Geschrieben am 16. Dezember 2015 von für Highlights, Highlights 2015

CulturMag-Jahreshighlights 2015, Teil II (M-Z)

Willkommen zum zweiten Teil unseres großen Jahresrückblicks (zu Teil I) – chaotisch, unterhaltsam, kenntnisreich – die Tops & Flops von LitMag, MusikMag & CrimeMag, wie unsere Autorinnen und Autoren das Jahr 2015 sahen: Bücher, Filme, Musik, TV, Kino, Alltag und Wahnsinn … ungeordnet & unabhängig.

mackeCarl Wilhelm Macke

Von Goldfischen und Rosen: Entweder gelten Menschen, die sich für Menschenrechte einsetzen als naiv, im Jargon des voralpinen Speckgürtels als „Gutmenschen“ oder sie gelten als Misanthropen, denen nichts recht zu machen ist. Entweder klagen sie unentwegt den schlechten Zustand der Welt an und fühlen sich von allen denkbaren Mächten verfolgt. Oder sie klagen über weltweit fehlende Menschenrechte, um sich selber ein gutes Gewissen zu verschaffen. Für den iranischen Regisseur Jafar Panahi trifft nichts von alledem zu. In seinem Film „Teheran Taxi“ zeigt er ganz wunderbar, wie man sich gegen Zensur und Willkür eines Regimes mit Phantasie, Lebensfreude und ‚low budget’ zur Wehr setzen kann. Das Szenario des Films ist ja denkbar schlicht. Ein Taxifahrer, dargestellt von Panahi, kutschiert eine Reihe von Fahrgästen durch Teheran, hört sich deren bedeutende oder auch banale Alltagsgeschichten an und verabschiedet sich dann wieder von ihnen.

Wir erleben einen in sehr zivilen Formen ausgestragenen Streit zwischen einem bornierten Fahrgast und einer ebenfalls mitfahrenden couragierten Frau mit Kopftuch über das richtige Strafmass gegenüber Kleinkriminellen. Die ganz schön kecke junge Nichte des Taxifahrers läßt sich von ihrem Onkel nicht alles sagen und provoziert ihn ständig, allerdings auch liebevoll, mit Widerworten. Zwei dunkel verschleierte ältere Frauen bitten den Taxifahrer er möge doch vorsichtiger fahren, weil sie Goldfische in einem kleinen Wasserkrug bei sich hätten. Sie müssten die Goldfische unbedingt und auch noch zu einermganz bestimmten Zeitpunkt zu einer Quelle fahren. Ihr Leben hänge von dieser Fahrt ab. Ein Raubkopierer von westlichen Filmern wird auch befördert, der glaubt in dem Taxisfahrer tatsächlich den vom Regime verfolgten Regisseur Jafar Panahi zu erkennen.

Und dann gibt es noch die für mich schönste Szene des ganzen Filmes, die mich auch Monate nach dem Kinsobesuch immer begleitet hat. Die Rechtsanwältin und Menschenrechtsaktivistin Nasrin Sotudeh steigt, einen üppigen Rosenstrauch im Arm, in das Taxi ein. Im Iran weiß jeder, wie sehr die Anwältin von den Mullahs verfolgt wird. Zum Klagen und zum Anklagen hat gerade sie allen Grund und trotzdem strahlt sie in diesem Gespräch mit dem Taxifahrer (das heißt dem Regisseur Panahi) ein umwerfendes Selbstbewusstein aus. Man spürt bei dieser Szene, daß es da etwas in einem Menschen, in einer Menschenrechtskämpferin gibt, das auch ein Unrechtsregime niemals zerstören kann.

„Teheran Taxi“ ist vordergründig ein harmloser, netter „Taxi Fahrer-Film“, aber wenn man um die Lage im Iran – auch noch nach den so hochgejubelten „Atomgesprächen“ mit den Repräsentanten westlicher Mächte – weiß, dann bleibt seine so feine, so phantasiereiche, so humane Widerständigkeit für lange Zeit im Gedächtnis der Zuschauer. „Menschenrechtsaktivisten“ sind keine naive „Gutmenschen“ oder dauerklagenden „Misantropen“. Sie kämpfen für die Freiheit anderer oder ihrer eigenen mit einer ansteckenden Sehnsucht nach Leben, auch mit einem manchmal vor Selbstbewußtsein strotzendem Lachen. Freiheit für Jafar Panahi und Ende jeder Repression gegen Nasrin Sotudeh!

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Tina Manske

Mein größtes Jahreshighlight 2015 ist gar nix Aktuelles, sondern eigentlich ein alter Hut, von mir aber eben erst dieses Jahr entdeckt: die Hörfassung von Marcel ProustsRecherche“ aus dem Hörverlag, erschienen 2010 und schon damals als Hörbuch des Jahres ausgezeichnet. Seit Wochen hänge ich nun Peter Matic (die deutsche Stimme von Ben Kingsley) an den Lippen, der den wunderbaren Proust-Figuren ohne übertriebene Mimikry einen jeweils ganz eigenen Körper verleiht. Jedes Mal, wenn die Welt da draußen zu laut wird, kann man sich zu Proust zurückziehen und dabei ein wenig weiser werden. Wer also wie ich es bisher noch nicht geschafft hat, den Zyklus zu Ende zu lesen, der hat mit dem Erwerb dieser sieben „Bände“, die der Übersetzung von Eva Rechel-Mertens folgen, gute Chancen auf Erfüllung. Besonders empfehlenswert, wenn man die Druckfassung auch besitzt und dort gleich die schönsten Stellen anstreichen kann!

Musikalisch markierte 2015 das Jahr, in der traditionelle Genres eine Frischzellenkur verpasst bekamen, allen zuvor der political rap und der Jazz – die Alben von Kendrick Lamar, Flying Lotus, Hiatus Kayote und Kamasi Washington sind schon jetzt moderne Klassiker, die in keinem Haushalt fehlen dürfen.

Mein Lieblingsbuch des Jahres ist die wunderbare Liebeserklärung von Silvia Bovenschen an ihre Lebensgefährtin Sarah Schumann – „Sarahs Gesetz“ ist eine großartige, sehr berührende Mischung aus Autobio- und Biographie von einer grundsympathischen und sehr humorvollen Schriftstellerin.

Große dunkle Schatten aber warf 2015 unerbittlich da, wo es zwei liebe Kollegen völlig unerwartet aus unserer Mitte riss – Thomas Backs und Carlo Schäfer sind unvergessen und werden sehr vermisst.

Alf_Mayer-172x260Alf Mayer

2015 brachte ziemlich viel gute Kriminalliteratur auf die Büchertische. Auch die früher oft bemängelte Klassikerpflege war rundum vorbildlich: vom Hardcover für Richard Starks „The Hunter“ (Zsolnay), bis zu McIlvanney (Kunstmann), Robert B. Parker (Pendragon), Jim Thompson (Heyne), Ross Thomas und Charles Willeford (beide Alexander) – zu dem CrimeMag ein Special brachte, fünf Kritiker über „Miami Blues – , Ross Macdonald (Diogenes), Ed McBain (Culturbooks) und der weithin beachteten ersten vollständigen Übersetzung von Newton ThornburgsCutter und Bone“ (Polar). Verlag des Jahres wäre für mich klar Polar. Alle Achtung, was Wolfgang Franßen so alles stemmt. Die große Biographie von Joan SchenkarDie talentierte Miss Highsmith“ (1069 Seiten, Diogenes) blieb leider ziemlich unbemerkt, unbeirrt spendierte der Verlag seiner Autorin eine Hardcover-Kassette sämtlicher Ripley-Romane.

