Geschrieben am 31. Dezember 2020 von für Highlights, Highlights 2020

CulturMag Highlights 2020, Teil 5 (Ertl – Feldmann – Friederici – Gehrke – Geier – Gentill)

Stefan Ertl –
Joachim Feldmann –
Michael Friederici –
Claudia Gehrke –
Monika Geier –

Stefan Ertl

Filme EIN CALLGIRL FÜR GEISTER (Klaus Lemke)*CHANGE OF HABIT (William A. Graham)* COUNTRY MUSIC (Ken Burns)*DRIVEWAYS (Andrew Ahn)*DIE ENGLISCHE HOCHZEIT (Reinhold Schünzel)*LA FOTO PROBOIBITE DI UNA SIGNORA PER BENE (Luciano Ercoli)*DAS GEHEIMNIS DES TOTENWALDES (Sven Bohse)*GHOSTS OF MARS (John Carpenter)*GIANT LITTLE ONES (Keith Behrman)*GRAND ISLE (Stephen S. Campanelli)*LES GRANDES GUEULES (Robert Enrico)*THE HEARTBREAK KID (Elaine May)*HEISSER SAND (Bruno Sukrow)*HELGA – DIE ZWEI GESICHTER DER FEDDERSEN (Oliver Schwabe)*HEUTE HAU´N WIR AUF DIE PAUKE (Ralf Gregan)*A HIDDEN LIFE (Terrence Malick)*HINTER KLOSTERMAUERN (Harald Reinl)*JIMMY CARTER: ROCK & ROLL PRESIDENT (Mary Wharton)*JUSQU´AU DÉCLIN (Patrice Laliberté)*MILANO CALIBRO 9 (Fernando Di Leo)*PHENOMENA (Dario Argento)*LES PLUS BELLES ANNÉES D`UNE VIE (Claude Lelouch)* RICHARD JEWELL (Clint Eastwood)*LOS RITOS SEXUALES DEL DIABOLO (José Ramón Larraz)* #SARAITDA (Il Cho)*STRANGERS WHEN WE MEET (Richard Quine)*IL TRADITORE (Marco Bellocchio)***Musik THE ABDUL HASSAN ORCHESTRA: ARABIAN AFFAIR*TANJA BERG: Na Na Hey Hey Kiss Him Goodbye*BILL CALLAHAN: Gold Record*CELESTE: Compilation 1.1*KLAUS DINGER & JAPANDORF: Japandorf*BOB DYLAN: Rough And Rowdy Ways*WALTER GIBBONS: Jungle Music* GOLF: Rave On*CONRAD GREENLEAF: Radicus e.p.*HAIM: Women In Music Pt. III*KIMBO: Scho No Geil*LADY GAGA: Chromatica*LITTLE ANN: Deep Shadows*LAURA MARLING: Song For Our Daughter *RÓISÍN MURPHY: Róisín Machine* WILLIE NELSON: First Rose Of Spring*JACK NITZSCHE: Jack Nitzsche*PET SHOP BOYS: Hotspot*ELVIS PRESLEY: From Elvis In Nashville*SMOKEY ROBINSON: A Quiet Storm*THE ROLLING STONES: Living In A Ghost Town*WILLIAM SHATNER & JEFF COOK: Hush Her With A Kiss*STURGILL SIMPSON: Cuttin´ Grass Vol.1*TAME IMPALA: The Slow Rush*THE UNIQUES: Absolutely The…Uniques*JESSIE WARE: What´s Your Pleasure?*YO LA TENGO: We Have Amnesia Sometimes*NEIL YOUNG: Homegrown***Bücher EIKE GEISEL: Die Gleichschaltung der Erinnerung*THOMAS MULLEN: Weißes Feuer*J.A. NAGL: Die Superglatze: Otto Retzer – Ein Leben wie im Film*UWE NETTELBECK: Der Dolomitenkrieg*GEORGES SIMENON: Maigret bei den Flamen*GEORGES SIMENON: Maigret in Künstlerkreisen*GEORGES SIMENON: Maigret stellt eine Falle*ROSS THOMAS: Der Fall in Singapur*MARV WOLFMAN & GENE COLAN: Die Gruft von Dracula (Bd.1,2)***

Stefan Ertl ist Autor und Redakteur der von uns sehr geschätzten Filmzeitschrift SigiGötz-Entertainment. Ein Jahresabonnement kostet schlanke 14 Euro, bringt echtes Herzblut ins Haus. Der Nachruf von Hans Schifferle auf Wolf-Eckart Bühler in diesem Rückblick – siehe unter S – ist zuerst dort erschienen.

