Geschrieben am 31. Dezember 2021 von für Highlights, Highlights 2021

Derek Raymond

Die unvergängliche Susan

Es hätte ein ganz besonderer Tag für uns werden können, wenn nicht dieses Ärgernis per Post gekommen wäre und den lebenslangen Hass in mir hätte auflodern lassen, Hass gegenüber dem Staat, der sich beliebig in mein Leben einmischen kann. Ich hatte unser Vorhaben wunderbar ausgearbeitet und dann musste verdammt noch mal dieser Brief kommen, der seinen Schatten über den Tag warf, den ich einzig und allein Susan gewidmet und den ich mir wolkenlos und rein gewünscht hatte. Besagter Brief, ein rosafarbener Wisch, unterzeichnet von einem Bürokraten des Finanzamtes, kündigte mir die Pfändung meines Vermögens an. Ich wusste zwar, dass meine Finanzlage ein einziges Durcheinander war, aber ich hatte in letzter Zeit Wichtigeres zu erledigen gehabt. Jedenfalls konnte dieser Typ nicht mehr alle Tassen im Schrank haben, mir einen solchen Bescheid zu schicken, wenn man bedenkt, was ich alles auf mich genommen hatte, um ihm einen Denkzettel zu verpassen. Erst neulich war ich bei ihm aufgetaucht, hatte ihn in einem höflichen, aber bestimmten Tonfall gewarnt, mir nie wieder Derartiges zu schicken, und ihm in Hinblick auf seine Gesundheit geraten, meinen Namen aus seinen Akten zu streichen. 

Aber wenn diese Leute darauf bestehen, gefährlich zu leben, kann ich sie nicht daran hindern, oder? 

Nachdem ich den Bescheid gelesen hatte, fing ich an zu schreien; als ich mich danach nicht besser fühlte, ging ich zum Fenster, wedelte mit dem Steuerbescheid herum und brüllte meine Wut hinaus auf die Straße. Später, nach dem Anfall, wurde mir klar, wie vorteilhaft es doch war, dass Susan in einem anderen Teil der Stadt wohnte und bisher nicht herausgefunden hatte, wozu ich fähig bin, wenn ich die Beherrschung verliere — manchmal bin selbst ich darüber erstaunt. Glücklicher- weise waren nicht viele Leute auf der Straße und niemand nahm Notiz von mir. Ich weiß, ich hätte vorsichtiger sein sollen — aber manche Dinge können einen zum Wahnsinn treiben, wenn sie mutwillig Pläne durchkreuzen und eine lange vorbereitete und gedanklich bereits ausgekostete Stimmung zerstören. 

(Ich muss Frieden finden.) 

Eiserne Entschlossenheit brachte mich nach einigen Stunden erneut innerlich zum Kochen, also sprang ich in meinen Wagen und fuhr zum Finanzamt. Wenn man bedenkt, dass ich anonym bleiben und auch cool und beherrscht sein wollte, für Susan, unser Vorhaben und unsere Pläne, war es wohl das Dümmste, was ich tun konnte. Aber ich tat es nun mal. 

Dinge brechen im Allgemeinen über einen herein, und den Gerichtsvollzieher im Nacken zu haben, reicht aus, um Tote aus der Hölle anreisen zu lassen. 

Ich stellte meinen Wagen vor ihrem schmuddeligen Gebäude auf der durchgezogenen, doppelten gelben Markierung ab, direkt im absoluten Halteverbot, und stürmte gegen vier Uhr nachmittags genau in dem Moment hinein, als sie schließen wollten. Beinahe rannte ich eine pampig dreinblickende Hausfrau um die vierzig in einem beigefarbenen Rock über den Haufen. Das Finanzamt war bereits nahezu leer, also schoss ich direkt auf den Schalter zu, wo sie einem das Geld abnehmen. Der alten Schabracke hinter dem Schalter rief ich zu: »Holen Sie mal den Draufgänger her, für den Sie hier arbeiten, den mit dem Toupet.« Der Frau neben mir, die — das Scheckbuch schon in der Hand — ihr hart verdientes Geld diesen Leuten vermachen wollte, erklärte ich: »Ich will Ihnen nicht in die Parade fahren, aber in Ihrem eigenen Interesse wäre es besser, mir den Weg frei und meinen Ellbogen Platz zu machen — es wird hier gleich tierischen Ärger geben.« Sie starrte mich mit offenem Mund an und befolgte meinen Rat. 