Überraschungen: Richard Price mit „Die Unantastbaren“ (Fischer), James Ellroys Fotoband „LAPD 53“ (Abrams, USA), Ulrich EffenhausersAlias Toller“ (Transit), ein wiederaufgefundenes Manuskript von Iceberg Slim, „Shetani’s Sister“ (Black Lizard). Sowie, nach der Wiederlektüre der 55 Ed McBain-Romane vom 87. Polizeirevier darf ich das sagen, der rundum gelungene weibliche Blick auf die Polizei von Atlanta anno 1974 in Karin SlaughtersCop Town“.

hari_drogenDas wichtigste Sachbuch: Johann HarisDrogen. Die Geschichte eines langen Krieges“ (S. Fischer). Carmen Boullosa und Mike Wallace lieferten eine detailreiche Nahaufnahme in „¡Es reicht! Der Fall Mexiko: Warum wir eine neue globale Drogenpolitik brauchen“. Alice Goffman berichtete über eine Generation junger Schwarzer „On the Run“, es gab den „CIA-Folter-Report“ (Westend) und ein Guantanamo-Tagebuch (Tropen). (Er-)Kenntnisreich: eine dicke Studie über den Hollywood-Radikalen Dalton Trumbo (University Press of Kentucky).

Im Kino fand ich „Sicario“ schnörkellos gut. „The Walk“ schenkte Glücksmomente, „Birdman“ beschäftigte mich länger, „Spectre“ war aufgebrühtes Instantpulver, Himbeeren würdig der Vorspann, in dem Tintenfische seltsame Sachen mit Frauen und Revolvern tun. Endlich hierzulande wieder zugänglich, dies als BluRay: Don Siegels „Charley Varrick“, von dem Cormac McCarthy und die Coens ihren Killer für „No Country for Old Men“ abgekupfert haben. Es war Joe Don Baker, unendlich cooler, sorry to say, als Javier Bardem.

Edgar Reitz unternahm 30 Jahre nach der Erstveröffentlichung seiner „Heimat“ einen Directors Cut, dies als qualitativ astreine BluRay-Fassung (arthaus), ergänzt von einem üppig ausgestatten Buch, das alle Drehbücher enthält (Schüren). Bin, was „Heimat“ angeht, positiv befangen, weil ich das damals ziemlich aus der Nähe mit bekam und weiß, was Reitz da riskierte.

Gestaunt wie selten beim Auspacken eines Buches habe ich bei „The Making of Stanley Kubrick’s ‘2001: A Space Odyssey‘“; dem Verlag Taschen ist hier quasi die Re-Inszenierung des rätselhaften Monolithen aus der Affen-Sequenz gelungen. Kleiner Verlag, großes Buch mit durchaus künstlerischem Ansatz: Christoph MillersNowhere Men“, im Wiener Verlag Luftschacht erschienen bevor das Thema Flüchtlinge täglich in allen Medien war. Ganz ohne Bilder kam ein selten schönes Kunstbuch aus, „Das 100-Tagebuch“ von Ingrid Mylo und Felix Hoffman, die an jedem der 100 Tage der documenta(13) die Begegnung mit der Kunst suchten.

Stoff für deutlich mehr als 100 Nächte liefert „1001 TV Series You Must Watch Before You Die“, das Buch gibt es nur auf Englisch, eine Übersetzung ist derzeit nicht geplant (Cassell, UK). Ebenfalls im englischen Sprachraum verbleiben wird wohl Nathan WardsThe Lost Detective. Becoming Dashiell Hammett“ (Bloomsbury) über die Pinkerton-Jahre des Ahnherrn straßentauglicher Kriminalliteratur. Womit wir wieder bei den classics wären. Happy readings.

PS. Ach ja, wer Lust auf Kochen mit Crime-Autoren hat, findet „wickedly“ gute Rezepte im „Mystery Writers of America Cookbook“.

christina_mohrChristina Mohr

Ich erzähle ja nichts Neues, wenn ich darüber stöhne, dass das Jahr 2015 gefühlt viel schneller ‘rumging als die Jahre davor – wahrscheinlich habe ich genau das aber auch schon 2014 und ‘13 behauptet, also eine Alterserscheinung, ziemlich sicher.

Was ich aber nicht behaupten werde, ist, dass früher alles besser war bzw. dass die Musik früher (wann überhaupt: früher?) besser gewesen sein soll. Über den 2015er-Jahrgang habe ich nämlich kaum etwas zu meckern, sondern viel mehr zu loben! 2015 begann mit ordentlicher Schlagzahl: Neue Alben von Panda Bear, Sleater-Kinney, Björk und Belle and Sebastian schon im Januar – ein toller Start, und es ging mit lauter Höhepunkten weiter. Future Brown, Kendrick Lamar, Roisin Murphy, Courtney Barnett, Hot Chip, Sleaford Mods, Holly Herndon, Jimmy Somerville, Lonelady, Young Fathers… uff, und wir befinden uns erst im Frühling! Ich sehe schon, mit reiner Chronologie komme ich nicht weit, ich muss anders vorgehen.

Also subjektiv und erratisch, damit bin ich bisher immer gut gefahren: Das rote TocotronicAlbum beispielsweise hatte ich insgeheim mit viel Vorschuss-Spötteleien bedacht: Rotes Cover! Veröffentlichung im Mai! Noch mehr in-your-face-Symbolik geht ja wohl nicht mehr! Nach dem Anhören war ich aber bekehrt und bezaubert. „Rebel Boy“ landete quasi aus dem Stand auf meiner persönlichen All-Time-Fave-Liste, hätte ich tatsächlich nicht gedacht.

Ebenfalls erst doof finden wollte ich die Kombi Franz Ferdinand / Sparks, abgekürzt FFS: Einstige Britpopstars meet einstige Avantgardisten, was soll das denn werden?, so argwöhnte ich, wurde aber durch Songs wie „Piss off“ und „Johnny Delusional“ umgehend vom Projekt überzeugt. Eins meiner Lieblingsalben sogar in diesem Jahr.

Spontan angesprochen – zumindest textlich, über die Musik müssen wir ein anderes Mal reden – hatte mich dagegen die grüblerische Balbina, ehemalige Bina aus Berlin. Ihre Lyrics (und ihr Styling!) sind wirklich außergewöhnlich gut; leider habe ich ihre Tour zum Album „Über das Grübeln“ im Herbst verpasst… wie so vieles: Ich war weder bei Madonna noch bei Roisin Murphy und New Order, auch Kraftwerk spielten ohne mich. Stattdessen hab ich mich bei Jens Friebe, Kitty, Daisy & Lewis, A Tribe Called Knarf, Stars und Dagobert bestens amüsiert, müssen ja nicht immer die Monster-Events sein, nicht wahr?

Im Sommerurlaub war das Debütalbum der Londonerin Georgia Barnes, Tochter des Leftfield-Musikers Neil Barnes mein ständiger Begleiter auf dem mobilen Musikabspielgerät: Ähnlich wie Kate Tempest, die übrigens eine gute Freundin von Georgia ist, dürfte dieser jungen Elektro-HipHop-Wizardin eine äußerst positive Zukunft beschieden sein – wünsche ich ihr jedenfalls.