Joachim Feldmann

(c) Literaturzeitschrift „Am Erker“

Gerade habe ich mich dabei ertappt, mal wieder eine Seite des Feuilletons der Sonntagszeitung zu überblättern. Damit verzichte ich freiwillig auf einen weiteren Artikel anlässlich des 250. Geburtstags Ludwig van Beethovens. Dass ich mir solche Ignoranz angesichts des immer geringer werdenden Umfangs der Zeitung, deren gedruckte Exemplare immerhin 4,50 Euro kosten, leiste, ist, so paradox es klingen mag, ein Zeichen des Mangels. Die Tagespresse, wie ich sie kannte und schätzte, gibt es nicht mehr. Und meine morgendliche Lektüre gleich mehrerer Blätter ist wahrscheinlich nur die Simulation einer in Jahrzehnten eingeübten Gewohnheit. Und ich bin mir nicht sicher, wie lange ich noch bereits sein werde, dafür Geld auszugeben.

Umso lieber vertiefe ich mich in Berichte über intellektuelle  Scharmützel der Vergangenheit. Wunderbar gelingt dies mithilfe der, beinahe 900 Seiten umfassenden, posthum erschienenen Studie Medienintellektuelle in der Bundesrepublik des 2019 verstorbenen Historikers Axel Schildt, aus der sich nicht zuletzt lernen lässt, dass die meinungsstarken Geistesgrößen, egal ob konservativ, reaktionär oder linksliberal eingestellt, an dem, was man gemeinhin Realität nennt, nur bedingt interessiert waren. So klagte Helmut Schelsky 1956, als die durchschnittliche Arbeitszeit um die fünfzig Wochenstunden betrug, über das angeblich von vielen Menschen empfundene Problem, die „Freizeit zu vertreiben“. „Barer Unsinn“, befindet Schildt.

Zurück in die fünfziger Jahre führt auch ein Kriminalroman, den ich leider erst spät in die Finger bekam. Die rote Hand von Jürgen Heimbach erzählt die Geschichte des ehemaligen Fremdenlegionärs Arnolt Streich, der sich in der frühen Bundesrepublik nicht zurechtfindet. Es ist die Zeit des algerischen Unabhängigkeitskriegs, französische Geheimdienstler sind auch in Deutschland aktiv, um gegen Unterstützer der Befreiungsfront FNL vorzugehen, Sprengstoffanschläge inclusive. Streich gerät unter Druck, heraushalten kann er sich nicht. Und er ist allein. Heimbach findet für diese fast existentialistisch anmutende Kriminalstory den richtigen Ton – taff und auf den Punkt,  aber dennoch voller Empathie für seinen gebrochenen Helden. Zu Recht hat er für Die rote Hand den „Glauser 2020“ als bester Kriminalroman des Jahres erhalten. Und das bei starker Konkurrenz. Sven Heuchert zeigte mit seinem finsteren Provinzroman Alte Erde erneut, dass er zu den besten Stilisten hierzulande gehört, und dieses Urteil beschränkt sich nicht auf Spannungsliteratur. Max Annas demonstrierte mit dem zweiten Band seiner zeitgeschichtlichen Krimireihe um die Morduntersuchungskommission. Der Fall Melchior NIkoleit, wie sich nüchtern und gleichzeitig engagiert erzählen lässt. Und Frank Göhre verdiente sich mit seinem knapp getakteten Noir-Stück Verdammte Liebe Amsterdam wieder einmal den Ehrentitel „Altmeister“.

International gab es auch wenig zu meckern. Hervorzuheben ist wie schon in den vergangenen Jahren die engagiert Arbeit der kleinen Verlage. Großartige Bücher verdanken wir unter anderem Polar (Ron Corbett, Sam Hawkens), Pendragon (James Lee Burke) und Ariadne/Argument (Denise Mina, Dominique Manotti).

