Geschrieben am 31. Dezember 2020 von für Highlights, Highlights 2020

Gerhard Beckmann: Meine Sachbücher 2020

Ein Jahr großartiger deutscher Biographien 

Biographien sind ein ganz besonderes literarisches Genre, in dem sich vor allem britische und amerikanische Autoren hervortun. In Deutschland ist es während der vergangenen ein, zwei Jahre geradezu aufgeblüht. Gelungene Biographien sind erzählerisch spannend zu lesen und geben historische Aufschlüsse, wie sie sonst selten zu finden sind. Darum werden sie von vielen gesucht und gern gelesen. Im auslaufenden Jahr haben mich fünf Biographien deutscher AutorInnen außergewöhnlich mitgerissen und beeindruckt – so sehr, dass ich sie weiterempfehlen und erklären möchte, warum sie so lesenswert und für lange Zeit von hohem Interesse bleiben werden.      

Ein  brutaler Gotenkrieger wird zum Friedensfürsten der römischen Spätantike

Er zählt zu den  wenigen bekannten Heerführern aus der Völkerwanderungszeit und er ist einer der großen Namen der Sagen- und Heldenepik des deutschen Mittelalters: Dietrich von Bern. Den heute rätselhaft wirkenden Namen verdankt er seinem Sieg über Odoaker, einen weströmischen Offizier germanischer Herkunft, der den Titel “König  Italiens“ führte. Dietrich errang den entscheidenden Sieg in der  Rabenschlacht (493) nahe Verona, Verona aber wurde damals weithin „Bern“ genannt.  Dieser Dietrich von Bern gehörte im hiesigen öffentlichen Bewusstsein bis in die 1950er/60er Jahre zu den Idolen eines verklärten heroischen Germanentums. 

Hinter ihm steht, wie bereits hochmitteltelalterliche Chronisten erkannten, faktisch Theoderich der Große (456-526). Die um ihn kreisende Heldenepik stellt ihn freilich nur selektiv dar, in einer Schmalspurfassung der historischen Geschehnisse, die alte mündliche  Überlieferungen auf eine Interessens- und Legendenperspektive gotischer Stämme verengt. Zur Erklärung der außergewöhnlichen, epochalen Leistung Theoderichs ist sie irrelevant. Dazu ist auch eine andere Deutungsschiene untauglich, die im 19.Jahrhundert aufkam und im NS-Rassismus kulminierte – nämlich „die Germanen“ als eine besondere, ethnisch hochwertige, kulturell eigenständige und politisch tatkräftige Völkergemeinschaft aufzubauen. Bis heute hat es an einer überzeugenden Antwort auf die zentrale Frage gefehlt:  Wie konnte aus einem brutal gewalttätigen ostgotischen Heerführer ein Friedensfürst werden, der auf dem schwankenden  Boden seiner Zeit ein über drei   Jahrzehnte neues, tragfähiges Staatsgebilde schuf und der römischen Spätantike die letzte goldene Zeit schenkte?

Die überfällige Antwort gibt jetzt der Erlanger Althistoriker Hans-Ulrich Wiemer. Er zeigt, wie Theoderich – Sprössling des Anführers eines gotischen Kriegerverbandes in hunnischen Diensten, der zum oströmischen Kaiser in Byzanz wechselte, wo der Junge in Geiselhaft bei Hofe als Prinz erzogen  wurde – nach dem, „ungeheuren Gemetzel“ der Rabenschlacht und der perfiden eigenhändigen Ermordung seines besiegten Rivalen Odoaker, also gewissermaßen mit einem Salto Mortale zum Diplomaten und bedeutendsten europäischen Staatsmann und Diplomaten seiner Zeit wurde, und wie ihm das gelingen konnte. 

Im Unterschied zu anderen, selbstherrlich auftretenden Germanenfürsten sicherte er sich die Legitimation durch den byzantinischen Kaiser. (Den Kaiser Westroms hatte Odoaker abgesetzt.) Damit gewann er gegenüber den römischen Eliten Italiens Autorität. Er ließ ihnen ihre Zivilgesellschaft, Verwaltung, Institutionen und Ämter. Und er schaffte das  Kunststück, sich mit dem  Papst zu verstehen (obwohl er, als Arianer, als Ketzer galt). Er achtete auch die jüdische Bevölkerung. Seine gotischen Gefolgsleute waren für die militärische Sicherung gegen äußere Feinde zuständig und lebten mit ihren Familien auf dem Lande in einer Welt für sich. Theoderich begründete, so Hans-Ulrich Wiemer, ein neuartiges Herrschaftssystem – „Integration durch Separation“. Es ist eine glänzend geschriebene Biographie, die uns eine bisher weitgehend verborgene Welt öffnet – und nebenbei auf Grund der neuesten Forschungslage außerdem eine neue Vorstellung der Völkerwanderung und eine Entmythologisierung „der Germanen“ vermittelt.

