war für ihn der blanke Horror. Ich fasste mir ein Herz und bot mich statt seiner bei der Reederei an und erhielt bis zum Verkauf des von Raddatz „Ausflugsdampfer“ genannten Schiffes ins Ausland noch zwei weitere Einladungen zu Lesereisen mit anderen Themen, eine davon nach Grönland, wo ich sonst wohl nie in meinem Leben hingekommen wäre. Raddatz selbst, neugierig gemacht von meinen Reiseberichten, fuhr dann bei nächster Gelegenheit mit und las aus dem inzwischen erschienenen ersten Band seiner Tagebücher.

P.S. Eine seiner schönsten Widmungen hat Raddatz mir übrigens in sein Erinnerungsbuch Unruhestifter geschrieben. Sie lautet: „Für Heide Sommer, die dieses Buch so perfekt betreut hat – ich habe es nur geschrieben… Großer Dank vom Raddatz, September ‘03.“

  • „Dann wird aus Zwein: Wir beide“. Kurt Tucholsky und Mary Gerold. Herder spektrum Band 6760, Freiburg 2014. Neuausgabe TB eines Essays von Fritz J. Raddatz, der 2010 unter dem Originaltitel Kurt Tucholsky: Eine biografische Momentaufnahme im Herder Verlag erschien.

Heide Sommer, Jahrgang 1940, begann 1963 als Sekretärin im Politik-Ressort bei der Zeit. Dort lernte sie ihren Mann, den späteren Zeit-Chefredakteur Theo Sommer kennen, mit dem sie zwei Söhne hat. 1966 wurde sie Sekretärin von Carl Zuckmayer in der Schweiz. 1967 kehrte sie nach Hamburg zurück und landete nach kleineren Zwischenstationen beim Spiegel als Sekretärin von Joachim Fest, Günter Gaus und Rudolf Augstein. Anschließend arbeitete sie von 2001 bis 2015 für Fritz J. Raddatz und gleichzeitig von 2006 bis 2009 für das Ehepaar Loki und Helmut Schmidt. Heide Sommer lebt in Wacken. – Ihre Erinnerungen „Lassen Sie mich mal machen“ bei uns besprochen von Peter Münder.

Wallace Stroby: Some standouts from 2019

„The Irishman“: Martin Scorsese’s epic, elegiac – sometimes
almost funereal – gangster film to end all gangster films. An elderly
hitman (Robert De Niro) looks back on his violent life of corruption,
betrayal and murder, interwoven through American history. Once a
feared killer, he’s now an old man preparing for his own death, afraid
of the dark, and what might wait for him there. De Niro leads a dream
cast, reuniting him with Joe Pesci (in the performance of his career),
Harvey Keitel and other Scorsese standbys. A contemplation of the
corrosive nature of power, and the ruthless rush of time. The final
hour is riveting, haunting and ultimately heartbreaking.

Sympathy for the Devil, Night Dogs and Green Sun by Kent Anderson:
I wasn’t familiar with Anderson’s semi-autobiographical trilogy until I was asked to write a new foreword for the Mulholland Books reissue
of Night Dogs, his 1996 police novel set in Portland, Oregon. That sent me back to 1987’s Sympathy for the Devil, a vivid and often
nightmarish novel about the Vietnam War, drawn from Anderson’s time in a Special Forces unit, during which he earned two Bronze Stars. Night Dogs picks up in 1975, with Hanson, that earlier book’s protagonist, now a member of the Portland Police department (a job Anderson also held during that same time period). A good cop in a desperate place, Hansen patrols North Portland’s inner city, where the residents view the police as an occupying army, and alternate between hostility and grudging respect. Hanson feels for the community he’s policing, but has no illusions about his ability to change things. Haunted by Vietnam flashbacks, he misses the comparably simple choices of wartime, when “Good was staying alive. Evil was everything else.”

Raw, harsh and yet deeply compassionate, Night Dogs might be the
best police novel since Joseph Wambaugh’s groundbreaking The New Centurions in 1972. Hanson returned again in Anderson’s third novel,
Green Sun, published in 2018, based on the author’s time with the
Oakland, Calif., Police Department in the early ‘80s. Anderson is a
major American writer, who’s yet to get the attention he deserves.

Wallace Stroby is the author of eight novels, the most recent Some Die Nameless. A Rutgers University graduate, he’s a lifelong resident of the Jersey Shore. For more than twenty years he was a journalist. He wrote his first three novels while working full-time at the Newark (N.J.) Star-Ledger. Stroby’s Crissa Stone novels were translated into German by CrimeMag editor Alf Mayer;  Der Teufel will mehr (The Devil’s Share) came out in Spring 2019. February 2020 will see Zum Greifen nah (Gone Til November). W.’s blog Live at the Heartbreak Lounge. His texts with CrimeMag here and here.