Für die Begleitmusik zur Lektüre sorgten 2020 übrigens die Wiederveröffentlichungen legendärer Blue-Note-Schallplatten. Mit Art Blakey, Freddie Hubbard, Lee Morgan und Kollegen ließ es sich wunderbar drinnen aushalten. Und damit soll diese Retrospektive enden, denn von den unangenehmeren Seiten des vergehenden Jahres möchte ich lieber schweigen.

Literatur:
Jürgen Heimbach: Die rote Hand. 288 Seiten. Zürich: Unionsverlag 2020. € 13,95.
Sven Heuchert:  Alte Erde. 224 Seiten. Berlin: Ullstein 2020. € 22,00.
Max Annas: Morduntersuchungskommission:  Der Fall Melchior NIkoleit. 327 Seiten. Hamburg: Rowohlt 2020. € 20,00.
Frank Göhre: Verdammte Liebe Amsterdam. 168 Seiten. Hamburg: Culturbooks 2020. € 15,00

Die Texte von Joachim Feldmann bei CrimeMag hier. Seit 1977 macht er zusammen mit Michael Kofort und anderen die Literaturzeitschrift Am Erker. Zudem ist er bei so gut wie jeder Lieferung der Bloody Chops dabei.

Monika Geier: Das Reich Gottes im fremden Italien

Macht ihr das auch manchmal, dass ihr zwei Bücher nebeneinander lest, sodass die beiden sich ergänzen, so wie Radicchio und rosa Pfeffer? Wenn ja, dann hätte ich einen Tipp mit zwei Werken aus dem letzten Jahr, die gemeinsam noch viel besser werden. Lest doch mal Das Reich Gottes von Emmanuel Carrère gemeinsam mit Italien – Portrait eines fremden Landes von Thomas Steinfeld. Diese beiden Bücher haben eigentlich wenig miteinander zu tun, passen aber wunderbar zusammen. Im Reich Gottes beleuchtet Carrère seine eigene Religiosität und spätere Gottlosigkeit und entwirft dabei höchst kenntnisreich ein lebendiges und erstaunliches Bild des frühen Christentums um den Apostel Paulus. Carrère schreibt selbstbezogen, fast eine Spur eitel, aber das ist herrlich, denn so glaubt man ihm seine Kämpfe. Viel sachlicher, aber voller ungeahnter Einblicke und scharfsinniger Beschreibungen ist Steinfelds Portrait des fremden Italien. Was die Bücher verbindet? Beide gehen auf kluge, kritische und ergebnisoffene Weise an ihre so atemberaubend monumentalen Themen heran. Und dann haben Italien und das Christentum eben doch miteinander zu tun. Radicchio und rosa Pfeffer, sage ich nur.

Von Monika Geier erschien zuletzt Alles so hell da vorn. Eine Anmerkung zu KrimisMachen 4 von ihr hier
Weitere Texte bei uns.

Claudia Gehrke

Claudia Gehrke © Gudrun Bleyl

2020. Gruselelemente auf dem Sofa bei nächtlichen Lektüren. Bücher, die aus den Abgründen unspektakulären Alltags erzählen. Geschichten nah an der sozialen Realität. Die kann auch irgendwo anders auf der Welt oder in der Vergangenheit liegen. Ein Roman um eine einsame junge Frau, die sich hässlich fühlt, nicht wert, gemocht zu werden. Ihre Tagträume von „wahrer Freundschaft“ führen in die Katastrophe. Klimawandel, verschwindende Tiere, Finanzmachenschaften kamen in weiteren Romanen vor, die mir aus meinen Lektüren dieses Jahrs besonders in Erinnerung sind. Ein Fall führt von Nazis zu Biotechfirmen, Politik und Rassismus. Und die Pest. Aus dem „sicheren Sofaabstand“ heraus, mitgesogen von kunstvoll erzeugter Spannung, nachdenken über große Probleme. Dann einen Verkäufer im Biosupermarkt fragen, wieso alle Stücke in deren riesiger Biokäsetheke in Plastik verpackt seien. Die Horror-Plastikmengen im Meer, die Fische, die daran ersticken, die Küstenseeschwalben, die, weil sie keine Fische mehr finden, aussterben – darum geht es in dem Roman Zugvögel von Charlotte McConaghy, und um das aufregende Reise-Abenteuer (mit ein paar Kitschelementen) einer Ornithologin, die sich auf die Suche nach den letzten Vögeln macht – im Hintergrund Traumatisches aus ihrer Vergangenheit, die Leserin fragte sich eine Zeitlang, ob sie ihren Mann, mit dem sie dauernd spricht,  getötet hat – ein empfehlenswerter Roman, auch wenn er mir nicht ganz so gut gefiel wie mein „Wildnis“-Highlight aus 2019 Ich lebe noch von  Kate Alice Marshall.