Ein bisschen älter als Georgia, aber dafür noch cooler ist natürlich Peaches, die für ihr aktuelles Album zwar einiges an Häme einstecken musste (schnarch, schon wieder Texte über dicks and pussies…wie ORIGINELL) – bei mir aber, die ich ein leicht erregbarer, ähem, schnell zu begeisternder Charakter bin, hat „Rub“ voll eingeschlagen. Auch hier: Heavy Rotation in the House of Mohr.

Nicht so knallig-krachig, dafür kunstvoll und angenehm diffizil, trotzdem eingängig und poppig kamen die neuen Platten von Julia Holter und U.S. Girls ‚rüber, die erfreulicherweise beide in den allfälligen Jahrespolls gute Positionen erreichen. Was war noch? Muss mich ein bisschen sputen, glaube ich: Also. A Tribe Called Knarf – endlich wieder was Neues von Knarf Rellöm, DJ Patex und Viktor Marek, wie gewohnt superfunky und tanzbar, unterbrochen von Knarfs Nörgeleien über Politik, Liebe usw. „Es ist die Wahrheit obwohl es nie passierte“, macht mich sehr viel glücklicher als Schnipo Schrankes lang erwartetes Debüt, das mich trotz der enormen Hype-Maschinerie ein wenig ratlos hinterließ.

Ein bisschen weitermeckern will ich jetzt doch noch: Regelrecht unhörbar fand ich die neuen Platten von Florence and the Machine und Hudson Mohawke, schade eigentlich, weil beide KünstlerInnen meine grundsätzliche Sympathie haben. Sympathisch fand ich auch schon immer die sanftmütigen Brillennerds Hot Chip, deren aktuelle Platte „Why Make Sense?“ ein bisschen zu glatt und selbstreferenziell ausfiel, um einen tieferen Eindruck zu hinterlassen – einen echten Volltreffer landeten Hot Chip aber gegen Jahresende mit ihrer wunderbaren Coverversion von Bruce Springsteens „Dancing in the Dark“. Hier kam zusammen, was zusammen gehört – ein longtime companion für die Tanzfläche.

Apropos Jahresausklang: Worüber ich mich auch – jetzt mal allgemein gedacht, nicht nur musikalisch – geärgert oder womit ich mich gelangweilt haben sollte: alles löst sich in herrlichste Popmelancholie auf, und zwar mit Tracey Thorns Best-of-Album „SOLO. Songs and Collaborations 1982 – 2015“. 34 Songs lang darf man sich die Welt als schönen Ort vorstellen, der immerhin diese Stimme hervorgebracht hat. Ein prima 2016 wünsche ich euch allen!

Peter-Münder1Peter Münder

1.Tito Topin: „Exodus aus Libyen“ (Dt. von Katarina Grän, Distel Literaturverlag Heilbronn). Der Krimi-und Drehbuch-Autor Tito Topin ist als Schöpfer der französisch-deutschen TV-Serie „Navarro“ bekannt geworden; seine knackigen Dialoge überzeugen ebenso wie die rasanten Plots. In seinem jetzt erschienenen Flüchtlings-Krimi liefert er ein rasantes Drama, das in der chaotischen Umbruchphase nach dem Sturz Gaddafis spielt: Acht Flüchtlinge wollen sich im Geländewagen aus Tripolis nach Tunesien absetzen; sie werden verfolgt, beschossen und zerstreiten sich. Extrem packendes Drama, das Road Movie-Qualitäten mit souveränen Einblicken in die chaotische Nahost-Szenerie kombiniert und hinter dem zynisch- sarkastischen Gebaren des Arztes Hitchcock die Tragik einer vereinsamten Graham-Greene-Figur aufscheinen lässt. Aber Vorsicht: Wer die ersten Seiten liest, kann das Buch nicht mehr aus der Hand legen!

richter_89_902.Peter Richter: „89/90“ (Luchterhand). Grandioser Rückblick auf letzte Monate der Vorwendezeit in Dresden: Pubertierend, punkmäßig-rebellisch, kritisch-ironisch beschreibt Richter groteske Szenen zwischen vormilitärischem Unterricht, Plänen für die Gründung einer aufwühlenden Untergrund-Band und schmachtendem Jippern nach der großen Liebe, die sich aber als linientreue SED-Tussi lieber auf die „Neues Deutschland“-Lektüre kapriziert. Locker, rebellisch und allergisch gegen alle stereotypen Ossi-Holzschnitzereien liefert Richter den großen autobiographischen Wenderoman ohne Ostalgie-Schmalz- fabelhaft.

3.Michael Tsokos: „Zerschunden“ – True Crime Thriller (Knaur)/Hamburger Performance mit Video-Clips und Vortrag. Der Berliner Forensiker Michael Tsokos war Fernspäher bei der Bundeswehr, hat Leichen aus Massengräbern identifiziert und Bestseller über die Möglichkeiten der modernen Forensik veröffentlicht. Jetzt legt er seinen ersten True Crime Thriller vor, den er zusammen mit dem Soziologen Andreas Gößling geschrieben hat. Es geht um einen Serienkiller, der Frauen umbringt und seine spezielle Signatur auf deren Körpern hinterlässt. Der Fitzek-affine Gruselmeister Tsokos schreckt in seinem Thriller vor kaum einer Beschreibung sadistischer Exzesse zurück- so weit so blutrünstig.

Faszinierend war des Meisters Performance auf dem Hamburger Kampnagelgelände, wo Hunderte von Fans begeistert seinem multimedial glänzend inszenierten Vortrag lauschten. Tsokos spielte „Tatort“-Szenen ein, bei denen er selbst Statist war, er zeigt, welche Diagnose-Fortschritte mit PC-Hilfe und Tomographie möglich sind, welchen enormen Stellenwert die Forensik bei der Lösung von Tötungsdelikten inzwischen hat und er las einige Grusel-Passagen aus seinem Buch. Erhellendes Fazit: Der Mix aus drastischen literarischen Thriller-Szenen, TV-Krimi-Clips und wissenschaftlichem Aufklärungsanspruch mit selbstironischer Vermarktungspose ist der ultimative Garant für einen Super-Bestseller. Die langen Warteschlangen der Leser, die ihr „Zerschunden“- Exemplar nach der Performance signiert haben wollten, war jedenfalls beeindruckend. Diesen unterhaltsamen medialen Mix werden andere Krimi-Autoren wohl bald kopieren. Die Frage ist nur: Welches Medium liefert dann noch die wahre Message?

Marcus_MünteferingMarcus Müntefering

Einen Tag, bevor ich mich an diesen Text gemacht habe, ist William McIlvanney gestorben. Im April hatte ich ihn in Hamburg zu einem Interview getroffen und war noch bezauberter von ihm selbst als von seinen drei Laidlaw-Romanen, deren Wieder- und Neuentdeckung in Deutschland zu den herausragenden (spannungs-)literarischen Ereignissen der vergangenen 15 Monate gehörte. McIlvanney war ein sanfter, ein bescheidener, ein hellwacher Mann, dem man seine Liebe zu den Menschen ebenso anmerkte wie seine Herkunft aus der working class. Ob er die zwei Laidlaw-Romane, die er in unserem Gespräch angekündigt hatte, noch fertigstellen konnte – ich fürchte nein.

Derselbe Jahrgang wie McIlvanney ist James Lee Burke, der am 5. Dezember, dem Tag als McIlvanney starb, 79 wurde. Auch er wurde erst vor Kurzem in Deutschland neu entdeckt; dank des Engagements von Markus Naegele (Heyne Hardcore) und Günther Butkus (Pendragon), die es gewagt haben, Burkes großartige Romane endlich wieder verfügbar zu machen – und für diesen verlegerischen Mut belohnt wurden.

