
Bemerkungen zum deutsch-österreichischen Kleinbürger und dem „Wir“ davor
Georg Seeßlen / Markus Metz: Wir Kleinbürger 4.0 / Die neue Koalition und ihre Gesellschaft. Edition Tiamat, Berlin 2021. ISBN: 9783893202829 —

Ich bin voreingenommen. Ich kann problemlos jedes Buch von Georg Seeßlen und Markus Metz lesen. Genau das tue ich seit Jahren. Diese Bücher sind Meere des Denkens, auf denen meine in jahrzehntelangem Gebrauch von Gefühl und Verstand gesammelten Erfahrungen in Navigation sich nach Lust und Laune ausbreiten können. Schiffbrüche und Beinbrüche inklusive. Man kann von einem Immer-Leser wie mir keine dem geläufigen Rezensionsgewerbe kompatible Beurteilung erwarten, eigentlich gar keine Beurteilung. Außer vielleicht ein bißchen.
In „Wir Kleinbürger 4.0″ wird gleich auf der ersten Textseite (Seite 7) ein weites Feld zwischen »Zynismus« und »Ironie« aufgemacht – und sofort wieder verworfen. Es geht um die Vorhersage der beiden Autoren, daß die neue Staatsregierung der Republik ein Pakt aus „altem“ und „neuem“ Kleinbürgertum sein wird, vor allem, um die »prinzipielle Harmlosigkeit« einer so klug und fein ausbalancierten Regierung auch überregional zu garantieren, was regional ja schon hinreichend als machbar bewiesen wurde. »Da wächst scheinbar etwas wieder zusammen, was nie so weit getrennt war, wie es sich oberflächlich angefühlt hat. Man kann das bewerten, irgendwie zwischen Zynismus, Ironie und gedämpfter Hoffnungsfreude. Wir versuchen es zu verstehen.«
Auf der nächsten (Seite 8) folgen Sätze / Fragen, wie sie besser nicht sein könnten: »Sind wir Kleinbürger für die Weltwirtschaft so unbedeutend geworden, daß man uns getrost die politische Führung überlassen kann? Wir sind, da können Sie jede*n fragen, zugleich der letzte Dreck und das Maß aller Dinge.« Und schon hat man es doch betreten, das eigentlich nicht gewollte Feld zwischen den Göttern Zyni und Iro. Was mich persönlich betrifft, hab ich da keine „Einwände“, aber ich bin mir nicht sicher, ob die Autoren sich auf diesem Feld tatsächlich wohlfühlen können, denn wenn man die Frage ernst nimmt und mit JA beantwortet, ist das Buch bereits beendet, bevor es angefangen hat.
Wie auch immer, dieses nicht gewollte, der eigenen schwankenden Haltung nur vermeintlich (oder doch echten?) Halt gebende Argumentationsfeld führt alle paar Seiten zu ebenso lustigen wie bemerkenswerten Definitionspassagen (Seite 18): »Kleinbürger ist eine Zuschreibung, die sich aus ökonomischen, sozialen, kulturellen und manchmal auch durchaus politischen, moralischen und diskursiven Parametern ergibt.« (Seite 19): »Weil sie nicht wissen, wer und wo sie sind, tendieren Kleinbürger dazu, zwischen Größenwahn und Minderwertigkeitsgefühlen zu taumeln. Wenn das Sein das Bewusstsein bestimmt, wogegen Kleinbürger gelegentlich Einwände erheben, dann bestimmt bei Kleinbürgern ein unsicheres ökonomisches Sein ein schwankendes Bewusstsein.«
Auf Seite 49 folgt: »Dass die Kritik des Kleinbürgertums selber nur von Kleinbürgern stammen kann und daher selber immer auch kleinbürgerlich ist, setzt eine Endlosspirale in Gang, die wir schließlich gar „Kultur“nennen. Niemand braucht so dringend Kultur wie Kleinbürger, und niemand muss sich vor Kultur so fürchten.«
Es macht Spaß, sich selbst als Kleinbürger zu benennen, obwohl man im eigenen Haus nicht mal Schlaf- und Wohnzimmer trennt, fast keine Türen duldet und auch keine einzige Schrankwand bewirtschaftet. Stattdessen stapeln sich überall Bücher, Schallplatten und was man als Sonstiges bezeichnen kann, die Fenster werden immer blickdichter, und neben der Wohnungsklingel mit fast vollständig verblasstem Namensschildchen hängt ein beachtenswertes Zitat von der ansonsten eher kaum Denken anbietenden Anais Nin (aus der Erinnerung): »Es gibt Wohnungen, in denen der Staub glänzt. Wohnungen von Leuten, die Wichtigeres zu tun haben als aufzuräumen.« Ob sowas irgendwelche soziologischen oder mentalen „Zuschreibungen“ rechtfertigt, weiß ich nicht, aber mit „Zuschreibungen“ dieser Art zu arbeiten, führt nicht sehr weit, das weiß ich.
