Geschrieben am 31. Dezember 2020 von für Highlights, Highlights 2020

CulturMag Highlights 2020, Teil 4 (Cohen – Cody – Denker – Disher – Djafari – Dziuk)

Liza Cody (e) –
Ute Cohen –
Garry Disher (e) –
Anita Djafari –
Danny Dziuk –

Liza Cody

This has been a very strange year. Freedom ended suddenly in March, and my last proper outing was to the theatre to see The Red Shoes – the ballet directed and choreographed by Matthew Bourne. It was such a raunchy, vibrant production that it sustained me for a while.

       I was, at the time, finishing a sort of suspense/possibly supernatural piece of work, (not like me at all) so my reading included the classics – Mary Shelley’s Frankenstein and Bram Stoker’s Dracula – from an era when they took their monsters seriously. Otherwise, because of the isolation, I’ve mainly been revisiting old friends like Sara Paretsky. But I started reading Mick Herron too.

       The last movie I saw at the cinema was Slim and Grace – a road movie I loved, especially for the actors and the music.

       TV: well, Steve McQueen has just brought out 5 pieces under the title Small Axe. They’re about race and the West Indian experience in me UK. I’ve only seen 2 so far, but they’re magnificent and very timely.

I hope that’s okay, Alf. I feel weirdly suspended between today and tomorrow and can’t bring my mind to focus on new work at the moment. How are you doing? I’ve heard that Germany has made less of a mess of C19 than we have here. I hope so anyway.

Zuletzt erschienen von Liza Cody ist bei Ariadne die Neuausgabe von Gimme more, übersetzt von Pieke Biermann.

Ute Cohen

The Shell Game – Wenn sich Traum und Albtraum verquicken, dann ist das meist eine Frage der Perspektive. In Lost River, Ryan Goslings Filmdebüt aus dem Jahre 2014, gibt es eine besondere Form von Darkroom: Gläserne Kapseln, nach Körpern geformt, warten auf ihren fleischlichen Inhalt. Frauen werden eingeschlossen, lassen sich einschließen (haben sie eine Wahl?) in diese transparenten und zugleich unzerstörbaren Körpergefängnisse, während sich draußen Männer morbiden Gewaltgelüsten hingeben können. Der Glaskörper wird berührt, misshandelt, vergewaltigt und gequält, ohne dass ein Leib daran Schaden nähme. Eine probate Umleitung realer Gewalt auf Ersatzkörper? Ein unverfängliches Spiel für eine fehlgeleitete Libido? Ein Genuss vielleicht sogar für den gefangenen Leib, der den Sog, die verführerische Kraft der Gewalt spürt und doch geschützt bleibt? Was aber, wenn sich die Kapsel öffnet und Körper auf Körper trifft? Was, wenn der Safe Space trügerisch ist und der Außenseiter den Schlüssel zum wahren Leben besitzt? 

Goslings Shell Game ist nicht nur ein BDSM-Spielchen in einem finster-lüsternen Club im endzeitlichen Detroit. Es ist eine Parabel auf unsere brüchige Gesellschaft, in der Schutz und Auslieferung miteinander konkurrieren, Eros und Thanatos, die Macht des zitternden Opfers, der Totentanz eines toten Täters. Goslings Film war eine Entdeckung für mich in diesem Jahr, er packte mich mit heißer Wut und wehte mir eine melancholische Hoffnung entgegen. Und was wünschen wir uns mehr in einer Zeit, die vom Untergang des amerikanischen Traums und europäischer Gewissheiten kündet? Ist es nicht die Sehnsucht nach diesem Traum der Liebe, die rettend ist? Albtraumhaft gebärden sich die Anderen, desaströs ist diese Welt, aber irgendwo in unserem Kopf bleibt diese Idee der Liebe, sofern sie nicht mit einem Schnappmesser ausgelöscht wird. Sei’s drum, dass Gosling bei Lynch und Refn gestibitzt hat. Wenn Saoirse Ronan Tell me singt, dann glaubt man wieder an eine versunkene, glückselig machende Welt, einen Schatz, den es nur zu heben gilt: „Whisper/That you love me/That you’ll never leave me/Be mine/For always/I’ll be Yours forever“

Ute Cohens Texte bei CrimeMag hier. Im Sommer 2017 kuratierte sie das CulturMag Sex Special. Danach das Special Tabu. Im Jahr 2020 ist ihr Roman Poor Dogs bei Septime erschienen. Zur Besprechung von Alf Mayer und der von Andrea Noack.                                                                                           

Claudia Denker: Hau ab 2020! 

