Geschrieben am 31. Dezember 2021 von für Highlights, Highlights 2021

Felicitas Korn, Hella Kothmann, Krazy

© Barbara Rohm

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Felicitas Korn: Glückliche Momente

Das war also das zweite Corona-Jahr. Als zum letzten Jahreswechsel endlich die erste Impfwelle lostrat, hofften viele, dass der Spuk nun vorbei gehen möge. Seit die Bundeswehr im Februar 2020 allerdings mehr als 100 Familien aus Wuhan nach Deutschland zurückbringen ließ, Brasilien den Gesundheitsnotstand ausrief und die WHO im März 2020 den COVID-19-Ausbruch zur Pandemie erklärte, stand die Wahrscheinlichkeit im Raum, dass wir noch Jahre mit dem Virus zu tun haben werden. Leider ist dem jetzt so, und auch mir geht langsam die Puste aus. 

Es erfordert Disziplin, auch weiterhin Vernunft und Zuversicht zu bewahren und die kleinen Dinge wertzuschätzen, wenn das Leid plötzlich täglich, stündlich, minütlich an die Tür klopft. Gerade für uns, die wir in Deutschland sonst recht sicher zu leben gewohnt sind, stellt dies eine ungeübt große Herausforderung dar. Mein Rezept dafür, wie es in wackligen Phasen eigentlich auch schon vor Corona war, besteht aus den folgenden Zutaten:

1. Sich auf die eigenen Projekte und Leidenschaften konzentrieren. So habe ich dieses Jahr nach eineinhalbjährigem Corona-Stopp endlich den Dreh zu meinen Kinospielfilm  „Partynation“ (die Verfilmung meines Romans „Drei Leben lang“) abschließen können. Aktuell sind wir mit dem Film in der Postproduktion, parallel arbeite ich an der nächsten Geschichte und bereite eine Regiearbeit für das ZDF für nächsten Sommer vor. Mir gibt es Kraft, die eigenen Visionen zu verfolgen und im Austausch mit den vielen anderen, im kreativen Prozess involvierten Köpfen zu verfeinern.

2. Die schönen Dinge des Lebens, die man schnell übersieht, im Blickfeld behalten. So hat mich der Herbst dieses Jahr erfüllt wie lange nicht mehr. Obwohl ich kaum aus der Stadt entfliehen konnte, bemerkte ich bei jedem Spaziergang in meinem Viertel das faszinierende Farbspiel der Bäume, den Tanz des Laubs, die Freude der Kinder an den Kastanien und erinnerte mich des öfteren an das wunderbar schlichte und ebenso wirksame: „Breathe in, breathe out“.

3. Sich um die eigene Gesundheit kümmern. Der Punkt klappt bei mir leider nicht gut. Schon immer besitze ich große Selbstbeherrschung in allen Verpflichtungen, und wenig in dem, was ausschließlich mir zugute kommt. Das ist also mein Vorsatz fürs nächste Jahr. Und wer einen wirklich funktionierenden Trick weiß, wie man sich zum Sport bewegen kann, gesundem Kochen und ausreichend Schlaf, wenn man alles andere für dringlicher hält, bekommt eine Trophäe von mir. 

4. Gute Filme und Serien gucken. Tja, da wären so einige. Und dann auch wieder nicht. Was reißt einen schon ehrlich vom Hocker? Was vermag einen noch im Herzen zu berühren? Vielleicht, wer starke Charakterzeichnung mit einer schillernden Frauenfigur und ein wenig Historie mag: „Das Damen-Gambit“. Oder, wer nach einer wahren Begebenheit eine 15-köpfige Feuerwehreinheit tragisch gegen die Übermacht der Natur kämpfen sehen will und tiefe Ergriffenheit nicht scheut: „No way out – gegen die Flammen“. Oder wenn verschlossene Herzen mal wieder geöffnet werden wollen: „St. Vincent“. Oder und alle Jahre wieder der Wohlfühl-Movie schlechthin zur Weihnachtszeit: „Tatsächlich Liebe.“  