Christoph Thoke

Auf Reisen in Indien und mächtig Gestaunt: Jeder hat Vorurteile. Und in der Natur der Sache helfen die ja auch weiter. Fahr ich also nach Indien auf die Filmmesse, so ist das natürlich dreckig da. Der Inder wirft mit Müll um sich, da wären bei uns die Laubbläser davor. Laut tönend. 
Und gehupt wird da. Please HONK! Und die Hygenie erst. Besser Wasser aus Plastikflaschen trinken, das ist doch so gesünder. Und man dehydriert nicht gleich.  Wenn man nicht Amerikaner ist. Die dehydrieren sowieso.

Doch dann komm ich nach Mumbai. Oder doch lieber Bombay! Der Flughafen ist topmodern. Alles funktioniert. Das Visum gibt es jetzt vorab elektronisch für eine geringes der Summe wie letztes Jahr.

Und dann erzählen mir die Leut von Dabbawallahs. Ein System von 5000 Henkelmanneinsammlern in Mumbai. Die sammeln das frischzuhause gemachte Essen ein, transportieren es überall hin und liefern es pünktlich gegen Mittag aus. 200.000 Mahlzeiten täglich. Das allein ist schon eine logistische Meisterleistung. Vollends wundersam wird es, wenn berichtet wird , dass nur eine auf 19 Millionen Sendungen verloren geht. 

Als ich zurück in Frankfurt bin, sind am Airport und Fernbahnhof jede zweite Rolltreppe oder Laufband defekt. Und das ist kein Vorurteil.

Warum ich kein Netflix brauche – Größere Enttäuschungen und kaum Lichtblicke: Ich liebe Netflix. Und Grössenwahn. Einen meiner Jahreshöhepunkte liegt gerade hinter mir. Eine dämliche 150 Mio Orgie, voll in den Sand gesetzt von Mastermind und nicht mehr so jungem Producer Wunderkind Michael Bay. „6 Underground“ mit dem zur Zeit nervigsten Actionstar Ryan Reynolds vertreibt auch noch den allerletzten Fan mit irrwitzigen und total sinnentleerten Sequenzen. Netflix, du stiehlst mir Lebenszeit.

Und das trifft leider auch für den viel bespochenen „The Irishman“ zu. Ok, Martin Scorcese ist toll. Sein Werk spricht für sich. 

Und es findet sich immer Kollegen aus der Filmkritiker-Zunft, die uns erklären, was wir nicht so richtig verstanden haben.

Aber drei Stunden zusehen müssen bei einer Geschichte, die den Mafiafilm klassischer Prägung dekonstruieren möchte. Ja was soll das denn!

Ich kann schon verstehen, dass den Regisseur Scorcese der Hafer sticht, dass es jetzt mal was ganz anderes sein soll.

Womöglich habe ich solche Art von Filmen sogar schon selber produziert.

Nur mich überfiel beim Zusehen leider frühzeitig ein starkes Gefühl der Langweile. Und ein Film darf alles, aber langweilen?

Ok, es gab auch schöne Momente auf Netflix: Die Serie „Bodyguard“ mt dem überragenden Darsteller Richard Madden. Da könnte ich süchtig werden. Gäbe es denn diese Art von Storytelling-Qualität öfter. Gibt es aber nicht.

Stattdessen scrolle ich mir meine Finger wund, komme mit der Menüführuing von Netflix nicht wirklich gut zurecht. Und stelle plötzlich mit einem Blick auf die Uhr fest: Verdammt schon wieder zuviel Zeit verdaddelt.

Jpeg

Sehnsuchtsorte: Wo möchte ich sein? Wo zieht es mich hin? 
Aufs Land? In die Stadt?- Oder in den Süden? Wie Goethe? Oder wie halb Deutschland nach Malle?

Meine Reisephantasie tönt als Dreiklang dieses Jahr. Bestehend aus Kroatien, Italien – nicht wirklich eine Überraschung. Und Spanien oder Portugal? Da bin ich unentschieden. Ginge es nach meinem Magen, würde ich mich lebenslang einbuchen, in der Altstadt von San Sebastian, und jeden einzelnen Pintxos (Tapa) durchprobieren.

Und gepflegt platzen eines Tages.
Oder haben sie schon einmal von praias fluviais gehört?