Meine Bronchitis Anfang des Jahres war wohl wirklich nur eine Bronchitis (obwohl ich manchmal denke … na ja …), die hat mir jedenfalls noch schöne Termine verhagelt, wie eine Geburtstagseinladung oder den Auftritt von Krazy mit Kurt Krömer zu Gast bei der »Reformbühne Heim und Welt«. 

Am 6. März spielte Stoppok noch im Kesselhaus in der Kulturbrauerei, es war der dritte  Termin einer längeren Tour. »Meinst Du, wir sollten da hingehen, ist das nicht vielleicht ein bisschen gefährlich wegen diesem Corona?« »Ach, wir müssen uns ja nicht direkt ins Gedränge stellen, bleiben wir am Rand oder hinten.« Ein paar Tage später verkündete Donald Trump, niemanden mehr von draußen in sein Amerika zu lassen. Wally Ingram, der Schlagzeuger der Band, hat sofort einen Flug in die USA gebucht, weil er Angst hatte, nicht mehr nach Hause zu kommen, wieder etwas später war dann die ganze Tour abgesagt. Viele Termine in meinem Kalender sind gestrichen, schade, ich hätte auch gerne im Sommer Patti Smith gesehen, von der in diesem Jahr ein wunderbares Buch erschienen ist: Im Jahr des Affen, da geht es um ihr Jahr 2016 … Verluste und Abschiede, seufz … ich hoffe, das Konzert am 13.06.2021 kann stattfinden.

Was ich für mich entdeckt habe: den Podcast. 

Erstaunlich spannend finde ich die erste Staffel von Im Visier. Verbrecherjagd in Berlin und Brandenburg – klingt ein bisschen banal, ist aber sehr zu empfehlen, zum Beispiel: Die Transit-Leiche – 1979 wird an der Transitstrecke eine verbrannte Leiche gefunden, und wir erfahren, wie Ost- und Westpolizei zusammengearbeitet haben, um den Fall aufzuklären. 

Passend zur Stimmung: Eric Wrede (cooler Bestatter) im Gespräch mit jeweils einem Gast (z.B. Gisbert zu Knyphausen, Anke Engelke, Sarah Kuttner) über Abschied, Verlust, Tod: The End, es gibt schon zwei Staffeln.

Und ganz besonders mag ich Verrückt mit Jakob Hein, der unterhält sich ebenfalls mit einem passenden Gast über Dinge, die sich im Kopf abspielen (z.B. Simon Borowiak, Kathrin Passig, Peter Wawerzinek).

Von Jakob Hein ist auch eines meiner Lieblingsbücher des Jahres: Hypochonder leben länger. So einfühlsam und humorvoll wie der Podcast ist auch sein Buch – ein Einblick in seine langjährige Arbeit als Psychiater.

Auch Lieblingsbücher 2021:

Max Annas: Morduntesuchungskommission, Der Fall Melchior Nikoleit
Peter Grandl: Turmschatten
Joachim B. Schmidt: Kalmann
Young-Ha Kim: Aufzeichnungen eines Serienmörders
Candice Fox: Dark
Garry Disher: Hope Hill Drive

… und auch passend zur Stimmung – ein Lesebuch mit Essays, Bildern, Gedichten und allem, was man so braucht zum Thema Sterblichkeit:
Konkursbuch 56 – Tod.

Und jetzt Musik: Krazys neue CD Seifenblasenmaschine sollte einfach jeder kennen. Es ist so schade, dass fast alle Auftritte anlässlich der Veröffentlichung ausfallen mussten. Hoffentlich kann das alles bald nachgeholt werden!

Wen wir nie wieder live auf der Bühne sehen werden … bye, bye Guitar Crusher (gestorben am 23.September):

Sehr schmerzlich vermisse ich dieses Jahr den legendären traditionellen Jahresrückblick der Brauseboys im Comedyclub Kookaburra inklusive Bier und Nachos. Weil es immer so schön ist, bin ich schon oft zwei Mal dort gewesen. Immerhin wird es einen Livestream geben, man kann Eintritt bezahlen, spenden, Bücher und Solipakete kaufen:

Die Autorin mit Wally Ingram, Schlagzeuger der Band »Stoppok«

Das blöde Jahr geht jetzt zu Ende, in den Buchhandlungen hatten wir Rekordumsätze, meine Kolleg*innen und ich sind urlaubsreif. Ich weiß meine Faszienrollen und die Youtube-Videos der Physiotherapeuten Liebscher und Bracht mittlerweile sehr zu schätzen. 