Ich musste recht laut geworden sein, denn kaum hatte sie sich auch nur gerührt, schoss dieser kleine Bastard wie eine Tontaube hervor und baute sich vor mir auf. Als er schrie: »Was ist denn hier los?« holte ich seinen Schrieb hervor, der mir die Pfändung meines Hauses, meines Wagens und meiner Möbel androhte, hielt ihm den Wisch unter die Nase und fragte ihn vor dem gepeinigten Publikum: »Erkennen Sie’s?« 

»Selbstverständlich«, antwortete er, »ich selbst habe es Ihnen geschickt. Was wollen Sie dagegen unternehmen?« »Nichts. Ich werde überhaupt nichts tun. Ich werde Ihnen sagen, was Sie damit tun können«, erwiderte ich. 

»Was könnte das wohl sein?«
»Wischen Sie sich Ihren Hintern damit!«
Ein weiterer Angestellter kam aus dem Zimmer und bemerkte: »Wir erfüllen lediglich unsere Pflicht dem Staat gegenüber, und so steht hier nur zur Debatte, ob Sie erschienen sind, um zu zahlen, oder ob wir bei Ihnen erscheinen, um Ihrer Zahlungsmoral auf die Sprünge zu helfen.« Also präsentierte ich ihnen die .38er, die ich manchmal bei mir trage. 

(Bei denen, die mir nahe stehen, habe ich noch nie Feuerwaffen benutzt, denn ich möchte, dass sie ihren Frieden finden, und Feuerwaffen lassen sie nicht mit einem friedlichen Ausdruck zurück.) 

Ich zielte auf seine Stirn und sagte: »Sie ist geladen«, und war versucht, es zu beweisen, vielleicht indem ich eine Kugel in den Kopf des Politikers auf dem Wandkalender hinter ihm jagte. Doch das wäre nicht sonderlich feinfühlig gewesen — obwohl ich bereits den Entschluss gefasst hatte, der Feinfühligkeit abzuschwören, denn ich werde es langsam leid, jedem Frieden zu bringen, nur mir nicht. 

Das noch anwesende Publikum schaute verblüfft, als wollte es sagen: »Das darf doch wohl nicht wahr sein.« Das darf es wohl, könnt ihr mal sehen! Ich zerknüllte den Bescheid und ließ ihn zu Boden fallen. Es war das einzige Geräusch, das in diesem Moment zu hören war. Gleich- zeitig steckte ich die Pistole zurück in meine Jacke und sagte: »Ich habe heute Abend eine sehr wichtige Verabredung und keine Zeit für Probleme. Das hat Ihnen das Leben gerettet.« 

Ich drehte mich um und ging. Hinter mir fing jemand an zu schluchzen. Ich schaute mich erst gar nicht um, wer es war, sondern verschwand hinaus in den starken Wind und bekam eine Ladung Staub direkt in die Au- gen. 

Als der Deal in der Sitzecke des Pubs zustande gekommen war, sagte der Mann, der mir die Waffe verkauft hatte: »Du weißt, ich bin kein Spießer, aber ich bin mir nicht sicher, ob jemand wie du überhaupt so ein Ding haben sollte.« 

Ich fragte: »Wie lange musstest du für den Mord sitzen?« 

»Zehn Jahre. Aber nur, weil ich mich von den Schliessern ficken ließ. Außerdem schnarche ich nicht. Und ich habe die Zeit im Knast abgesessen, nicht wie du in der Psychatrischen. Ich glaube nicht, dass dir klar ist, was der Aufenthalt dort bei dir angerichtet hat.« 

»Irrtum«, sagte ich, »es ist mir klar — man hat dort viel Zeit darauf verwandt, mir zu sagen, wer ich sei, und seit- dem ich draußen bin, bin ich nur damit beschäftigt, genau das zu sein. Egal, hier ist die Kohle für die Kanone. Nimm’s und halt mir keine Predigt. Heute ist nicht Sonn- tag.« 

Ich stand auf, steckte die Waffe ein und ging.
Er rief mir nach: »Du bist vollkommen durchgeknallt!« 

Nun, es muss solche und solche geben. Außerdem hat jeder das Recht auf eine eigene Meinung. 