Da die Grünen – in ihren Mentalitätsschüben, aber auch als durchorganisierte immer mehr auf Linie gebrachte politische Partei – selber immer mehr nach Rechts rücken, hätte man das lustige Kommentieren der rechten Kritiken und Polemiken gegen die Grünen grad so gut unterlassen können. Viel wichtiger ist, darauf hinzuweisen, daß es von Anfang an eine völkische Unterströmung in den grünen Mentalitäten gab. Das konnte ein paar Jährchen zurückgedrängt werden, kommt aber jetzt, in den Endzeit-Verteilungskämpfen, in die wir gerade hineinstolpern, wieder zurück und zum Vorschein.

Die beiden Autoren schreiben den Grünen noch immer Umwelt- und Klimapolitik-Kompetenz zu. Zumindest sprechen sie ihnen dieses alte Selbstbildnis nicht ausdrücklich ab. Das ist nicht mehr haltbar. Sie geben aber eine plausible Diagnose vom Ökospießer und grün-völkischen Kleinbürger, und die liest sich gut, bleibt am Ende aber in Andeutungen stecken.
Seite 247-248: »Aus der eigenen Biographie schließen Kleinbürger und Kleinbürgerinnen, dass die Arbeit am Bewußtsein ausreichend für Veränderung sorgen wird. Dabei wird das eigene Leben zur Echokammer dieses Anspruchs; umso weniger die äußere Welt sich ändern mag, umso rigider gestaltet man die innere.
Der „Ökospießer“ wurde zur festen Figur, in der Polemik von Rechtspopulisten wie von Marktradikalen, aber auch in der populären Mythologie, etwa in einem „Tatort“ mit dem Titel „Das ist unser Haus“ (2021), wo in der „Wohnoase Ostfildern“ ein Mord geschieht, obwohl das in der harmoniesüchtigen Stuhlkreis-Gemeinschaft eigentlich gar nicht sein darf. Was deutlich wird: Diese Gemeinschaft be- und entsteht aus Ausschlussverfahren gegenüber Menschen, die in das Haus einziehen dürfen oder auch nicht, auch wenn das in „gewaltfreier Sprache“ und unter Vermeidung von „selbstabdichtendem Kommunikationsstil“ geschieht. Man ahnt, was „Totquatschen“ in letzter Konsequenz sein kann.
Ein Grundwiderspruch in der Kultur des linksliberalen westlichen Kleinbürgertums kam mit bemerkenswerter Deutlichkeit in der Debatte um die „Cancel Culture“ zum Ausdruck. Mit anderen Widersprüchen in diesem Segment hat auch dieser die prinzipielle Unlösbarkeit und Unversöhnbarkeit gemein. Eine „fundamentalistische“ Sicht besagt, dass jemandem, der sich in Wort und Geist gegen die Regeln der humanistischenn Demokratie vergangen hat, und sei’s unter dem Deckmantel der Ironie, die Bühne für seine Auftritte und die Medien für seine Botschaften verweigert werden müssen. Die nicht minder fundamentalistische Gegenposition verlangt eine umfassende Toleranz und jegliche Garantie von Freiheit für die Andersdenkenden oder auch die „Frivolen“, die mit den Codes und Verboten ihre Scherze treiben. Weder scheint es hier „Kompromisse“ oder Mittelwege zu geben noch etwa sinnvolle Metatheoreme, die den Widerspruch, wenn nicht lösen, so wenigstens erklären könnten. Die Kultur von Dürfen und Verbieten gerät an ihr makabres Ende.«
Die Grünen stecken tief in der Ökologie und entdecken gerade das darin eingebettete Thema Heimatschutz – und werden brauner. Die Braunen stecken tief im Heimatschutz und entdecken gerade das darin eingebettete Thema Ökologie – und werden grüner. Nette Annäherungen. Nur beim „Canceln“ wird man noch lange aufeinander einprügeln, nicht weil man grundsätzlich was gegen das Wegzensieren hätte, sondern nur, weil man sich über die wegzuhauenden Personen und andere klein(lich)e Details nicht einigen kann. Aber da geht noch was. Nur eine Frage der Zeit.

Über diese auf den Seiten 247 / 248 wohlformulierten Hinweise zur neo-grünen, neo-totalitären (und inzwischen auch grenzüberschreitenden) Mentalität muß man hinausgehen und weiterdenken, denn beim Makabren wird es nicht bleiben. Ich weiß, daß die Autoren mittlerweile an anderen Stellen mit mehr Weitsicht argumentieren und beispielsweise darauf hinweisen, daß und wie wir ins Zeitalter der Verteilungskämpfe eingetreten sind. Und man muß inzwischen hinzufügen: in das der finalen Verteilungskämpfe. Nur wer aus diesen Kämpfen als Sieger hervorgeht, wird eine Zukunft haben, alle anderen werden zu Unbrauchbaren degradiert und auch so behandelt. Was genau das bedeutet, wird offen gelassen. An der Stelle bricht das Buch in das Eis ein, von dem vorher immer wieder gesagt wurde, es sei keins – (die Klasse der Kleinbürger, die nicht eine ist). Kleinbürgerliche Abgrenzung nach Rechts funktioniert nicht, hat nie funktioniert. Auch grüne Kleinbürgerlichkeit wird es nicht schaffen, sich nach Rechts abzugrenzen. Verteilungskämpfe können nicht mit einem emanzipatorischen Bewußtsein ausgefochten werden.