Ich kann jetzt super Regale zusammenzimmern. Und ich weiß, wie man einen richtig guten Wildschweinbraten macht. Und Kekse backt. Und ich habe ein paar Kilo zu viel, die ich mir ganz sicher 2021 abtrainieren werde. Die Tage werden wieder heller, der »Heidelberger Krug« öffnet wieder, nächstes Jahr wird alles besser, gottseidank ist das Tempelhofer Feld noch nicht bebaut!

Garry Disher: Writing in a Time of Coronavirus

As I write this, in November 2020, Australia is mostly free of Covid-19, after months of lockdowns that differed in severity from state to state.

                  But only the foolish think we’re back to normal, or immune from further waves of the virus.  We’re wary now—of each other, of public places.  A kind of low-level dread threads through us.

                  Covid humour helped back then.  We Covid-crammed Netflix shows.  A friend was intent on shedding Covid kilos.  We exchanged Covid kisses (masked lips pressed to masked lips).

And during my daily beach walks I practised the Covid salute: as required by law, I wore a mask, but pulled it down if no one was nearby, baring my nose and mouth to the sweet air; then, with an up-flick of the wrist, I’d be masked again if someone loomed into view.

                  I’ve always done a lot of storyline thinking, plot-twist thinking, during my beach walks, and during the lockdowns I found my mind exercised by Covid murder motives.  I started writing Consolation, the third Hirsch crime novel, in January, and finished it in June, writing in a kind of heat, a kind of daze, itching to weave the pandemic into it—how it had shaped behaviour, attitudes and expectations.  But then I realised that, without a full-stop to the virus story, anything I wrote would date quickly.  And I would be tapping into a side of myself that I don’t always like but can’t ignore, and sometimes even relish: the side that exploits.  There was all that Covid hate to write about!  All that Covid bad behaviour!  All those screwy minds I could step into!  On the beach one day a masked man accosted and photographed a man not wearing a mask.  I scurried by (I’m not stupid), and found myself weaving a sovereign rights character into a story, a man claiming the sovereign right not to wear a mask, a man with shadowy, extreme-right chat-room co-conspirators, and his line of logic (he’ll wear a seatbelt and a bike helmet—as required by law—but not a mask?).  Think of the plot possibilities!  The murders I could weave into the story!

                  I told myself no.  I told myself that each man was simply frightened, that’s all.  It’s the love, regard and fellow-feeling of most people, the sense of a burden shared, that I want to remember about this year, for they helped me through.  

                  But soon after that my city friends told me what it was like on the walking trails beside Melbourne’s rivers and creeks.  In any sample of twenty young men, one would be correctly masked, one belligerently mask-less, and eighteen wearing their masks as a chin-adornment.  Always men, always young men.  My friends tried to keep their distance, but how could they?  Respecting their outrage, I imagined putting a bullet in these young men (it’s a crime-writing question: Is the victim loveable, or does he deserve to die?).

                  My edginess went further than that.  One day I saw a delivery van (they were everywhere during the lockdowns) tearing along the highway, one door flapping open, and later a cement truck trailing a leaking hose, both going too fast for me to sound the car horn or gesture, and I was overwhelmed by an image of the world running down, people racing about desperately, doing their jobs, but only out of habit, not because it was leading to anything meaningful.

                  I’ve started a new novel and still I want to thread the virus through it.  But Covid-19 is too big, too pervasive.  It’s as big as the universe and it’s swamping me.  I think the best way to paint the universe is to paint a leaf trembling in a breeze.  Or the little girl I saw on the beach one day, in her mother’s arms, reaching out a tiny hand to release her mother’s face from its mask—and her hand being laughingly, lovingly, stopped.  

                  At least, I think laughingly, lovingly, according to the light in the mother’s eyes.  Light that stands for the universe I want to inhabit just now.

Garry Disher steht mit Hope Hill Drive auf Platz 1 der Krimibestenliste des Jahres 2020 und ist nach 2017 mit Bitter Wash Road und 2018 Leiser Tod auf unserer „CrimeMag Top Eight 2020“. Bloody Questions von Marcus Münterfering. Alf Mayers Besuch bei ihm auf der Mornington Peninsula im Jahr 2016 „Der Schauplatz als Charakter.“ und ein zweites Mal in 2020.

Anita Djafari

Ein Rückblick, der vor allem um die eigenen Aktivitäten kreist, vornehmlich die bei Litprom. Sehr viel mehr habe ich kulturell nicht erlebt in diesem Jahr. 