Angel Baby von Richard LangeNatürlich gab es auch 2015 jede Menge (zumindest für mich) neue Autoren zu entdecken: Wallace Stroby und seinen vorzüglichen Crissa-Stone-Roman „Kalter Schuss ins Herz“, Richard Lange mit seinem leider weitgehend unbeachtet gebliebenen Action-Krimi „Angel Baby“, Andreas Kollender mit seinem feinfühligen Spionageroman „Kolbe“, Thomas Raab und seine herzzerreißende Monstrosität „Still“, Antonin Varennes gewaltiger Krimi-Western-Abenteur-Hybrid „Die sieben Leben des Arthur Bowman“…

Mit meinem persönlichen Krimijahr bin ich ebenfalls mehr als glücklich: Seit Februar kann ich auch als Mitglied der Jury der Krimi-ZEIT-Bestenliste ein wenig dazu beitragen, dass in Deutschland nicht nur Mainstream gelesen wird. Außerdem habe ich in diesem Jahr unter anderem James Ellroy, Don Winslow, John Niven und Val McDermid getroffen – inspirierende Begegnungen. Auch meine „Bloody Questions“, die inzwischen nicht mehr exklusiv auf meinem Blog Krimi-Welt erscheinen, sondern hier beim Crimemag „Premiere feiern“, machen mir weiterhin großes Vergnügen. Vor allem aber freut es mich, dass der Krimi-Talk „439 Noir“, den Polar-Verleger Wolfgang Franßen, Krimi-Enthusiast Carsten Germis und ich seit September alle zwei Monate in meiner langjährigen Stammbar 439 (ein riesiges Dankeschön an unsere Gastgeberin Carla Riveros Eißmann, Hamburgs tollste Barfrau!) veranstalten, so gut angenommen wird. Mögen wir auch 2016 ein so zahlreich erscheinendes und engagiertes Publikum haben!

Roland OßwaldRoland Oßwald

Iren verehren ihre Autoren wie kaum ein anderes europäisches Volk. Selbstverständlich auch ihre Kriminalbuchautoren (Wer Interesse hat, kann mal in Cormac Millars Liste [natürlich nicht vollständig, und eben eine Liste] der Irish Crime Writers schauen). Hierzulande dürfte Wertschätzung für Schriftsteller anders ausfallen, vor allem für Krimi-Autoren. Sagen wir einfach mal kühler. Diese Distanz konnte irische Romane in der Vergangenheit zum Glück nicht von unserem Markt fernhalten. Vielleicht ein Indiz, dass Herzblut im Kulturkonsum auch dominant sein kann.

Beispielsweise brachte in diesem Jahr der hoch geschätzte Pulp Master Verlag Seamus SmythSpielarten der Rache“ zu uns, und der Suhrkamp Verlag führte die lesenswerte Sean-Duffy-Reihe von Adrian McKinty („Die verlorenen Schwestern“ und „Gun Street Girl“) fort. Unüberhörbar, unübersehbar und aus gutem Grund unvermeidbar bleibt natürlich immer noch die Mexiko-Thematik rund um den War on Drugs (während sich Schweden schon im War on Cash befindet). „Die Verbrannten“ von Antonio Ortuño (Kunstmann Verlag) und der Dokumentarfilm „Cartel Land“ von Matthew Heineman zeigen schonungslose Ausschnitte dieses Krieges. Überrascht im positiven Sinne haben mich einige Produktionen aus der Film- und Fernsehbranche, nachdem ich beide letztes Jahr beinahe abgeschrieben hatte. Die Verfilmung von Thomas Pynchons „Inherent Vice“ (Paul Thomas Anderson) hat große Freude bereitet, und der Film „Victoria“ (Sebastian Schipper) zeigt, was man mit 12 Seiten Drehbuch machen kann. In Sachen Drehbuch könnte man sich die Frage stellen, was wohl Volker Kutscher (Gereon-Rath-Reihe) von dem Film „Mordkommission Berlin 1“ hält? Nun denn, die Geschichte der Ringvereine aus dem Berlin der 20er Jahre zu verfilmen, schwirrt schon so lange im Raum herum, dass man sich an das Hintergrundsummen bereits gewöhnt hatte.

Interessant fand ich zu beobachten, wie sich die deutschen Fernsehsender ein wenig hinterherhinkend im internationalen Serienmarkt etablieren wollen (ZDF: „The Team“; RTL: „Deutschland 83“…), nachdem sie es, als der Zeitpunkt gekommen war („Im Angesicht des Verbrechens“), völlig verpennt hatten. Gute Vorsätze sind also vorhanden (nun ja bei „Deutschland 83“ eher theoretisch). Ob das reicht, könnte man anzweifeln, macht aber wenig Sinn, weil wir doch alle (insgeheim) auf den wirklich großen heimischen Wurf warten. Halten wir also die Finger weiterhin gekreuzt, üben den Verzicht, der uns von Fernsehseite als Kultur apriori verscheuert wird, und blenden für einen kurzen Augenblick den Druck des allgemeinen Konventionsdrangs aus, abgesehen von den Nebenwirkungen der Kapitalkonzentration. In Sachen Serie habe ich die erste Staffel von „Narcos“ (Netflix) gerne gesehen, weil sie direkt erzählt wird (zum Glück überwiegend Spanisch) und vor Ort gedreht Originäres transportiert, was mich an die drei Monate erinnert, die ich Anfang 1994 in Kolumbien verbracht habe. Pablo Escobar war kurz zuvor erschossen worden.

Nachdem ich im letzten Jahresrückblick geschrieben habe, dass die Briefe von Dr. Hunter S. Thompson noch nicht auf Deutsch erschienen sind, lag prompt im Januar „Die Odyssee eines Outlaw-Journalisten“ auf dem Schreibtisch. Deshalb hier nochmals Danke dafür. Sophie Rois liest ganz wunderbar Briefe daraus vor, was man auf einer CD anhören kann. Beides bei Edition Tiamat. Lyrisch versüßt uns der Maro Verlag das ausklingende Jahr mit „Alle reden zu viel“ (Charles Bukowski). Für diejenigen, die wie Hank, die anderen nicht so gerne quatschen hören, lohnt sich Reinhard Kleists Graphic Novel „Der Traum von Olympia“ (Carlsen Verlag). Das für mich beeindruckendste Buch kam dieses Jahr allerdings aus Indien, geschrieben von Rana Dasgupta, „Delhi – Im Rausch des Geldes“ (Suhrkamp Verlag). Es ist eine Einstiegslektüre in Indiens jüngere Geschichte; eine Bereicherung für Kenner des Subkontinents; und ein Blick in die Neue Welt des Kapitalismus. Weniger kapitalistisch geht es bei der Gründung des ersten genossenschaftlichen Senders in Deutschland zu. Wir können gespannt sein, was uns in 2016 aus dieser Ecke erwartet.

Meine Idee steht immer noch, aus dem Trial testimony in William Pickard LSD lab trial ein Audio-Serial zu machen.

Andreas PittlerAndreas Pittler

Irren ist Nobel: Ich gebe zu, seit ich selbst damit begann, Texte zu verfassen, und das ist ewig her, schielte ich immer auch mit einem Auge nach Schweden. Der Nobelpreis für Literatur war mir als Teenager die richtungweisende Wegmarke, wie man schreiben sollte, um ein Werk zu schaffen, das die Zeiten überdauert.