Als ich nach Hause kam, sah ich erst einmal in den Spiegel. Ich fand nicht, dass ich wie ein Irrer aussah. Ich holte meinen Kamm heraus; keine Ahnung, weshalb ich plötzlich das Gefühl hatte, mich kämmen zu müssen. Beim Anblick meines Spiegelbildes dachte ich: »Ich kann nicht begreifen, warum lebende Tote sich Gedanken über den Zustand ihrer Haare machen. Wirklich, warum haben wir alle nur das Bedürfnis, so verdammt gefällig zu sein?« 

Ich öffnete die Schublade des Küchentisches, wo ich meine Aufzeichnungen aufbewahre, und las den jüngsten Eintrag. Er schilderte die letzten Sekunden von Nummer 8. Ich hatte ihren leblosen, nackten Rücken als Unterlage benutzt, um die Hitze des Moments an Ort und Stelle einzufangen. Ich hätte es besser wissen sollen; eine solche Fahrlässigkeit kann mich leicht in den Knast bringen. Jetzt schrieb ich sorgfältig mit Kugelschreiber: »Du möchtest, dass deine Feinde weiterleben, damit sie dir Freude bereiten können. Denn die Freude am Hass besteht darin, deine Feinde in einen Zustand der Angst zu versetzen. Ein toter Feind nutzt dir nichts, bringt dir keinen Spaß mehr. Töte deine Freunde, töte deine Geliebten, zeig ihnen, dass du sie liebst und bringe ihnen Frieden. 

Niemals hätte ich den Angestellten im Finanzamt er- schossen; es hätte ihm die Angst erspart. 

Wenn ich jemanden liebe — und dabei handelt es sich immer um eine Frau —, bedeutet das, sie so bald wie möglich vor Hass und Kränkung zu schützen, damit sie nie mehr Gefahr läuft, verletzt zu werden. Nicht so, wie ich es dummerweise in Rosas Fall zu verantworten habe, durch einen groben Fehler, den jedes Kind hätte vermeiden können. Jetzt läuft sie um einen Baum herum und zieht einen Pappkarton an einer Schnur hinter sich her, in einer dieser Anstalten, in die man dann eingeliefert wird. 

Deshalb ist der Tod eine meisterhafte Lösung. Er bewahrt das Bewahrenswerte einer Person auf unvergängliche Weise, bis in alle Ewigkeit fängt er Schönheit ein als ungetrübtes Bild; und am besten tritt der Tod sein Erbe höflich und unaufdringlich an; wie ein geschulter Diener bindet er die Liebe ab, mit sicherer Hand, einem Chirurgen gleich, der eine Arterie mit einem flinken, kleinen Knoten abbindet. Die steinernen Arme nach oben gestreckt, seinem unsichtbaren Gott entgegen, kann ein herbeizitierter, makelloser Tod gen Himmel fahren. In meiner Begeisterung stelle ich mir den Tod immer als ein klingendes Gewölbe vor, das in seiner komplizierten Struktur von Bogen über Bogen immer höher steigt wie eine verlorene Weite, um dann die Schönheit einer stein- geäderten Kathedrale bei Nacht anzunehmen. Stille ist seine Begleitmusik; so wie die Musik, die ich zu hören glaubte, als ich das Lächeln von Nummer 5 auslöschte; hingegen verschaffte mir das Änigma von Nummer 8 die gleiche Befriedigung wie der Orgasmus, den ich bei Nummer 3 hatte, kurz nachdem sie gestorben war. 

Susan ist Nummer neun. Sie weiß es nicht, aber ich habe sie am späten Nachmittag in meinem Wagen verfolgt. So wie jeder andere in seinem Wagen seine Individualität verliert, brauche ich den Wagen, um anonym zu bleiben. Hinter dem Steuer würde selbst meine eigene Mutter mich nicht erkennen. Susans Gewohnheiten sind mir vertraut wie die Linien meiner Hand, und ich folgte ihr auf dem Weg zum Tabakladen, wo sie sich Zigaretten kauft, beobachtete, wie sie die Abkürzung durch den Park nimmt, und schließlich die lange Strecke die Eard Street hinunter zum Supermarkt, nicht ohne vorher die übliche kleine Pause bei Claire’s eingelegt zu haben, der Boutique, wo sie sich immer die neueste Mode ansieht. 

Kurz nach fünf — getarnt durch den Verkehr, beobachtete ich sie auf dem Gehweg — dachte ich schon, sie habe mein Spiegelbild in einem der Schaufenster gesehen; denn plötzlich drehte sie sich in meine Richtung, hob zögernd die Hand, als wollte sie winken, und die Lippen in ihrem feisten Gesicht, einem schwammigen Vollmond aus Teig, teilten sich zu einem Lächeln. Doch als ich mich duckte, sprang die Ampel um, und ich konnte in die Country Avenue einbiegen und unentdeckt davonfahren. Sie ahnte nicht einmal, wie glücklich sie ausgesehen hatte, als ich ihr gefolgt war, und niemals wird sie etwas von der Intensität erfahren, mit der ich ihre Zufriedenheit durch den Dreck auf meiner flüchtig abgewischten Windschutzscheibe in mich aufgesogen hatte. Ein Ausdruck, der mir für immer im Gedächtnis bleiben wird, wohl wissend, dass er nicht entstanden wäre, wenn sie gewusst hätte, dass sie heute Nacht sterben würde — obwohl, hatte sie mir nicht neulich erst erklärt, sie sei bereit, für mich zu sterben? 