Hans-Ulrich Wiemer: Theoderich der Große. C.H. Beck,  München 2018. 782 Seiten mit 46 Abb. und 12 Karten, 34 Euro. 

Der letzte Universalkaiser des Mittelalters strandet in der Neuzeit    

Im November 1520 – vor fünf Jahrhunderten – wurde Karl von Habsburg im Dom zu Aachen vom Kölner Erzbischof zum deutsch-römischen Kaiser gekrönt. Er war der letzte Kaiser des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation, dem die Krone zudem – zehn Jahre später – von einem Papst aufgesetzt wurde. Damit war es dann auf Grund der Reformation und der Aufspaltung der deutschen Reichsfürsten  in Katholiken und Protestanten vorbei.

Das  Buch hat einen zusätzlichen Lese-Anreiz von Bedeutung. Es ersetzt  – endlich – das Standardwerk von Karl Brandi, das über fast acht Jahrzehnte das vorherrschende Verständnis dieses Kaiser definierte. Es  löst Karl V endgültig aus dem Rahmen des auf Österreich fixierten Habsburgermythos und bringt den kulturellen Reichtum Burgunds und Flanderns voll ins Bild, in dem Karl aufwuchs. Er zeigt ihn als neuartige Herrschergestalt über einen europäisch- überseeischen Weltraum mit dem Zentrum der Mittelmeer-Macht Spanien, das Karl – als erster und als einziger Habsburger – mitsamt seiner österreichisch-erzherzoglichen Erblanden in einer Hand hielt. 

Heinz Schilling macht Karl V. als singulären Player der europäischen Herrschaftsgebilde und dynastischen Verflechtungen, der Kriegsgeschehnisse und jener Entdeckungs- und Eroberungszüge mit ihrer Ausplünderung und Zerstörung deralten Kulturen Südamerikas sichtbar; deren unermessliche Schätze machten Spanien zum reichsten Machtstaat Europas. Mit Karl V. tritt erstmals der Typus des modernen Hegemons in Erscheinung, der sich -– allen erklärten universalen   Friedensabsichten zum Trotz – in der Verfolgung einzelstaatlicher Interessen permanent zu Militäraktionen gezwungen sieht. Auch deswegen scheiterte er in  den zwei Punkten, die er als seine persönliche Mission empfand: die Einheit der Kirche wiederherzustellen und das christliche Abendland gegen auf  Wien vordringenden Osmanen zu sichern.  

Sein Scheitern im ersten Herzensanliegen war nicht zuletzt auf römische Päpste zurückzuführen, die als Territorialherrscher der Renaissance mit  dem französischen Königtum paktierten und der alten mittelalterlichen Kirche auf dem Konzil von Trient schließlich eine  konfessionelle Engführung verpassten. Es ist geradezu anrührend, wie Heinz Schilling diesen Karl V. jenseits der üblichen religiös-säkularen Trennlinien wie  einen Glaubensbruder im Geiste Martin Luthers ins Dämmerlicht  des historischen Bewusstseins seiner Leser zu bringen sucht und damit auch die geistige und religiöse Integrität Karls zur Geltung zu bringen versteht. Vielleicht macht gerade das die Biographie als Schlüssel zu den Erschütterungen der frühen europäischen Moderne so überzeugend.                                                                                                                                                                                         

Heinz Schilling: Karl V., Der Kaiser, dem die Welt zerbrach. C.H. Beck, München 2020. 457  Seiten, mit 3 Karten und 40 Abb., 29.95 Euro. 

Eine Papstbiographie legt die heutige katholische Kirche als Erfindung des 19.Jahrhunderts bloß

Das römische Königreich der Ostgoten wäre ohne Theoderich nicht entstanden und ohne sein persönliches staatsmännisches Denken und Handeln auch nicht erklärbar. Das Zerbrechen Europas in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts wird für uns erst in einer neuen Darstellung des Lebens von Kaiser Karl V. voll ersichtlich und nachfühlbar. Biographien sind nicht deshalb wichtig, weil sie von großen Männern oder Frauen handeln. Sie sind beispielhaft, wenn in ihnen eine ganze Welt und Epoche wie in einem Prisma zur Anschauung kommt. So tritt in einer eben erschienenen Papstbiographie endlich die ganze Problematik der modernen römisch-katholischen Kirche klar in Erscheinung. Denn Pius IX, der von 1846 – 1868 amtierte,  hat vor genau hundertfünfzig Jahren die Kirche usurpiert und ihr die Verfassung eines totalitären Zentralstaats verpasst.  