Die sind mir im Hinterland von Portugal begegnet.

Hinterland, das klingt wie ein Buchtitel. Und es klingt gut. Und so ist es auch. Denn in Portugal im Hinterland da wimmelt es nicht. Man trifft auf Einheimische. Die hüten Ihren Schatz. 

Baden im Fluss. Das muss man einfach mal versuchen. Kühles, Glasklares Wasser, zumeist von irgendeinem Berg in der Nähe. Gedämpfte Geräusche, Kinderlachen. Kein Chlor. Keine Bespassung. Das Maximum an Moderne ist ein Kiosk für den Espresso oder Toast. Sonst nichts. 

Wie aus der Zeit gefallen. 
Das tut so gut.

Jeder Rückblick ist auch ein Ausblick: Von allem gibt es ja zuviel. Co2, Rechtradikale Volksverhetzer und Rückblicke. Verstehen wir uns nicht falsch. Der CulturMag-Rückblick is different. Nur wenn ich an die Flut von klugen und überschlauen Zusammenfassungen denke, die wir zum Jahresende frei haus bekommen ….

Das fühlt sich an wie zehn Schweinebraten. Und wir wären beim Thema:

Es wird viel produziert in meiner Welt. Tausende Filme jedes Jahr. Und es werden immer mehr. 

Kein Markt kann diese Überproduktion noch aufnehmen. Mit gleichzeitig immer mehr Veranstaltungen, wo Leute wie ich, jungen Talenten beibringen, noch mehr zu machen. 

Das war auch dieses Jahr wieder so.

Nur habe ich jetzt einen Wunsch.  Lasst uns mehr Fragen stellen!

Das junge Talent muss sich mühen mit Antworten auf: Wer bin ich, was ist meine künstlerische Mission, Welche Geschichte will ich erzählen und für welches Publikum?

Und der Experte sollte sich tunlichst befragen, ob er wirklich so viel mehr weiss, als er oftmals tut.

Dann wird es interessant. Und mir wird nicht bang um das neue Jahr. Lasst uns mehr miteinander reden. Mehr Fragen stellen. Löcher in den Bauch. Irgendetwas hilfreiches wird schon dabei herauskommen. Ganz sicher. In 2020.

Christoph Thoke ist Autor, Juror, Programmer, Produzent.
War 25 Mal in den Niederlanden.
Weltreisender in Sachen internationale Kinocoproduktionen. Hessischer Filmpreisträger.
Überzeugter Fragensteller. Unverbesserlicher Gourmant, Bücherleser. Menschenfreund. Familienvater. 
Glaubt, dass 2020 noch besser wird.

Peter Treue: Ute Cohens Satans Spielfeld, gehört

Es ist schon eine Weile her, dass ich das aufwühlende Buch Satans Spielfeld von Ute Cohen gelesen hatte. Nun also steht das Hörbuch zur Verfügung, gelesen von niemand Geringeren als der Autorin selbst. 
Zum Inhalt des Buches wurde schon viel gesagt und geschrieben (siehe zum Beispiel Thomas Wörtche bei uns auf CrimeMag). Ja, dieses Buch ist etwas Besonderes – gerade im aktuellen Kosmos der, im weitesten Sinne, Frauenliteratur, also Literatur von Frauen. Erzählt wird die Geschichte eines zwölfjährigen Mädchens in der bayerischen Provinz, das hin- und hergerissen zwischen erwachender Sexualität und einem lieblosen Elternhaus in die Fänge eines anfänglich charmanten und einflussreichen Dorfpatrons gelangt. Man erlebt diese Geschichte durch die Augen und mit den Worten des Mädchens. Und man muss fast alles über den Haufen werfen, was man von einem Buch erwarten würde, welches letztendlich von nichts anderem handelt als dem Missbrauch einer Heranwachsenden, eines Kindes im Körper einer jungen Frau.

Cohens Sprache, die vielen zu Papier gebrachten Gedanken des Mädchens, ihr Zwiespalt, ihre Faszination und ihren Ekel kann man mitunter kaum ertragen. Man versteht die kleine Marie, wie sie letztendlich von sich aus seine Nähe sucht, letztendlich sogar so etwas wie Eifersucht verspürt. Aber in letzter Konsequenz muss sie mit den katastrophalen Folgen leben, die sie wahrscheinlich nie bedacht hatte oder niemals ahnen konnte. Das genau ist der dunkle, gnadenlose Subtext in dieser einseitigen „Beziehungsgeschichte“: Die intellektuelle, natürlich toxisch maskuline Überlegenheit eines erwachsenen Mannes, der um seine Macht und seinen Einfluss und auch um seine Wirkung bei Frauen weiß. Geschickt wickelt er das Mädchen Marie ein, das letztendlich nur auf der Suche nach einer intakten, normalen Familie ist. 