Ihr verzücktes Lächeln sagte mir, dass wir in ihren Augen zusammengehören; nur hatte man mir doch vermittelt, dass die Vergiftung meiner Seele mich ausgrenze. Aber Susan, die reine Unschuld, meint, immer wenn wir uns liebten, sei es für sie wie das erste Mal. So erkennt mein Schuldgefühl, wie immer durchdrungen vom Wunsch zu dienen, dass sie der Welt für alle Zeiten so erhalten bleiben muss. 

Und es geht mir ebenso wie ihr. Das habe ich natürlich gemein mit anderen: Auch für mich ist es immer das erste Mal, wenn ich einem geliebten Menschen das Wunder meines Friedens schenke. 

Ich ordne meine Aufzeichnungen und lege sie ordentlich zurück in die Schublade des Küchentisches, gehe zum Schrank und hole die Maschine herunter, spüle sie unter dem Wasserhahn ab, schraube sie zusammen und schließe sie an, damit sie bereitsteht, wenn der besondere Moment gekommen ist. 

Der Augenblick des ewigen Friedens wird dann kommen, wenn ich es leid bin, die Angst meiner Geliebten und ihr Problem, diesen Husten, zu ertragen, und dann beschließe, ihr die verdiente Ruhe zu geben. Um halb acht will sie hier sein; die ziemlich nachlässig modellierten Schätze ihres Busens werden unter den Hustenanfällen erbeben, und sogleich wird sie über Atemnot und den chronischen Katarrh klagen, so wie sie es immer tut. Geduldig habe ich mir dieses Gedöns lange Zeit angehört und ihr schließlich etwas Besonderes zugedacht — etwas, das ich weiß Gott wie lange schon nicht mehr angewandt habe —, um sie von der Bürde ihres nutzlosen Körpers zu erlösen. 

Es ist ein Gefäß, gefüllt mit starken aromatischen Salzen, deren Dämpfe man über einen Gummischlauch inhalieren kann. Ein zweiter Gummischlauch verbindet das Gefäß mit einer Flasche Butangas, die versteckt auf der anderen Seite des Herds steht. Ich werde Susan in ihren geliebten bunt gestreiften Liegestuhl am Fenster setzen, von wo aus man einen Blick auf den Löwenzahn hat, und ihr ruhig, aber mit Nachdruck die Riechsalze empfehlen, und dabei selbst in einen kaum zu kontrollierenden Zustand der Erregung geraten, da der Moment näher rückt und sie mich verläßt und ich ihr versichere, es nicht ertragen zu können, einen geliebten Menschen leiden zu sehen. Und sie wird nicht leiden. Es wird nur ein klitzekleines Aufbäumen geben, einige wenige Seuf- zer, gefolgt von einer Art Traumzustand. Dann Koma und Tod. 

Später werde ich mit ihrer Leiche reden, die sich mit offenem Mund auf dem Beifahrersitz an mich lehnt. Wir wer- den hinaus aufs Land fahren und uns irgendwo im Grünen ausstrecken wie Frischvermählte, damit sie sich aus- ruhen und ich sie mit der Szene im Finanzamt aufheitern kann. Dann werde ich die Nacht damit zubringen, jede Wölbung, jede Linie ihres Gesichtes im Licht der Sterne zu betrachten, um sie als Erinnerung zu speichern. 

Wenn dann der Moment des Abschieds kommt, werde ich meine unvergängliche Susan bei den Händen nehmen und sie ein letztes Mal drücken. 

Mir ist, als hörte ich sie jetzt an der Tür; gibt vor, sie wäre von der Polizei. Sie ist nicht von der Polizei. Was die Stimme betrifft, bin ich mir noch nicht sicher, aber ich kenne Susans Schritt, außerdem ist sie so fett, dass sie beim Treppensteigen keucht. Egal, wer auch immer an der Tür sein mag, du siehst, Leben ist nichts weiter, als sich einer Übung in kontrollierter Verzweiflung zu unterziehen. 

Diese Story von Derek Raymond erschien erstmals auf Deutsch 2001 als Band Pulp 10 im Verlag Pulp Master. Frank Nowatzki (Hrsg.): Antihero (feat. Charles Willeford). Der Band wird 2022 wieder aufgelegt, und es erscheint auch ein weiteres Buch von Charles Willeford.

The Clit Cops feat. Derek Raymond: Changeless Susan. 1995 Pulp Master, Pulp 001.

Tags : ,