Die Pest war nicht die von Camus, sondern taucht im Roman Judith und Hamnet von Maggie O’Farrell auf. Es geht um eine mutige Frau und ihre Kinder. Die Frau gilt als Sonderling (ein Vogel spielt auch eine Rolle) und dann wählt sie auch noch den Mann selbst aus, gegen den Willen ihrer Familie. Der Roman beginnt damit, wie eines ihrer Kinder, Hamnet, auf der Suche nach seiner Mutter durchs Haus und die Handschuhwerkstatt der Großeltern läuft. Die Mutter sei irgendwo auf ihrem gepachteten Stück Land. Die Atmosphäre der Räume, die Menschen, die Gegend sind so geschildert, dass ich sofort mittendrin und hineingesogen war. Das 16. Jahrhundert. (Ich lese vor allem Bücher, die in der Gegenwart oder näheren Vergangenheit spielen, und war überrascht, wie schnell der Roman mich packte). Der Junge will seine Mutter holen, da seine Zwillingsschwester Judith beim Spielen von einer Sekunde auf die andere schwer krank geworden war. Eingeblendet in die Gegenwartshandlung ist die Geschichte der Frau, der Familie. Der Vater arbeitet in London als Schauspieler und Theaterautor. Jahre später schreibt er ein Stück über den Zwilling. Ich habe das Buch nicht als Shakespearebiografie aus Sicht der Frau gelesen, sondern als atmosphärisch dichten Text über Krankheit und Leben in einer nur auf den ersten Blick fernen Zeit. Und über Geschwisterliebe. Gegen Ende fand ich es etwas zu dick aufgetragen … Aber natürlich ist es möglich, dass schwer erkrankte Menschen andere anstecken, selbst überleben, während Angesteckte sterben. Es gibt auch ein unterhaltsames Kapitel über den verschlungenen Weg des Erregers (bzw. der Gastwirte des Erregers, den Flöhen) quer durch die Welt.

2020 begann mit Schreckensbildern von Bränden, die Jahr für Jahr schlimmer werden, von unvorstellbar vielen verbrannten Tieren in Australien, apokalyptisch. Kurz darauf, ich saß im Auto vor unserem Mailorderraum, Blick auf Schornstein und Baumskelette im Abendlicht, und hörte Nachrichten. Abgesperrte Millionenstadt, sterbende Menschen, schnell errichtete Notfallkliniken. Exponentiell. Die Nachrichten zu hören erzeugte fast einen ähnlichen (anfangs surrealen) Schrecken wie die Nachrichten am 11.9.2001, die ich beim Autofahren (ich holte eine Performerin für unsere Verlagsrevue Love Bites vom Bahnhof ab) hörte und im ersten Moment dachte, es würde ein Kinofilm oder Roman vorgestellt. Diesmal wusste ich vorher von dem Virus, aber das Virus war bis zu diesen Nachrichten und dem – danach oft wie nie zuvor gehörten – Wort „exponentiell“ so weit weg wie Mars, Vogelgrippe, Rinderwahnsinn. Sterben gehört zum Leben, immer, in jedem Jahr, auch brutale Tode kommen (leider) immer vor, ertrunkene Geflüchtete, Kriegstote. Doch in diesem Jahr wurden alle verschärft mit dem Sterben konfrontiert. Und ich verbrachte besonders intensive Zeiten mit „Tod“ – als Buchthema. Wir arbeiteten schon seit letztem Jahr daran, nicht ahnend, dass uns eine Pandemie bevorsteht und dass auf einmal viele über die Fragilität des Lebens und das Sterben nachdenken. Die opulente Nummer 56 von Konkursbuch zum Thema „Tod“ (456 Seiten) erschien im Herbst. Auch einige CulturMag-Autor*innen machten mit. Viele Menschen aus unterschiedlichen Szenen, Professionen und Altern schickten Sachtexte, Essays, Bilder und offene Berichte über Lebenserfahrungen mit der Sterblichkeit, dem Sterben, dem Tod. Danke an Alf Mayer für die mitreißende Besprechung in der Septemberausgabe von CulturMag! 