5. Last but not least: Sich Zeit für die/den Liebste/n, Freunde*innen und Familie nehmen. Dafür bietet sich dieser Jahreswechsel meines Erachtens wieder besonders gut an. Und sei es „nur“ durch ein paar aufrichtige Zeilen ganz old school auf echtem Papier, oder ganz modern per Videocall beim gemütlichen Tee oder ganz nahbar im gemeinsamen Marsch an der winterlichen Luft. Ich schätze mich glücklich, derartige Momente erleben zu dürfen, und wünsche uns allen, nicht nur in den diesjährigen Rauhnächten, jede Menge davon.

Felicitas Korn ist Autorin, Drehbuchautorin und Regisseurin. Ihr Roman-Debüt Drei Leben lang erschien beim Kampa Verlag. Besprechung von CulturMag-Co-Herausgeber Alf Mayer hier: Radikalität des Entwurfs. Aufgefallen war die Autorin ihm erstmals 2006, damals war er Direktor der FBW, Deutschlands ältester Filmförderungsinstitution, die die Prädikate „wertvoll“ und „besonders wertvoll“ vergibt. Felicitas Korns Film „Auftauchen“ erhielt das Prädikat „wertvoll“ (oft das Kennzeichen für einen kontrovers diskutierten, aber hochinteressanten Film). Jetzt endlich ist ein neuer Film im Werden.

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Hella Kothmann: Vietnam 2021

Im Jahr des Büffels, pandemiegebeutelt, unerreichbar wie eine ferne Chimäre. 

In der Zwischenzeit: Kopfreisen mit Exilvietnamesen aus Montreal, New York und Los Angeles. Und Wiedererkennungsmomente in Hanoi und Ninh Hoa.

Vietnam wird immer mit dem Krieg verbunden sein. Aber in oberflächlicher Weise für eine Generation, die Vietnam nicht bewusst erlebt hat, und die es heute lediglich mit perfekten Stränden und ein paar Hollywoodfilmen assoziiert. 
Wer erinnert sich noch an Details? 
An  Operationen mit Namen Rolling Thunder, Ranch Hand, Babylift, White Christmas und Frequent Wind. An Pinkville. Hamburger Hill.
Die Trauer des Krieges wird niemals enden, prophezeite der vietnamesische Schriftsteller Bao Ninh bereits 1992.

Kim Thúy wirft in Großer Bruder, kleine Schwester eine Handvoll Fäden in die Luft und verknüpft sie mit eindringlichen Momentaufnahmen aus Vietnams Geschichte von der Kautschukplantage der Kolonialisten bis zu den Nagelstudios der Gegenwart. 

An einem eher nebensächlichen Ausschnitt eines Fotos (es ist von Ron Haeberle) vergegenwärtigt sie das Grauen von My Lai. Eine junge Frau, die „den letzten Knopf ihrer Bluse festhält … ein Dreieck ihrer Haut direkt über dem Nabel … zerknitterte, staubige Kleidung … Sie fiel zu Boden, bevor sie den Kopf heben und ins Objektiv blicken konnte.“

Die Autorin sieht Erinnerung als eine Möglichkeit des Vergessens. „Die Wahrheit in diesem Buch ist zerstückelt, lückenhaft, unvollendet“, schreibt sie.  Aber die Bruchstücke der Wahrheit übertreffen jede Phantasie. Nicht zufällig beendet Kim Thúy ihr Fadenspiel mit dem Kapitel „Kalter Krieg“.

Kim Thúy: Großer Bruder, kleine Schwester, 145 S., aus dem Französischen von Brigitte Große, Antje Kunstmann Verlag, München 2021.

Auch bei Ocean Vuong sind Krieg und Verlust immer präsent. Nach seinem schmerzlich schönen Romandebüt Auf Erden sind wir kurz grandios wird es in Kürze nach Nachthimmel mit Austrittswunden (T.S. Eliot Prize) einen weiteren Gedichtband geben: Zeit ist eine Mutter. Vormerken!