Und das durchaus zurecht, will mir auch heute noch scheinen. Elias Canetti und Gabriel Garcia-Marquez waren die ersten Laureaten, die ich auf diese Weise mitbekam, und ich fühlte mich hervorragend, auf diese Weise meinen persönlichen Geschmack bestätigt zu finden. Im Laufe der Jahrzehnte war es für mich immer wieder spannend, darauf zu warten, wen die Akademie auszeichnen würde. Und oftmals dachte ich mir danach „Ah, super. Der/die hat´s wirklich verdient”, egal, ob es sich dabei um Seamus Heaney, Dario Fo, José Saramago, Imre Kertesz, Harold Pinter oder Elfriede Jelinek handelte.

Mitunter aber sagte mir der auserkorene Name nichts, und so ging ich tags darauf in die Buchhandlung meines Vertrauens und machte mich daran, das so ausgezeichnete Werk zu erkunden. Und damit bin ich gut gefahren. Die Lektüre der Arbeiten von Wislawa Szymborska, Mo Yan und vor allem Patrick Modiano haben meinen Horizont nicht unbeträchtlich erweitert.

Und dann das! Heuer sprach die Akademie einer Weißrussin den Preis zu, von der ich zuvor nur gehört hatte, dass ihre Artikelchen mehr als kontroversiell diskutiert wurden. Doch ich wollte nicht vorschnell urteilen und ging wieder in meine Buchhandlung. Dort fand ich aber nichts von ihr. Also fragte ich nach. „Zweiter Stock, Sachbuchabteilung”, hieß es lapidar.

Und zu Recht, wie ich mittlerweile weiß. Ich habe zwar nicht alle sechs Bücher (ja, mehr gibt es nicht – auch im weißrussischen Original nicht!) von Swetlana Alexijewitsch gelesen, und doch überzeugte mich die Lektüre davon, dass die Dame eine durchaus nicht uninteressante Journalistin ist, aber eben beileibe keine Literatin. Man kann also darüber diskutieren, ob Alexijewitsch einen Journalistenpreis, einen Volksbildungspreis oder notabene sogar einen Zeitgeschichtepreis bekommen sollte, aber in Zeiten, in denen die Literatur mehr hervorragende AutorInnen denn je hervorbringt, sollte die Akademie denn doch eine echte Schriftstellerin, einen echten Schriftsteller ehren, denn immerhin ist das der Nobelpreis für Literatur und nicht der „Preis für Magazinpublizistik”.

Und sprechen wir eine simple Wahrheit offen aus: dieser Kür haftet der Geruch politischer Intervention an, und dass so etwas leicht schiefgehen kann, sieht man immer wieder beim benachbarten „Friedensnobelpreis”. In diesem Sinne: Liebe Akademie, schenkt uns nächstes Jahr wieder einen echten Literaturnobelpreis.

Frank_RumpelFrank Rumpel

Meine fünf Favoriten 2015
Giancarlo de Cataldo/ Carlo Bonini: „Suburra”. Wuchtiger Politthriller um eine originär römische Mafia, die da zusammen mit kriminellen Banden, korrupten Politikern, Beamte und kirchlichenWürdenträgern an zwei riesen Bauprojekten richtig Geld verdienen will – bevor sich mit der Abwahl Berlusconis die politischen Verhältnisse ändern. Mit einer guten Prise Sarkasmus immer dicht an der Realität lang, dazu so nüchtern, wie virtuos erzählt.

Merle Kröger: „Havarie”. Ein hoch aktueller, engagierter und politischer Thriller um die Begegnung eines Schlauchbootes voller Flüchtlinge mit einem Kreuzfahrtschiff. Kröger wechselt ständig die Perspektive, packt unglaublich viele Geschichten in diese eine, ohne sich zu verzetteln. Grandios! Hellwach, wunderbar vital und pointiert erzählt.

_VerbranntenRichard Price: „Die Unantastbaren”. Dichter Roman um eine Clique von Cops und ehemaligen Cops in New York. Jeder von ihnen hatte in der Vergangenheit einen schwierigen Fall, einen Kriminellen, den er oder sie nicht schnappen konnte. Das sind die „Unantastbaren”, die keiner aus der Gruppe mehr aus dem Kopf bekommt. Als diese Unantastbaren nach und nach ermordet werden, gerät der noch aktive Cop und Protagonist Billy Graves, den Autor Price auf dessen Nachtschichten durch die Stadt begleitet, in ein Dilemma. Facettenreich und intelligent erzählt, dazu ein präzises Portrait der Stadt bei Nacht. Price hat zudem den Blick für die banalen oder auch mal abstrusen kleinen Momente des Alltags. Großartig!

Antonio Ortuno: „Die Verbrannten”. Wahnsinns-Geschichte um Flüchtlinge aus Süd- und Mittelamerika, die im Süden Mexikos stranden und dort in die Fänge von kriminellen Banden und einer Politik geraten, die auf Verbrechen allenfalls mit leeren Beteuerungen reagiert. Ein zorniger, klasse geschriebener Roman, der längst nicht nur eine Geschichte aus Mexiko erzählt.

Ross Thomas: „Dornbusch”. Einer der besten, bissigsten Ross-Thomas-Romane, wunderbar kühl inszenierter Polit-Thriller um Intrigen, Ränkespiele, Korruption, erzählt von einem, der sich auskannte im Politzirkus und eben so brillant schrieb, dass seine Romane auch heute noch aktuell und in der Lage sind, einem Kapitel für Kapitel den Tag zu retten. Man kann es nur stetig wiederholen: Ein Glück, dass sich der Alexander-Verlag an die Neuauflage seiner Romane gemacht hat.

Alexander Roth CrimeMagAlexander Roth

Auch 2015 habe ich es wieder versucht. Der architektonisch mehr als fragwürdige Bücherstapel neben meinem Bett verrät dem geübten Beobachter jedoch, dass es mir erneut nicht gelungen ist, alle vielversprechenden Neuerscheinungen des Bücherjahres zu lesen. Dementsprechend lückenhaft kommen meine Krimi-Bestenlisten daher, die nicht, wie man vielleicht vermuten würde, mithilfe komplizierter Algorithmen in unterirdischen Rechnerfarmen erstellt wurden, sondern vielmehr die Summe erahnen lassen, die die Verantwortlichen bereit waren, für eine hohe Platzierung hinzublättern. Ich bin dann mal auf Weltreise.

Ani_Der namenlose TagVon hier (und nebenan): Friedrich Ani („Der namenlose Tag”) untermauert seinen Status als der große Literat des deutschen Genrebetriebs. Thomas Raab („Still”), den man eigentlich für seine humorige Metzger-Reihe kennt, lässt den Geist der Romantik wiederaufleben. Merle Kröger („Havarie”) und Zoë Beck („Schwarzblende”) liefern die Polit-Krimis der Stunde und dann ist da noch David Gray („Kanakenblues”), der sich anschickt, in die Fußstapfen von Frank Göhre zu treten. Der deutsche Krimi rockt.