Angefangen hat es mit einer analogen, physischen Veranstaltung, den alljährlichen Literaturtagen mit dem Titel: „Migration – Literaturen ohne festen Wohnsitz“. Litprom hat wieder die Welt zusammengebracht: Kanada /Chile/Saudi-Arabien/Libanon, Guatemala/USA, Argentinien, Israel/ Deutschland, Nigeria/USA usw.  Echte Begegnungen, die bei allen Beteiligten, vor allem auch beim Publikum, lange nachwirken. Zum ersten Mal war eine Autorin einer Graphic Novel dabei: Nacha Vollenweider, eine Entdeckung!  Wer sonst noch dabei war, hier: https://www.litprom.de/events/literaturtage

Dann gab es nur noch (Fern-)Reisen im Kopf.  Und fast nur noch Homeoffice und Video-Calls und Video-Chats und Video-Konferenzen. Zu viel davon tat nicht gut, der echte Kontakt mit dem Team und anderen Kolleg*innen hat sehr gefehlt. 

Litprom hatte 40-jähriges Jubiläum, das musste begangen werden, irgendwie. Die Anthologie Nehmen Sie den Weg nach Süden – Eine literarische Reise durch Afrika (Peter Hammer Verlag) haben wir noch im Frühjahr herausgebracht. Sie nimmt jetzt ihren Weg durch ein paar Rezensionen und Empfehlungen im Netz, selbst vorstellen konnten wir sie (noch) nicht.

Ein virtuelles Symposium „African Perspectives – Writers in Conversation“ haben wir zusammen mit der kfw-Stiftung und dank deren Unterstützung auf die Beine gestellt. Nichts ahnend, was es heißt, 9 Autor*innen aus 8 verschiedenen Ländern, über drei Kontinente hinweg zusammenzuführen. Mit einer Keynote des ewigen Literaturnobelpreis-Anwärters Ngugi wa Thiongo aus Kenia/USA. (Enttäuschung, dass er den Nobelpreis wieder nicht bekommen hat und auch sonst niemand aus dem globalen Süden. Nichts gegen Louise Glück …) Besonders unterhaltsam das Panel mit den drei Ladys Yvonne Owuor (Kenia), Maaza Mengiste (Äthiopien) und Petina Gappah (Simbabwe), die über die Bildschirme hinweg ein tolles Gespräch über „telling archives“ hinbekommen haben. Owour hat nach Der Ort an dem Reise endet in diesem Jahr ein Opus magnum veröffentlicht Das Meer der Libellen (Dumont, Ü: Sime Jakob), das weit über Afrika hinaus weist, Mengiste war mit dem Roman Shadow King auf der Shortlist für den Booker Prize (demnächst auf Deutsch bei dtv), sie beschäftigt sich darin erneut mit der Geschichte ihrer Heimat Äthiopien, Gappah in Aus der Dunkelheit strahlendes Licht (S. Fischer, Ü. Anette Grube) mit dem Afrika-„Entdecker“ Livingstone.  Schaut mal rein! 

Die Themen „Afrika“ und „Migration“ waren also beherrschend. Dazu eine dringende Buchempfehlung, von einem, der beides zu verbinden weiß. Helon Habila erzählt in Reisen (Wunderhorn, Ü: Susann Urban) von Menschen, die ganz unterschiedliche Länder in Afrika verlassen haben und verwebt deren Schicksale zu einem wunderbaren Roman. 

Dann noch die Buchmessen: Leipzig haben wir vermisst, Frankfurt hat einen Riesenspagat hinbekommen. Respekt vor der Leistung der Kolleg*innen, die in kurzer Zeit eine „special edition“ auf die Beine gestellt haben. Litprom war mit dem Weltempfang und dem LiBeraturpreis auch dabei. 

Apropos LiBeraturpreis: Rekord war die Anzahl der Nominierten, 12 von 28. Die üblichen 25 % Frauenanteil waren damit ausnahmsweise mal überschritten. Die Qualität überdurchschnittlich hoch. 

Das Rennen hat Lina Atfah aus Syrien/Deutschland mit ihrem Gedichtband Das Buch von der fehlenden Ankunft (Pendragon, interlineare Übersetzungen: Jan Wagner u. v. a.) gemacht, die bewegende Laudatio ihrer Lyriker-Kollegin Safiye Can findet ihr hier.