Coronadiskussionen auf allen Kanälen. Der immer noch nicht vollständig beendete, absurde Trumpkrimi, den ich eine Weile lang klickend täglich verfolgte. Zuletzt las ich, er vernichtet Regierungsunterlagen. Rassistische Anschläge. Islamistische Anschläge. Rechte Netzwerke. Ich verbrachte wie vermutlich alle mehr Zeit vor Nachrichten und Talkrunden als in den letzten Jahren.

Zwischendurch brauche ich politik- und realitätsfernen wilden „Nonsens“. Einfach sprachlichen Assoziationen folgen. Das waren auch Bücher wie Spukgedichte für Kinder und Letzte Runde Geisterstunde (Nadja Budde) – bevor ich sie als Geschenk verpackte.

Ein weiteres Buch, das von poetischen Wortkombinationen handelt und einem zarten  Protagonisten in seine täglichen Rituale, seltsamen Gedanken und Ängste inmitten der 2020er Gegenwart folgt, und in die Freundschaft mit einem (teils unheimlichen) Mann aus China,  ist das neue Buch von Yoko Tawada Paul Celan und der chinesische Engel aus meinem Verlag, das ich hier ebenso wie das Konkursbuch „Tod“ eigentlich nicht als persönliches Lesehighlight erwähnen müsste, denn es ist ja klar, dass Verlags-Bücher unter den  Höhepunkten meiner diesjährigen Lektüren auftauchen, „und diese ganze Geschichte legt sich dann buchstäblich als wärmende Hand aufs Herz … ein wundersames, wertvolles Stück Prosa“ (Wilhelm Triebold im Schwäbischen Tagblatt)

Im ersten Lockdown der von vielen gelobte kondensstreifenfreie romantische Himmel, die Hoffnung, dass sich vielleicht was zum Guten wenden könne, weniger Fliegen, weniger Treibhausgase. Das wäre selbstverständlich schön. Dazu romantische Ruhe, echte Stille (jetzt wieder, während der aktuellen nächtlichen Ausgangssperre in Baden-Württemberg. Auch auf meiner „Dorfgasse“ gibt es sonst fast täglich nachts um halb zwei laute Jugendliche und am früheren Abend plaudernde ältere Nachbarn. Die Stille in den Städten muss noch einiges „größer“ sein, und ich empfinde sie als etwas unheimlich und nicht nur schön). Den romantischen Himmel fand ich auch schön, zugleich wirkte auch der auf mich manchmal leicht unheimlich. Glasklar hellblau, völlig leer. Lag vielleicht nur an den häufigen wolkenfreien und warmen Tagen im Frühjahr. Als gäbe es niemanden mehr auf der Welt. 

Eine – viel kürzere – Zeit ohne Flugzeuge gab es zuletzt 2010.  Der Ausbruch des Eyjafjallajökull hat einen kurzen Auftritt in meinem letzten Lesehighlight dieses Rückblicks: die ersten beiden Bücher einer Trilogie von Lilja Sigurðardóttir (auch wenn mich im zweiten Band ein erzählerischer „Kunstgriff“ etwas störte, den ich als überflüssig empfand, die Spannung wäre auch ohne diesen nicht beeinträchtigt). Der dritte Band erscheint erst 2021. Schon jetzt beginnen sich mir Klarheiten, die ich kurzzeitig beim Lesen empfand, zu entziehen. Zu viele andere Bücher danach. Ich hatte beim Lesen (fast) verstanden, wie die große Finanzkrise hatte entstehen können, mit welchen Ticks Finanzprofis sich bereichern und Banken und sogar Staaten in Gefahr bringen. Und mit welchen Tricks sie sich bei späterer Anklage zwar nicht herauswinden, aber doch so geschickt manipulieren, dass (in den ersten beiden Bänden) nur die „kleineren“ Vergehen ans Tageslicht kommen und bestraft werden. Manche „opfern“ sich gegen Geld und übernehmen die Rolle des Sündenbocks. Wenige Jahre Haft und danach reich. Das Netz und Die Schlinge spielen 2010, 2011 in Irland nach der Pleite. Perfekte Titel. Alle Figuren in dem ersten Buch verfangen sich in einem Netz. Eine der Hauptprotagonistinnen arbeitet als Drogenkurierin (gut nachvollziehbar, wie sie überhaupt dazu kam, kriminell zu werden, und ebenso ihre Versuche, sich aus dem Netz zu befreien. Doch mit jedem Versuch rutscht sie tiefer hinein). Eine zweite Protagonistin ist ihre Gelegenheits-Geliebte (beide wollen eigentlich mehr von der anderen, als sie sich gegenseitig in ihrer jeweiligen „Coolness“ sagen würden) und eine skrupellose Finanzmanagerin. „Es machen doch alle“, sagt sie zur Verteidigung. Unsympathisch ist sie trotzdem nicht. Die beiden und alle weiteren Figuren sind in Netze und sich zuziehende Schlingen verstrickt. Und nebenbei, sehr nett, erfahren die Leser, die sie nicht schon kennen, kleine Geheimnisse, was zum Beispiel Ananasessen für Wirkungen haben kann …  