Von anderswo: Lang lebe König Ellroy („Perfida”). Ich hätte auch noch weitere 900 Seiten gelesen. Sprach- und ratlos machte mich ein eher dünnes Büchlein des mir völlig unbekannten Antonio Ortuño („Die Verbrannten”), was ich zur Hand nahm, nachdem Richard Price („Die Unantastbaren”) und sein Energy Drinks schlürfender Ermittler mich um den Schlaf gebracht hatten. So konnte es immerhin kein böses Erwachen geben. Wer Gary Victor („Soro”) gelesen hat, weiß was ich meine. Achja, ohne James Lee Burke („Glut und Asche”) geht natürlich auch 2015 nichts.

Von gestern: Der Trend zu archäologischen Ausgrabungen setzt sich fort. Der Polar Verlag exhumierte den beinahe völlig in Vergessenheit geratenen Großmeister Newton Thornburg („Cutter und Bone”), der Alexander Verlag spendierte Charles Wilefords Bibel des psycho pulp („Miami Blues”) eine Neuausgabe und bei Zsolnay entschied man sich, Richard Starks Parker-Reihe endlich da zu beginnen, wo man sie logischerweise auch beginnen sollte: Am Anfang („The Hunter”). Weniger Grund zur Freude bot die Ankündigung vom Abschied des Metrolit-Verlags, der mir zuvor noch eine unvergessliche Zeit mit Harry Crews („Florida Forever”) bescherte. Bei Liebeskind setzte man dagegen erneut auf Pete Dexter („Unter Brüdern”) und kam so der Werkausgabe wieder ein kleines Stückchen näher.

Und sonst so? Was Kriminalliteratur angeht hatte dieses Jahr niemand auch nur annähernd so viele Treffer zu verbuchen wie der Hamburger Polar Verlag. Danke dafür.

Im Bereich Non-Fiction hat mich „True Crime“ von Sam Millar umgehauen. Die erste Hälfte liest sich wie die Memoiren eines KZ-Überlebenden und die zweite Hälfte wie ein Roman von Dennis Lehane. So unwahrscheinlich das jetzt klingen mag. Außerdem empfehle ich jedem, der sich seit dem literarischen wie filmischen Siegeszug des war on drugs ernsthaft mit dem Thema auseinandersetzen möchte, sich Johann HarisChasing the Scream“ anzuschaffen. Falls Sie lieber zur Übersetzung greifen möchten: Einfach in die nächste Buchhandlung gehen und nach „Drogen“ fragen.

Von der Leinwand: Dass es auch experimentelle Thriller aus Deutschland geben kann, zeigten uns Sebastian Schipper und sein Team mit „Victoria” auf waghalsig artistische Weise. Mir stand fast die komplette Spielzeit über der Mund offen. In den USA wagte sich Paul Thomas Anderson an Vollzeitneurotiker Thomas Pynchon und kredenzte mit „Inherent Vice – Natürlich Mängel” einen herrlich verschobenen Retro-Streifen. Der beste film noir, der mir dieses Jahr untergekommen ist, stammt allerdings aus Indien und heißt „Sunrise”.

Wenn 2016 auch nur annähernd so gut wird, dann verzichte ich vielleicht doch auf die Weltreise und kaufe mir lieber ein neues Regal. Man muss Prioritäten setzen.

schorneckFrank Schorneck

Literarisch war 2015 für mich das Jahr der Wiedersehensfreude: Heiß erwartet hatte ich den zweiten Band der Onno Viets-Romane von Frank Schulz (der ja chronologisch der dritte ist). Gab es beim ersten Band enttäuschte Stimmen aus dem Hardcore-Krimilager, so ist auf dem „Schiff der baumelnden Seelen“ schon von Beginn an klar, dass das Krimi-Genre allenfalls gestreift wird. Dass Frank Schulz zu den sprachbegabtesten zeitgenössischen Autoren zählt, dürfte kein Geheimnis mehr sein, dass er die Humorklaviatur beherrscht ebenso – mit der tragischen Liebesgeschichte, die sich von den Protagonisten fast unbemerkt anbahnt, hat er mich dann auch noch zu Tränen gerührt.

Das zweite Wiedersehen hingegen kam sehr überraschend. Plötzlich stand Jimmy Rabbite vor mir. Zwanzig Jahre sind vergangen seit den glorreichen „Commitments“-Zeiten, Jimmy ist nun selbst Vater und hat Krebs. Doch von der ersten Seite an fühlt man sich wieder zuhause in Roddy DoylesBarrytown“-Universum mit seinen Guinness-getränkten Dialogen und musiktheoretischen Fachsimpeleien. Die große Bedeutung, die diese Fortsetzung für mich hat, wird vielleicht deutlich, wenn ich verrate, dass ich die Frau meines Lebens einst auf einem Konzert der „Komm’ Mit Mann!s“ kennengelernt habe, deren alljährliches Weihnachtskonzert im „Bahnhof Langendreer“ seitdem zu unserem Jahresabschlussritual gehört.

Doyle_PunkAm 15. Juni starb Harry Rowohlt, dessen Übersetzungen so manches literarische Werk veredelten oder auch nur in den Focus des Interesses rückten. 1990 oder 1991 erlebte ich ihn erstmals live auf einer Flann O’Brien-Lesung im Bochumer „Tucholsky“. Die Lesung wurde begleitet durch lautestes Schenkelklopfen eines jungen Buchhandelslehrlings: Jochen Malmsheimer. Von ihm erhielt ich damals die Telefonnummer Harrys und konnte so 1992 die erste gemeinsame Lesung von Harry Rowohlt und Frank Schulz organisieren. Erst Jahre später musste hierfür eine Agentur eingeschaltet werden. Zahlreiche Veranstaltungen haben wir in den vergangenen 23 Jahren bestritten, manches Bier geleert. Durch Harrys Übersetzung bin ich auch auf den irischen Krimiautor Ken Bruen gestoßen. Mit Wehmut habe ich in diesem Sommer in Galway die beiden (vorerst) letzten Bände von Ken Bruens „Jack Taylor“-Reihe gekauft und gelesen. Keine Ahnung, ob Harry noch mit der Übersetzung von „Purgatory“ begonnen hat, „Green Hell“ jedenfalls war im Juli noch druckfrisch. Zwei weitere großartige Hardboiled-Krimis, die von weiteren herben Verlusten für den ohnehin vom Schicksal gebeutelten Privatermittler geprägt sind.

Musikalisches Highlight 2015 ist für mich die neue CD von Therapy?. „Disquiet“ schlägt gekonnt den Bogen vom 1994er Hit-Album „Troublegum“ in die Gegenwart, ohne zur Selbstkopie zu werden. Die Setlist der dazugehörigen Tour erweist sich im April im Kölner „Underground“ als homogene Einheit. Am 14. November im Grenswerk Venlo ist die Schweigeminute für die Bataclan-Opfer am Vortag einer der intensivsten Konzertmomente, die ich je erlebt habe.

Stroby

© Donna Washborn

Wallace Stroby

In random order, some of my cultural highlights of 2015:

The novels of Malcolm Braly: America’s greatest prison novelist. Braly wrote for the Fawcett Gold Medal paperback original line in the 1960s, so his books didn’t get the attention they deserved back then. He spent 18 years in various prisons in the U.S. for a series of petty crimes, and wrote his first novels while an inmate at San Quentin in California. He died in a car accident in 1980, at age 54, after 15 years of freedom. A few years back, New York Review Books reissued his 1967 novel ON THE YARD, maybe the best prison novel ever. Stark House Press has since reprinted two of his earlier novels, SHAKE HIM TILL HE RATTLES and IT’S COLD OUT THERE, in a single volume, which I read this year. Stark House will also reissue his long out-of-print 1976 autobiography, FALSE STARTS: A MEMOIR OF SAN QUENTIN AND OTHER PRISONS next year, along with his first novel, 1961’s FELONY TANK.