Ocean Vuong: Nachthimmel mit Austrittswunden. Gedichte, 232 S., zweisprachig aus dem Englischen von Ann-Kristin Mittag, Hanser Verlag, München 2020. 
– Zeit ist eine Mutter. Gedichte, 128 S., zweisprachig, aus dem Englischen von Anne-Kristin Mittag, Hanser Verlag, München 2022. 

Der Sympathisant von Viet Thanh Nguyen war ein Bestseller. Die von seinen Lesern ungeduldig erwartete Weiterführung Die Idealisten schien vielen dann doch zu irreal, zu überfrachtet. Zweifellos ein verstörendes Buch, Splatter, Delirium, Abschweifungen. Das ist kein Buch, das man mag, aber man muss es gelesen haben.
Mehr dazu von Robert Wilson und Thomas Wörtche im CulturMag (Mai und Juli 2021). 

Viet Thanh Nguyen:  Die Idealisten. 496 S. Aus dem Englischen von Wolfgang Müller. Blessing Verlag, München 2021. 

Auch Langnasen können Vietnam. Veronika Radulovic und Annette Bhagwati haben mit Don’t call it Art! ein immens wichtiges Buch zur Kunstszene in Vietnam der frühen 1990er Jahre herausgebracht. Eine Fundgrube.
Doi Moi, die Öffnung Vietnams 1986, sollte eine Erneuerung sein. Angedacht waren wirtschaftliche Reformen, eine Öffnung gegenüber dem Westen, aber Kultur? Die durfte das nationale Selbstverständnis keineswegs untergraben. Die Kunst- und Literaturszene hatte es schwer in dieser Phase. Bücher (Bao Ninh) wurden gedruckt und verschwanden vor der Auslieferung im Keller, Ausstellungen eröffnet und noch bevor der letzte Gast erschienen war, die Bilder wieder abgehängt. 

Alles, was unkonventionell war, war suspekt. 

Die von Radulovic porträtierten Künstler  – Nguyen Minh Thanh, Nguyen Quang Huy, Truong Tan und Nguyen Van Cuong –  waren alles andere als kreative Pioniere mit der Vorgabe die Modernisierung des Landes zu befördern. Sie wollten ihre Auffassung von Kunst zeigen, jedoch die Vertreter der staatlichen Artists Association forderten: Don’t call it Art!

Das Buch ist eine opulente Schau in Bildern und Dokumenten, witzig und informativ, ein beredtes Zeugnis der Aufbruchstimmung in Hanoi. Es ist dem unerschrockenen Engagement von Veronika Radulovic,  1993-2006 Gastdozentin  der Kunsthochschule Hanoi, zu danken, dass sich diese Künstler entwickeln und von der Doktrin der Kulturkader befreien konnten.  Ihre Werke kann man heute in namhaften Museen in Tokio, Singapur und New York finden.

Annette Bhagwati, Veronika Radulovic (Hg.):  Don’t call it Art! Contemporary Art in Vietnam 1993-1999. Englisch. Kerber Verlag, Bielefeld/Berlin 2021. 432 S., 1222 farbige und 94 sw Abb.

Film zum Abschluß – EIN HAUS IN NINH HOAH
Eine Dokumentation. Wieder eine Suche nach Identität. Vietnamesischer Alltag, unspektakulär und normal. 
Vietnam bis ins Mark.

Buch und Regie: Philip Widmann und Phuong-Dan Nguyen, 108 Min. Grandfilm 2016.

Vietnam 2022. 
Im Februar beginnt das Jahr des Tigers. Ich bin ein Goldener Tiger. Die Zeichen stehen gut.
Es kann nur besser werden.