Der Münsteraner Kirchenhistoriker Hubert Wolf hat Zugang zu bisher geheimen Vatikanarchiven gefunden. Sein Buch enthält die bislang gründlichste und schärfste Analyse der Kirche: Das Rom, mit dem wir es heute zu tun haben, repräsentiert keineswegs die 2000jährige christliche Tradition. Es ist vielmehr aus einem Verrat an dieser Tradition entstanden. Es ist eine Erfindung – das Konstrukt eines cholerischen, karriere- und machtbewussten skrupellosen Egomanen auf dem Heiligen Stuhl. 

Es scheint unglaublich. Am Nachmittag des 17. Juni 1878 wurde Kardinal Giudi von Pius IX. zu einer Privataudienz einbestellt, weil er es im Laufe der Diskussionen über das geplante Unfehlbarkeitsdogma gewagt hatte, darauf hinzuweisen, „dass der Papst aus prinzipiellen Gründen Glaubenssätze nicht allein definieren  könne. Die heilige Tradition der Kirche verlange vielmehr eine strikte Rückbindung des Pontifex an das Zeugnis der Gesamtkirche. Darum müsse der Papst, bevor er ein Dogma verkündet, unbedingt den Rat der Bischöfe einholen, ‚damit er erfährt,, was das Glaubenszeugnis der Gesamtkirche ist‘ und ob die infrage stehende Wahrheit wirklich ‚immer, überall und von allen geglaubt worden ist‘.“

„Pius IX war völlig außer sich. ‚Wer hat Sie gelehrt, der Sie von mir zum Kardinalat befördert und dabei aus dem Nichts herausgezogen worden sind, von der päpstlichen Unfehlbarkeit in einer Weise zu sprechen, wie Sie es getan haben? Also, nach Ihrer Meinung hängt ein Papst von den Bischöfen ab,  wenn er ein Dogma verkünden will?‘ Darauf Kardinal Giudi: ‚Heiliger Vater, ich bin bereit  zu verteidigen, was ich gesagt habe, denn ich habe nichts gesagt, was nicht mit der Lehre des Heiligen Thomas und Bellarmins übereinstimmt.‘ Der Bezug auf Thomas war damals ein Totschlagargument, galten doch die Aussagen des großen Theologen des Mittelalters gerade in den Augen von Pius IX. als wahr und damit nicht hinterfragbar. Das heißt: Was Thomas sagt, ist katholisch. Was Thomas  widerspricht, ist nicht katholisch.“

„‚Nein, das ist nicht wahr‘, ereiferte sich Pius IX. ‚Sie haben gesagt, und ich weiß es, dass der  Papst verpflichtet ist, für die unfehlbaren Dekrete die Tradition der Kirche  befragen zu müssen, und das ist ein Irrtum.‘ Kardinal Giudi: ‚Es ist wahr, dass ich das gesagt habe. Aber es ist kein Irrtum.‘ Darauf der Papst, erregt: ‚Doch, es ist ein Irrtum. Denn ich bin die Tradition. Ich bin die Kirche.‘“

Wie aus solchem dogmatischen Absolutismus eine generelle Mentalitätskontrolle zur Abwehr alles Modernen erwuchs, wie der Vatikan ein zentrales kanonisches Recht einführte, das die Ortsbischöfe  entmachtet und in einer stillen, von der Mehrheit nicht gleich bemerkten Machtergreifung unter dem Schirm des nur selten umgesetzten Unfehlbarkeitsanspruchs in der Lehre Glauben und Leben der katholischen Laien zu deichseln sucht – diese Biographie macht die systematische Verfälschung alter katholische Traditionen seit Pius IX s klar. Sie ist für ein Verständns des heutig Rom unentbehrlich .         

Hubert Wolf: Der Unfehlbare. Pius IX. und die Erfindung des Katholizismus im 19. Jahrhundert. C.H. Beck, München 2020. 432 Seiten, 28 Euro.