The novels of Gene Kerrigan: I picked up Dublin writer Kerrigan’s 2013 novel DARK TIMES IN THE CITY on the basis of the cover and jacket copy, without knowing anything about him or his work. It turned out to be one of my favorite books of 2014, and this year I followed up with his Gold Dagger Award-winning previous novel THE RAGE, which was even better. Kerrigan is one of the best crime writers working today.

Matthew Ryan’s album BOXERS: The 11th album from one of America’s best-kept secrets, and one of its foremost singer/songwriters. Think Springsteen meets Paul Westerberg via Tom Petty and Leonard Cohen, with a totally unique voice. Like Ryan’s 1997 debut MAY DAY, BOXERS is a collection of songs about hard-won hope in the face of adversity.

SICARIO: Denis Villeneuve’s film takes a familiar setting – drug cartels battling on the U.S. and Mexican border – and galvanizes it with a tale of uncertain alliances and moral ambiguity. Playing a young FBI agent, Emily Blunt is the audience surrogate, struggling to understand what’s going on around her, and trying to stay alive at the same time. Benicio Del Toro all but steals the film as a laconic mercenary with his own agenda. It’s a movie that plunges deep into the dark heart of the drug wars, and the collateral damage they leave behind.

trahmsGisela Trahms

Gehen und Stehen
Gehen, klassisch: Im Winterdunkel auf dem Sofa zu liegen und W.G. Sebald (1944-2001) zu lesen, also in der Nachmittagsdämmerung anzufangen und dann bis Mitternacht ununterbrochen fortzulesen, während man nebenbei Zimtschnecken verzehrt und Kaffee und Alkohol hinterher schickt, damit Augen und Seele sich weiten, gleicht einer stetigen, gewundenen Wanderung hügelauf, hügelab, durch Städte und Dörfer, an Seen vorbei und an Meeren, immer einem Leitfaden folgend, der aus Landschaften und Lektüren gesponnen wurde, aber auch aus Musik, naturgemäß voller Gefühle und von Schwindel bedroht. So heißt dieser Prosaband (Sebalds erster, nach seinem Debüt mit einem außerordentlich langweiligen Langgedicht) „Schwindel. Gefühle.“ (mehr hier) mit zweimal einem Punkt, zum Innehalten und Bedenken. Dr. K. reist darin aus Prag nach Riva und das erzählende Ich in die Heimat nach W., und leicht lässt sich aus Sebalds Lebenslauf erschließen, welcher Ort damit gemeint sein könnte. Andererseits trägt die Geschichte den Titel Il ritorno in patria, wie Monteverdis Oper über Odysseus, und da kann man sich Sebald, dies schreibend, nur als Lächelnden vorstellen, denn wer reicht schon an diesen Helden aller Helden heran!, und deshalb hat er das „di Ulysse“ auch einfach gestrichen. Wie alle Sebald-Texte sind auch diese vier Geschichten mit kleinen Schwarz-Weiß-Bildchen durchsetzt, darunter unscharfe Fotos von mystischen Zettelchen und Hotelrechnungen, und wie die Wege wollen auch die Sätze kaum je enden, und wer den Wörterrausch sucht, wird ihn hier finden.

antrim_lichtStehen, aktuell: Steht ein Mann in einem Blumenladen in Manhattan und will seiner Frau ein paar Blumen kaufen, weil er sich schuldig fühlt. Wieso? Na, er hat sie betrogen mit einer Frau, die ebenfalls verheiratet ist und deren Mann ein Verhältnis hat mit na, kann man sich ja schon denken, und alle vier sind zudem miteinander befreundet und wollen an diesem Abend zusammen essen, aber der Blumenkäufer ist psychisch labil und war auch schon wochenlang na wo, weiß man schon und er findet die Blumenverkäuferin so bezaubernd und seltsam mitfühlend, dass er mit dem Kaufen gar nicht aufhören kann, und daher steht er und steht, während der Strauß immer teurer wird, bis endlich alle vier im Restaurant sitzen und stop, jetzt nichts mehr verraten. Eine Wahnsinnserzählung, und wenn irgendein Autor den Wahnsinn kennt und darüber schreiben kann, dann Donald Antrim. Die Geschichte ist in der Anthologie „New American Stories“ (mehr hier) zu finden, erschienen bei Granta in London bzw. Vintage Books New York, zusammen mit 31 anderen, einige ebenfalls sehr, sehr gut. Ein Paperback, dankbar gefunden in Holland und noch gar nicht ganz bewältigt, aber Antrims Text gibt’s auch auf Deutsch, in diesem funkelnagelneuen Buch.

WoertcheThomasThomas Wörtche

Irgendwie sind Jahreshighlights ungerecht. Die vielen guten Bücher des Jahres sind rezensiert (ein paar bemerkenswert schlechte leider auch) wie´s der Job erfordert. Übriggeblieben sind die, die ich eigentlich hätte ausführlichst besprechen wollen und sollen, die aber, weil auch mein Tag nur 48 Stunden hat, liegengeblieben sind. Das ist frustrierend. Besonders weil ausgerechnet die eher Herzblutbücher sind. Aber Highlights, an denen ich mich geweidet habe, sind sie. Ganz klar.

Eine unglaublich wichtige und große verlegerische Leistung ist die James Tiptree jr.Ausgabe des Septime Verlags. Science Fiction von einem anderen Stern zusagen. Der Autor-Name ist ein Pseudonym von Alice B. Sheldon, deren spannende Biographie von Julie PhillipsJames Tiptree Jr. Das Doppelleben der Alice B. Sheldon“ der Verlag auch gleich mitliefert. Tiptree-Texte sind sofort an ihrem Sound zu erkennen. Sie sind im besten Sinn spröde, oft komisch, spekulativ, klischee-frei oder Klischees kritisch verarbeitend. Weit weg von jedem Weltraumgeballere, originell und nicht nur für das Genre innovativ. Einer der dialektischen Fälle, in denen Genre-Schubladen mehr als fragwürdig werden, aber dennoch sinnvoll sind. Denn die Zukunft der Menschheit ist Tiptrees großes Thema. Ihr Blick ist kritisch, gesellschaftskritisch meinethalben, skeptisch, aber nicht dystopisch. Cool, engagiert, aber niemals gefühlig. Ihre Prosa, sowohl in den Kurzgeschichten, die ihre Hauptwerk ausmachen, aber auch in den beiden Romanen, siedelt näher an Kafka als am Mainstream. Sie ist ein Klassiker des 20. Jahrhunderts, dessen intellektuelle Schärfe und Brillanz nicht museal ist, sondern so viele Vektoren ins Hier und Jetzt hat, dass man sich mit ihr noch lange wird beschäftigen müssen.

Kaestner_herr aus glasEin Highlight auch die Aktivitäten des Atrium Verlags zum Werk Erich Kästners. Prototypisch der Reader „Der Herr aus Glas“, der teilweise unbekannte, verschollene und vergessene Prosa Kästners versammelt. Deutlich wird dabei sichtbar, wie sehr Kästner, bei all seiner manchmal etwas massiven Sentimentalität, zur Neuen Sachlichkeit gehört, wie glasklar und präzise seine manchmal grausamen Vignetten aus dem Alltag kleiner Leute seiner Zeit, heute noch erschreckend, Mentalitäten und Dispositionen in Literatur umsetzen. Im Kleinen das Große sichtbar machen als poetologisches Programm. Spannend auch zu sehen, wie Kästner in seinen kleinen Feuilleton-Texten Szenen, Konstellationen und Plot-Elemente präfiguriert, die dann später in seinen berühmten Bücher („Emil und die Detektive“, „Pünktchen und Anton“ etc.) wieder auftauchen, so wie etwa Chandler seine Short Stories für die Romane cannibalized hat. Und nicht vergessen: Im Literaturhaus München läuft derzeit (noch bis Februar 2016) ein schöne Kästner-Ausstellung.