Claudia Gehrke führt den kleinen, feinen Konkursbuchverlag. Themenschwerpunkte sind Frauen, Erotik und Kunst. Die im Herbst 2020 erschienen Anthologie „Tod“ bei uns von Alf Mayer besprochen.

Michael Friederici

1. Katholischer Ästhetizismus: Mit Huysmans in Lourdes und um Lourdes herum

114 Jahre nach seiner Erstveröffentlichung im Jahre 1906 wurde Lourdes von Joris-Karl Huysmans, dem Übervater der Dekadenzliteratur, zum ersten Mal ins Deutsche übertragen. Damals war Lourdes bereits einer der weltweit bekanntesten katholischen Wallfahrtsorte mit mehr als einer Million Pilger. – Huysmans Lourdes ist auch für Nichtgläubige eine Wallfahrt wert, eine Lese-Wallfahrt zu einem orgiastischen Sprach-Fest: „… Dieses Kirchenschiff … ist offensichtlich das Werk der Eingebung eines Spielsüchtigen mit Glückssträhne und eines Küsters im Delirium,aber es geht noch schlimmer … Es ist nämlich nicht einfach nur schlecht, … es ist albern und schmalzig, schrill und unsinnig… Es handelt sich … hier um die absolute handwerkliche Unfähigkeit gesteigert durch die infantile Sentimentalität des Arbeiters aus katholischem Umfeld, der einen im Tee hat!

2. Zurück zur Normalität – oder: Advent mit Karl Valentin 

Wer von uns mittlerweile weißhaarigen Teetrinkern des Profanen hat denn geglaubt, noch einmal erleben zu dürfen, dass sich echte Adventsstimmung breitmacht? Just während der christlichen „Ankunft“ warten auf einmal alle aufs Christkind, selbst Atheisten und sogar diejenigen, die nicht mehr an Borussia Dortmund glauben. Die Erlösung heißt Impfstoff. Wobei die säkulare Heilslehre ja damit wirbt, dass die Rettung im Zurück zur „Normalität“ liegen soll. – Der Psychoanalytiker Erich Fromm bezeichnete die marxsche Kategorie der Entfremdung als „Pathologie der Normalität“. Das war damals, als es noch um „Herr und Knecht“, „Kapital und Arbeit“ und solche theoretischen Sachen ging, und nicht um die praktischen Dinge, die wirklich und wahrhaftige repressionslindernde und revolutionär befreiende Wirkung gendergerechtsneutraler Sternchenstotterer/Innen und -Außen (Entschuldigung: Besonders SprechbegabterInnen*) beim geschlechtergerechten Schreiben, sternchengepflastertem Sprechen und generisch maskulinfreiem Denken. – Hoffentlich wird die Normalität der Normalität nicht so schlimm, wie er/sie/es schon ist! – Valentin: „Aber bitte lassen Sie mich doch erst ausreden, Sie wissen doch noch gar nicht, was ich will.“ – Verkäuferin: „Das haben wir auch nicht mehr, aber vielleicht schauen Sie in acht bis vierzehn Tagen wieder her.“ (Karl Valentin, Hoffentlich wird es nicht so schlimm, wie es schon ist! Marixverlag, 2019