Die Bedeutung von wissenschaftlichem Denken für die gesellschaftliche Entwicklung der Neuzeit 

Das Buch präsentiert die herausragende Lebensbeschreibung einer Frau. Es handelt sich zudem um die Angehörige einer verachteten und grausam verfolgten Minderheit, von der in ganz Europa während der Zeit zwischen 1500 und 1700 ungefähr 73.000 Personen hingerichtet wurden. Dementsprechend ist hier auch die Zielsetzung und die Form der Biographie eine gänzlich andere als bei herrschaftlichen Gestalten. Sie erfasst ein kleines Zeitfenster des Lebens der portraitierten Personen mit mikroskopischen Genauigkeit so anschaulich und präzis, dass ein sozusagen ein hochindividuelles repräsentatives Gruppenbild entsteht.  Es geht hier ganz konkret um die Witwe Katharina Kepler, die von Mitbürgerinnen und -bürgern im württembergischen Leonberg der Hexerei beschuldigt wird und  zuletzt neun Monate unter Androhung von  Folter mit einer Kette an den Boden ihrer Gefängniszelle gefesselt ist. Am Ende wird sie freigesprochen. 

Den Freispruch verdankt sie ihrem Sohn Johannes Kepler, einem der berühmtesten Astronomen und Mitbegründer der modernen Wissenschaft, der auf einem Höhepunkt seiner Karriere seine Forschungsarbeiten ungefähr ein Jahr lang unterbricht, um der Mutter in ihrer fast aussichtslosen Lage zu helfen, mit Erfolg. Die ständige Notwendigkeit, sich eigenen – wissenschaftlichen, religiösen und politischen – Gegnern zu stellen, haben ihn für die größte Herausforderung seiner Karriere vorbereitet. Sein Erfolg beruhte nicht zuletzt auf „einer robusten Fähigkeit, sich in Streitgesprächen zu behaupten, indem er eisern an einer schlüssigen Argumentation festhielt und alle Vorwürfe Punkt für Punkt widerlegte“. Kepler hat in Deutschland als erster demonstriert, wie Debatten über Beweise und über Gerechtigkeit geführt werden müssen. Es hat das Ende der Hexenprozesse eingeleitet. 

Auf Grund der umfangreichen erhaltenen, bislang nie umfassend ausgewerteten Gerichtsprotokolle und Aufzeichnungen Johannes Keplers aber hat Ulinka Rublack den Charakter, das Leben und die Lebenswelt seiner Mutter erschließen können, bei der nicht einmal oberflächliche Anzeichen von Zauberei auszumachen sind. (Ein noch immer höchst notwendiges Forschungsergebnis, wie andauernde Fehleinschätzungen in der Literatur  bis in unsere Tage  erkennen lassen.)  

Auf der anderen Seite hat die Autorin in diesem Zusammenhang neues, minutiöses Bild des Wissenschaftlers Johannes Keplers in allen Verwicklungen seines Lebens, Forschens und Denkens zu zeichnen – das Bild eines Wissenschaftlers, der keineswegs nur wissenschaftlich und rational vorging, sondern zugleich auch durch Fantasien, Träume und religiöse Glaubensinhalte geprägt war.  

Ulinka Rublack hat Johannes Keplers Verteidigung seiner Mutter im Hexenprozess von 1620/21 als bahnbrechendes wissenschaftliches und gesellschaftpolitisches Ereignis dargestellt. Ihr Buch stellt eine Pionierleistung der Geschichtsschreibung dar. Darum ist sie in diesem Jahr mit dem Historikerpreis des Historischen Kollegs für ein Geschichtswerk ausgezeichnet worden, „das wissenschaftlich Neuland erschließt, über die Fachgrenzen hinaus wirkt und in seiner sprachlichen Gestaltung vorbildhaft ist“.

Ulinka Rublack ist die Tochter eines namhaften deutschen Reformationshistorikers aus Tübingen, die als Professorin für die Europäische Geschichte der frühen Neuzeit an der  Universität Cambridge forscht und in einem wunderbaren Englisch schreibt. Ihr Buch ist von Hainer Kober vorzüglich ins Deutsche übersetzt worden.   

Ulinka Rublicka: Der Astronom und die Hexe. Johannes Kepler und seine Zeit (The Astronomer and the Witch. Johannes Kepler´s Fight for his Mother, 2015). Aus dem Englischen  von Hainer Kober. Klett-Cotta, Stuttgart 2018.   410 Seiten, 2 Karten und 41Abb., 26 Euro.