Kein Mensch, der sich ernsthaft mit Texten, Bildern und anderen Zeichensystemen befasst, kommt um Roland Barthes herum. Ob man ihm folgen kann oder will, ist egal. Sein Programm des „instabilen Erfassens der Realität“ lehrt genau hinzuschauen, nicht in Reflexions-Schablonen zu verfallen, auch das Abwegigste und Marginalste mitzudenken und zu beachten. Seine Bücher und Aufsätze stecken voller genialer Momente und Beobachtungen, sein pointiert un-systematisches Denken, sein Verzicht auf knallige Thesen, sein spezifisches Umkreisen von Sachverhalten und Phänomenen der Moderne, seine Art, Oberflächen auszuleuchten, kulminieren im Ganzen gesehen zu einer sehr reflektierten Methode, sich die Welt der Zeichen und somit die Welt anzusehen. Man kann von Roland Barthes ungeheuer viel lernen. Umso erstaunlicher, dass es bis jetzt eine ausführliche, detaillierte und materialreiche Biographie so recht eigentlich nicht gab, aber voilà – da ist sie: Tiphaine Samoyault: „Roland Barthes. Die Biographie”.

samoyault_barthesLeichte Lektüre scheint das zunächst nicht zu sein, weil man den Eindruck hat, Samoyault wollte Barthes´scher als Barthes sein. Alles, aber auch alles in seiner Biographie scheint auf sein Werk vorauszudeuten, scheint schon beinahe intentional genauso passiert zu sein, um einen wichtigen Aspekt in seinem Denken Jahrzehnte später zu illuminieren. Man könnte an der Stelle beinahe sagen, Samoyault mache das Leben Barthes in Bezug auf seine Werke „passend“, vor allem dann, wenn sich die Argumentation auf Metaphorisches stützt. Dann kann aus jedem Kahn die „Argo“ oder das „Bateau ivre“ werden. Aber mit fortschreitender Lektüre erweist sich diese Methode als zunehmend faszinierend. Barthes Denken ist ja direkt mit seiner „Körperlichkeit“ verknüpft und die verändert und modifiziert sich im Laufe des Lebens fortwährend, bleibt aber immer seine Körperlichkeit (nicht im reduzierten Sinne von body, klar) und die manifestiert sich nunmal in seiner Biographie. Hat man diesen Schlüssel, kann man die Biographie, die sehr elegant herüberkommt (dank der Übersetzung von Maria Hoffmann-Dartevelle und Lis Künzli) leicht und entspannt lesen. Was Barthes vermutlich sehr gefallen hätte.

Umschlag_Lexikon.inddApropos: Einer der bekanntesten Texte von Barthes ist „Der Tod des Autors“ von 1968. Das ironisch-paradoxe Gegenprogramm, sozusagen, bietet anscheinend „Das biographische Lexikon vom literarischen Scheitern“ von C. D. Rose. Oder? Erschienen in der wie immer großartigen, liebevollen und handwerklich perfekten Aufmachung von Gudrun Fröba bei :transit. Kennen Sie u.a. Hans Kafka, Pasquale Frunzio, Maxim Maksimich, Hermann von Abwärts, Otha Orkut, Marta Kupka, Elise la Rue, Sara Zeelen-Levallois oder das Beasley Kollektiv? Ihre Namen haben überlebt, ihre Werke sind allesamt verschollen, verschwunden, verfeuert oder auch niemals beendet oder gar geschrieben worden. Behauptet fröhlich der Herausgeber C.D. Rose, über den man auch nicht allzuviel weiß. Natürlich kennt man keinen einzigen Namen, aber sie alle hätte es gegeben haben können – oder auch nicht.

So wie Lord Frederick Rathole zum Beispiel, der zunächst einmal eine riesige Bibliothek für sein Gesamtwerk bauen ließ, aber deswegen leider nicht mehr zu diesem Gesamtwerk kam. Oder Veronica Vass, die in Bletchley Park arbeitete und ihre Texte so verschlüsselte, dass sie niemand lesen konnte. Oder Ellen Sparrow, die so manisch schrieb, dass keine freie Fläche verschont blieb und die, nachdem man sie deswegen in die Psychiatrie gesteckt hatte, so winzig klein Toilettenpapier beschrieb, dass man auch mit der Lupe nichts entziffern konnte. Und so weiter. Obwohl alle diese Autoren namentlich überlebten (wenn auch nur in der Fiktion des „Lexikons“), hatten sie doch nie Kontrolle über ihr Werk. Womit wir letztendlich wieder bei Barthes´ totem Autor wären. Natürlich ist – comme il faut – das ganze „Lexikon“ gespickt mit Jokes und Anspielungen quer durch die Literaturgeschichte, ein klassisches Buch über (nicht-existierende) Bücher, aber derart intelligent und elegant gemacht, dass man auch noch Tomus 2 und Tomus 3 freudig begrüßen würde. Man lernt nie aus, im Reich der Fiktionen.

Crepax_valentinaSowas von 1960s war Valentina, die weltberühmt gewordene Figur des italienischen Zeichners Guido Crepax. Pop-Kunst vom Feinsten. Und jetzt wieder in aller Ausführlichkeit in einem Prachtband beim avant-verlag zu betrachten. Als Abenteuer/Crime-Comic eine nahe Verwandte von Modesty Blaise, aber bedeutend sexyer gezeichnet. Man kann mit Umberto Eco (von ihm stammt das Vorwort) die Innovationskraft von Crepax bestaunen, was das Erzählen in Bildern angeht, man kann konstatieren, dass Crepax ohne die Nouvelle Vague des Kinos nicht zu denken ist.

Man kann sich an dem vergnügten Umgang mit der verschiedensten Fetischismen (Emma Peel läßt auch grüßen) erfreuen, man kann überlegen wie sexistisch oder emanzipatorisch das Unternehmen so sein mag. Man kann darüber staunen, wie früh Crepax schon das gemacht hat, was man heute als state of the art zu betrachten geneigt ist. Am meisten aber, vor allem als Crepax-Fan seit jenen Jahren, dem er allerdings für Dekaden vom Schirm gerutscht war, kann man sich daran laben, wie gut die Bilder heute noch funktionieren. Die Stories allerdings traten auch schon in der damaligen Wahrnehmung hinter den Schauwerten von Valentina-Strips zurück. Aber das war und ist immer noch kein Manko. Das Primat des Ästhetischen, das nicht an irgendwelche doofen Realismen gebunden war, macht heute noch die Qualität von „Valentina“ aus.

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Zu Teil I des CulturMag-Jahresrückblicks 2015.

Feiern Sie schön, erholen Sie sich ein bisschen & rutschen Sie gut ins neue Jahr!
Herzlich, Ihre
Zoë Beck, Jan Karsten, Tina Manske, Alf Mayer, Thomas Wörtche, & die gesamte CulturMag-Crew

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