Hella Kothmann war jahrelang, genauer: jahrzehntelang zusammen mit ihrem 2020 verstorbenen Mann Wolf-Eckart Bühler mehr in Vietnam oder Japan oder anderen meist asiatischen Weltgegenden zu Hause als im heimischen München.  Die Erfahrungen der Reisen finden sich in teils gemeinsamen, teils eigenständigen Büchern, Anthologien und Filmen. Unabhängig davon stehen ihre Veröffentlichungen als wissenschaftliche Autorin. – WEB bei CulturMag hierhier und hier. Und in unseren Jahresrückblicken 2019201820172016. Für Frühjahr 2022 avisiert ist eine vom filmmuseum münchen herausgegebene DVD-Edition von Wolf-Eckart Bühlers Arbeiten zu Vietnam: AMERASIA & VIET NAM!

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Krazy: Ein Jahr mit Wundertüte

2021 haben wir viel darüber erfahren, wie die persönliche Perspektive die Bewertung der Umstände prägt. Wie stark in der Folge die komplette Wirklichkeit einer Person abweichen kann von der einer anderen. Wie immer fragwürdiger vor dieser Erkenntnis tradierte Redeformen wie der Autorenplural erscheinen, und wie schleichend notwendig es wird angesichts einer schwindenden gemeinsamen Basis von Begriffen, Tatsachen und Verabredungen, jeder Äußerung einen umständlichen Disclaimer vorauszuschicken – auf dass sie nicht einerseits als Behauptung objektiver Gültigkeit missverstanden wird, andererseits damit enttäuscht, eben diese Gültigkeit nicht zu haben, bzw. alle anderen möglichen Perspektiven nicht oder gar falsch abzubilden. Wenn ich also im Folgenden Aussagen über das vergangene Jahr mache, sind diese strikt subjektiv, egozentrisch, ohne Anspruch auf Übertragbarkeit oder diskursive Stellungnahme, eben: Persönlich.

Und da kann ich nur sagen: Danke 2021! Es war eine Wundertüte mit viel mehr drin als erwartbar… Denn die erste Hälfte spielte – schonklar weswegen- praktisch komplett im Elfenbeinturm. Viel am virtuellen Fenster, wenig in der Werkstatt. Arbeit blieb unkonkret, interessante Bücher blieben angelesen, Termine wurden weiter verschoben und fühlten sich jedesmal unwirklicher an. Aber es gab auch Premieren: Ein virtueller Gastauftritt in den Laptop. Das erste Zoom-Interview. Das erste Konzert im Studio vor Kameras, visuell begleitet von meinen Songs verwandten Zeichnungen der Künstlerin Leo Löhr. Gute Erfahrungen, schöne Ergebnisse. Mithin war ich bei alldem nur zu Gast, im Exil, wartend, hoffend, bald wieder nachhause zu können. 

Jäh dann der Aufbruch im Frühsommer: Plötzlich waren Termine wieder konkret und mit physischer Anwesenheit verbunden. Plötzlich war ich gefordert, gefragt, war der Kalender, der Alltag gefüllt mit konkret anliegender Arbeit: mit Proben der Theaterproduktion POLIS-Stimmen der Stadt (Regie: Jörg Fürst), bei der ich in einem größeren Ensemble „die Straßenmusikerin“ performe, einiges beitragen und viel lernen durfte. Daneben ein jedesmal rauschendes Nachhausekommen auf Bühnen vor echtem Publikum – einige davon lange ersehnt, so zwei gemeinsame Konzerte mit Danny Dziuk, die schon für letzten November geplant waren. Das Dritte musste dann allerdings verschoben werden – schonklar weswegen. Der Blick ins nächste Jahr fällt in Nebel der Ungewissheit, mal wieder. Ratlos, aber zuversichtlich fege ich den Elfenbeinturm durch und finde die Chance in der Redundanz: DIe interessanten Bücher mal zuende lesen. Auf der Liste:  

Robert Gernhardt: Was das Gedicht alles kann: Alles – Texte zur Poetik
Joy Press/Simon Reynolds: Sex Revolts – Gender, Rock und Rebellion
Jared Diamond: Arm und Reich – Die Schicksale menschlicher Gesellschaften

Zu Krazy bei uns hier.

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