Man kann an der zitierten Passage gut erkennen, daß das Buch überwiegend vom deutschen Kleinbürger handelt und von den totalitären Phantasien der deutschen Grünen. (Unausgesprochen vom deutsch-österreichischen Kleinbürger.) Zu klären wäre, ob nicht auch das Mainstream-Establishment mit den völkisch-grünen Allmachtsphantasien sich symbiotisch vereinigt. Nicht zuletzt, um sich in den Verteilungskämpfen eine vorteilhaftere und kräftigere Aufstellung zu verschaffen.
Die französischen, englischen, holländischen, norwegischen Kleinbürger sind mit der deutschen Mentalität nicht kompatibel. Der deutsch-österreichische Kleinbürger war immer der gefährlichste Europas, wenn nicht der gefährlichste der Welt, und ist es bis heute. Das hat damit zu tun, daß eben dieser deutsch-österreichische Kleinbürger (und kein anderer) den seitdem ebenso weltberühmten wie unsterblichen Nazionalsozialismus erfunden hat. Die italienischen Kleinbürger können für sich in Anspruch nehmen, den Faschismus erfunden zu haben, aber das ist was anderes.
Die Disposition des deutsch-österreichischen Kleinbürgers wird in „Wir Kleinbürger 4.0″ sehr genau beschrieben und analysiert. Allein deswegen –auch wenn ich etwas zögerlich bin, weil ich den Autoren zufolge mich ja nie von meiner persönlichen Kleinbürgerherkunft werde lösen können und daher immer damit rechnen muß, daß ich die schwankende Inkonsequenz meines Bewußtseins oft mit banalen Radikalismen zu überdecken versuche –, sind diesem derzeit auf dem Buchmarkt einzigartig dastehenden Text Millionen Leser, Leserinnen und darüber hinausgehendes Publikum zu wünschen. Was natürlich nicht eintreten wird, denn Kleinbürger wollen nicht lesend über sich selbst belehrt werden. Das kompliziert meine Leseempfehlung etwas, aber vielleicht hat das Buch ja Glück und das mit der beschädigten und einschränkenden Herkunft stimmt doch nicht so ganz; wäre einfach zu deprimierend.
Die am Schluß des Buches angebotenen Prophezeiungen liegen gründlich neben der Realität, wie man inzwischen (nach der Bundestagswahl) weiß. Warum? Weil so etwas wie das hier zu den eher gefährlichen Illusionen gehört (Seite 274): »Die Kultur des Selbstbetrugs und der Selbstgefälligkeit des neuen und alten Kleinbürgertums bedarf dringender denn je struktureller Störung.« Strukturelle Störung, was soll das sein? Oder (Seite 280): »Das Kleinbürgertum rettet den Kapitalismus, weil es sich vom Kapitalismus die Rettung des kleinbürgerlichen Subjekts erhofft.« Was ist das kleinbürgerliche Subjekt? Diese Frage bleibt unberücksichtigt, folglich unbeantwortet. Würde man einen gesamteuropäischen Blick entwickeln – sehr sehr schwierig –, könnte man jetzt schon einige verblüffende Details erkennen. Zum Beispiel die schrittweise Akzeptanz der alten / neuen Atomenergie durch die Neo-Grünen. Entweder das grüne Europa-Projekt zerschellt daran oder man definiert sich einfach um und grenzt die Alt-Grünen einfach aus. Was die wahrscheinlichere Variante ist. Die Grünen werden sich in eine rechte Bewegung verwandeln. Und genau dort hinein rettet sich das in sich gespaltene Kleinbürgertum, um die Bewußtseinsspaltung (Subjektspaltung) final zu beenden. Garantiert auch mit Gewalt. Gegen sich selbst und gegen die Abweichler zugleich.
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Nachtrag in eigener Sache (Ich – der Kleinbürger) —
Dieses Buch durchdacht und geschrieben zu haben, wie die Autoren, und dieses Buch gelesen und mit einigermaßen angemessenem Nachdenken aufgenommen zu haben, wie ich, allein das setzt einen schon von der Kleinbürgerei ab, oder? Es wäre beruhigend, wenigstens ein bißchen. Vielleicht sogar ein bißchen mehr als fehlende Zimmertüren und unsichtbare Schrankwände.
Man kommt aus dem Denken gar nicht mehr raus.
© 2021, Felix Hofmann
Felix Hofmann bei uns. Die Frist – sein Journal für kritisches Denken auf dem Onlinemagazin getidan hier.