Eine sensationelle biographische Recherche zur Hitler- und deutschen Nachkriegsgeschichte

Die Dokumentarfilmerin Nina Gladitz ist als Autorin einer grundlegenden „zeit- und filmhistorischen Studie“ hervorzuheben. „Sie stellt so gut wie alle Biographien in den Schatten, die sich nach dem Zweiten Weltkrieg mit der Rolle und mit der Filmarbeit Leni Riefenstahls befassten“, schreibt Albrecht Götz von Olenhusen – einer der führenden deutschen Medienrechtler und Riefenstahl-Experten – im Nachwort. „Ich hege keinen Zweifel, dass die meisten bisherigen Biographien neu zu schreiben und von Grund auf zu revidieren sind, jede neue Darstellung über Filmgeschichte und Riefenstahl vor und nach 1933 wird an diesem opus magnum und seinem fundierten Ertrag nicht vorüber oder zum {business as usual} zurückkehren können.“

Das bis heute öffentlich maßgebliche Bild der Biographien zeichnet Riefenstahl als eine „innovative Filmmacherin und kreativem Ästhetin“, die während der Nazi-Zeit politisch unbedarft oder gar naiv war und von den Gräueln des Regimes nichts gewusst hatte, weil sie auch bei ihren berühmten Filmen über den Nürnberger Reichsparteitag und die Olympischen Spiele von 1936 nur der  Kunst und der Schönheit diente. Es ist genau das Bild, das sie von sich nach 1945 selber in die Welt setzte, in zahllosen Prozessen gegen jede Art von Kritik verteidigte und in ihren Memoiren von 1987 glorifizierte. 

Wie Nina Gladitz zeigen und belegen kann, ist dieses Bild jedoch grundfalsch. Riefenstahls Filme ab den mittleren 1930er Jahren waren von den propagandistischen Interessen und dementsprechend verfügbaren  Mitteln des NS-Regimes abhängig. Es war auch in anderer Hinsicht nicht die Kunst, der sie sich verschrieb. Sie war nämlich immens habsüchtig, auf materiellen Vorteil bedacht und höchst erfolgreich, weil sie mit Hitler persönlich intim war, der in ihretwegen einmal sogar Goebbels in die Knie zwang. Ihr während der NS-Zeit gedrehter aufwendiger Film Tiefland war noch rassistischer als Veit Harlans notorischer Jud Süss. {Sie hat ihn 1945 zerschnitten und zu einer harmlosen Alpenlegende umgemodelt.).Kurzum., sie gehörte zum innersten Kreise Hitlers und war dessen international nachhaltig erfolgreichste Propagandistin.  

Leni Riefenstahl war auch keine “innovative Filmemacherin“  und „kreative Ästhetin“. Denn was an ihren Filmen schöpferisch neu war, hat  sie bei dem möglicherweise filmisch bedeutendsten in Deutschland verbliebenen Kameramann abgekupfert. Dabei handelt es sich keineswegs um bloße Plagiate. Diesen Willy Zielke hat sie zuerst als Konkurrenz ausgeschaltet, indem sie ihn für geisteskrank erklären und in einer Anstalt unterbringen ließ, um ihn dann bei Bedarf  – ohne Vertrag, ohne Honorierung –  für eigene Filmprojekte einzuspannen, wenn sie nicht weiterwusste.

Nicht genug damit: Sie hat Sinti und Juden für Dreharbeiten benutzt, die anschließend an Lager und KZs  ausgeliefert wurden. Leni Riefenstahl war also zu alledem auch noch eine Kriegsverbrecherin. (Als solche wollten die Franzosen sie nach 19465 vor Gericht bringen. Die Amerikaner haben es verhindert.) 

Die bisher bekannte “Biographie“ Leni Riefenstahls ist also reine Lüge und nichts als “Mythos“. Den hat Nina Gladitz nach jahrzehntelangen Ermittlungen nun entlarvt, dies in einem biographischen Recherche-Krimi, der seinesgleichen sucht. Er wirft nicht zuletzt auch die Frage auf, wieso es bisher eigentlich keinen deutschen Historiker oder Filmwissenschaftler mit einer  “richtigen“ Leni-Riefenstahl-Biographie gegeben hat. Oder: Warum eine offenbar hemmungslos auf Macht, Geld und Fortune setzende femme fatale die Nazis und die deutsche Öffentlichkeit über siebzig Jahre nach Ende des Nazi-Reichs so hinters Licht führen konnte.   

Nina Gladitz: Leni Riefenstahl. Karriere einer Täterin. Orell Füssli Verlag, Zürich 2020. 432 Seiten, 25 Euro.

Gerhard Beckmann ist eine der profiliertesten Menschen der deutschen Verlagsszene. Seine Kolumne „Beckmanns Große Bücher“ im „BuchMarkt“ stellt kontinuierlich wirklich wichtige Bücher mit großer Resonanz vor. Seine Texte bei uns hier.