3. Bamm-bamm-bamm: Verdammte Liebe Amsterdam 

Frank Göhre hat einen neuen Kriminalroman vorgelegt. Knapp und hart und präzise, so, als wäre er nie weggewesen, so, wie eines der berühmtesten Intros des Rocks: „Zum Ausklang der Trauerfeier sollte es krachen. Deep Purple.Smoke on the Water. Ein Intro wie Hammerschläge. (…) Bamm – bamm – bamm! Ein großes Bammbamm!“ heißt es an einer Stelle in „Verdammte Liebe Amsterdam“. – Frank Göhre ist zurück. Endlich wieder mit einem Roman! – Hoffentlich bald wieder. Hoffentlich wird der dann öffentlich gefeiert werden können.  So wie es der „alte Neue“ schon verdient gehabt hätte: Mit Bamm-bamm-bamm. (Frank Göhre, Verdammte Liebe Amsterdam, Culturbooks 2020) 

4. Ein kleiner Abgesang: Kultur – systemrelevant 

Unsereiner soll ja ab und an über den nationalen Tellerrand luegä: Das Deutschschweizer Wort des Jahres 2020 ist „systemrelevant“. Das war es dort, in den Bergen 2013 schon einmal; damals allerdings als Unwort des Jahres. In seiner ersten Karriere, während der Finanzkrise um 2008, bezog sich dieses Wort ausschließlich auf Großbanken und Blackrocker wie Friedrich Merz. In diesem wundersamen Corona-Frühling kriegten urplötzlich Pflegepersonal und Verkäuferinnen dieses Pepperl. Und zwar mit Applaus, sonst aber auch gar nix. Prompt präsentierte sich dann auch „die Kultur“ (die nicht staatlich durchfinanzierte) bollestolz als systemrelevant. BWLbesoffen benamst sie sich schon länger als Kreativwirtschaft – und machte prompt in Euronen & Cent auf dicke Hose. – Der Beifall für die Kreativen nebst Umfeld ebbte bald ab. Vielleicht dämmerte es einigen „Kulturarbeitern“, dass sie sich mit ihrer Verpflichtung auf Wirtschaftlichkeit auf geldwerte Nützlichkeit verstümmelt hatten. Was das heißt, hätten sie an den Streichorgien, die finanziellen „Optimierungen“ in den entsprechenden Etats, die organisatorischen „Anpassungen“ und Effizienzsteigerungen nachvollziehen können: Vor der 20-Uhr-Tagesschau läuft eben „Börse vor 8“ – als volkspädagogische Einstimmung auf „selbstverantwortliche Rentenstrategie“- und nicht Alexander Kluge – oder ein Spot der Künstler-Sozialkasse. – Um sich noch systemrelevanter vorzustellen legte die Branche noch eine frohe Payback-Botschaft nach: Ihre Abteilung sorge gar nicht nur für Stimmung und „Freizeit und Unterhaltung“ sei gar nicht ihr Kerngeschäft, sondern das große Ganze, nationale Identität, gesellschaftlichen Zusammenhalt und so… Wird ja auch immer wichtiger im Zuge der neuen Normalität des permanenten Ausnahmezustandes von Finanz-, Klima-, Jogi-Löw-Krise – und lauter „gespaltenen Nationen“… – Nachdem weder Wirtschafts- noch Moralargumente richtig zogen, griff „die systemrelevante Kultur“ zum letzten Mittel, eine großangelegte Friedhofsplakatkampagne: „Ohne Kunst und Kultur wird‘s still“. Im Klartext: Seht doch endlich ein, dass euch was fehlen wird, wenn es uns mal nicht mehr gibt. Braver, defensiver geht‘s kaum. Und das, obwohl  Straßen und Wege gepflastert sind mit „Ohne-uns-läuft-nix-mehr“-Aktivisten. – Adorno hilf! Denn „die“ Kultur scheint endlich im herrschenden Wirtschaftssystem angekommen. Sie hat sich den Ehrentitel „systemrelevant“ redlich verdient!       

Michael Friederici organisiert in Hamburg die Schwarzen (Lese) Nächte. Über Lesekleinkunst in Zeiten von Corona hat er bei uns im August hier geschrieben. Seine Texte bei uns hier.                                                                                                     


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