Nun also hören wir die Worte von Marie aus dem Mund der Autorin, die keinen Hehl aus dem Offensichtlichen macht, dass sich hier zu einem großen Teil die eigenen Erfahrungen widerspiegeln. 

Da ist diese energische und kraftvolle – aber auch zerbrechliche und manchmal aufgeregte Stimme von Ute Cohen. Wenn man zu Ende gehört hat, wird einem klar, dass niemand Anderes als die Autorin dieses Buch hätte lesen können. Man kann sich einfach nicht vorstellen, dass eine geschulte und dazu vielleicht noch bekannte Stimme den Worten Maries mehr Glaubwürdigkeit und emotionale Tiefe hätte verleihen können. Ute Cohens Stimme ist eine sehr weibliche. Wenn Sie die Worte des Antihelden spricht, muss sie sich Mühe geben, den rauhen und männlichen Ton zu treffen. Im ersten Moment könnte man denken, dass sie damit etwas überfordert ist. Nach einigen Sätzen aber wird klar, dass Ekel und Schmerz sich gerade in den Sprechparts des Täters wiederfinden. Dort hört man Wut, manchmal sogar Hass, obwohl die Stimme des Mannes ja an Marie gerichtet ist.

Diese eigenwillige Hörerfahrung gibt vielleicht ungewollt wieder, wie dieses Buch letztendlich zu verstehen ist: Es ist Anklage und Befreiungsschlag in Einem. Es ist die deutliche Ansage der Autorin, dass sie zwar missbraucht wurde, aber nicht lebenslang ein Opfer ist. Sie hat ihr Schicksal selbst in die Hand genommen, nicht zuletzt indem sie darüber geschrieben hat. Marie ist keine eindimensionale und schwache Mädchenfigur, die unschuldig und gewaltdam in die Hand eines brutalen Vergewaltiger gelangt. Marie ist letztendlich immer ein selbstbestimmtes Kind gewesen, auch in den Momenten, wo sie es zulässt, dass der Bauunternehmer sie benutzt. Das im diesem Ungleichgewicht von Reife und Erfahrung der Missbrauch liegt, in dem der Täter genau diese Diskrepanz gnadenlos ausnutzt, konnte Marie nicht wissen. In ihrer Vorstellungswelt und ihrem Handeln ist Marie zwar Gefangene des Täters, aber sie ist auch Handelnde. Diese schwer zu ertragende Rollenverteilung macht das Buch so außergewöhnlich und ist in seiner rücksichtslosen Authentizität ein wahrscheinlich besserer und wirkungsvollerer Aufschrei gegen den Missbrauch von Kindern und Jugendlichen, als viele gut gemeinten Betroffenheitsberichte. Das Hörbuch zum Roman Satans Spielfeld, gelesen von der Autorin Ute Cohen, ist ein beachtliches und unbedingt hörenswertes Drama um Macht, erwachende Sexualität, Missbrauch und Vertrauensbruch. Und es ist ein Drama über die Suche nach Liebe. 

Dass Marie am Ende zwar kaum noch einen Ausweg weiß, mag der Dramaturgie des Romans geschuldet sein. Dass man aus den Missbrauchserfahrungen nicht unbedingt als lebenslang gedemütigtes Opfer hervorgehen muss, zeigt Ute Cohen selbst. Ihr ist es wahrscheinlich weitgehend gelungen, die Fesseln ihrer eigenen Kindheit und Jugend abzustreifen und über das Geschehene zu sprechen. Ganz nebenbei ist es ihr aber eben auch gelungen, eine ausgezeichnete Autorin zu werden. Nach dem Hörbuch muss man nun noch hinzufügen – sie ist auch eine sehr gute und einfühlsame Sprecherin. Mein Fazit: unbedingt kaufen und anhören.

  • Ute Cohen: Satans Spielfeld. Roman. Septime Verlag, Wien 2017. 214 Seiten, 21,90 Euro. – – Als Hörbuch: Gelesen von Ute Cohen. Regie: Franz Wassmer. Ungekürzte Lesung: 396 Minuten. Hörkultur Verlag, Kaltenbrunn 2019. 2 CDs, 17,90 Euro. Verlagsinformationen.

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