Lina Atfah ist Teil des von Annika Reich ins Leben gerufenen Projekts „weiterschreiben“. Eine tolle Initiative, die geflüchteten Schriftstellern hilft, ihre Arbeit fortsetzen zu können. Toll war auch zu erleben, wie ihr syrischer Ehemann seine Frau unterstützt.  Und außerdem toll, dass die Stadt Frankfurt die Preisverleihung in diesem Jahr auf sehr unbürokratische Weise ermöglicht hat. 

Ich bin schon gespannt auf nächstes Jahr. Hier schon mal ein Lesetipp: Ava Fehrmarni: Im düstern Wald hängen unsere Leiber (Edition Nautilus, Ü: Maryela Gerhardt) ein ganz neuer Ton einer Frau aus dem Iran. Starkes Debüt einer Autorin, die in Kanada lebt und unter Pseudonym veröffentlicht. Sie streckt dem Mullah-Regime mit diesem Buch die Zunge raus. 

Es gab doch noch was außerhalb des Litprom-Kosmos: Mein Ehemann Nassir Djafari hat mit 67 Jahren sein Romandebüt veröffentlicht: Eine Woche, ein Leben (Sujet Verlag). Mit toller Resonanz.

Und ganz zuletzt was Persönliches: Ich bin seit dem 1. November im so genannten Ruhestand. Ein einschneidendes Ereignis!  Von meiner Funktion als Geschäftsleiterin von Litprom habe ich mich verabschiedet, von der Begeisterung für Literatur verabschiedet man sich allerdings nicht. Wie denn? Deshalb bin ich auch weiterhin in der Jury der Weltempfänger-Bestenliste. Unter anderem. 2021 kann kommen. 

Katrin Doerksen

Dieses Jahr habe ich einen schneebedeckten Gipfel erklommen und fremde Meere besegelt, die Ressourcen eines neuen Planeten erforscht, ich habe eine unbewohnte Insel besiedelt und dort im Alleingang eine Zivilisation errichtet. Besonders Letzteres war anstrengend: Ich musste endlos Äste aufsammeln, Unkraut jäten und meine Schulden bei einem kapitalistischen Marderhund abstottern. 

Im Frühjahr 2020 ging ein meme in den sozialen Medien viral: Das Bild eines Wohnblocks in frappierender Schräglage, durch drei wackelige Pfähle gestützt. Das Gebäude überschrieben mit: „All of 2020“. Die Pfähle mit: „Animal Crossing“. So fühlte es sich tatsächlich an, als im März mit New Horizons der fünfte Teil der Spielereihe für die Nintendo Switch erschien, die Begeisterungswelle weit über die übliche Fan-Community hinaus schwappte und die entsprechenden Konsolen plötzlich überall ausverkauft waren. Wann wäre uns die Idee wohl je willkommener erschienen, einen Neuanfang auf einer tropischen Insel zu wagen, mit farbenfrohen Tieren als Nachbarn und der Aussicht, dass regelmäßig geerntete Früchte und aufgelesene Muscheln uns in ein paar Wochen ein stattliches Eigenheim mit Jacuzzi und Kino im Keller bescheren würden?

2020 war weniger Kino, weniger Museum, weniger Konzert. Für den einen oder anderen möglicherweise mehr Lesen, mehr Schreiben, mehr alte Filme ausgraben, mehr tief seufzend im Kreis tigern. Für mich ist es in der Rückschau betrachtet das Jahr, in dem ich wieder häufiger als sonst einen Controller in die Hand nehmen wollte. Animal Crossing – New Horizons bot dafür den perfekten Einstieg: Eine Alltagssimulation, im Grunde nicht einmal allzu weit entfernt vom realen Leben: Es gibt darin zuweilen lästige tägliche Pflichten zu erfüllen, Schulden, manchmal nervige Nachbarn, einen Aktienmarkt (mit Rüben) und Ziel ist es letztlich das größte Haus auf der Insel zu besitzen und brav zu konsumieren. Normalität eben, nur ein bisschen übersichtlicher, bunter und freundlicher, aber mit vergleichbar sedierender Wirkung.

Ähnlich wie in Pikmin 3 Deluxe, einem Strategiespiel, in dem man als Astronaut auf einem unbekannten Planeten possierliche Blumenzwiebelwesen dirigiert, um Früchte zu sammeln, die mithilfe ihres pikaminreichen Saftes das Überleben der Entdeckermission sichern. Bloß keinen Stress und keine zu hohe Schwierigkeitsstufe. Die Highlights des Jahres waren aber eigentlich nicht die großen Titel, sondern zwei kleine Spiele von Independent-Entwicklern. In Spiritfarer steuert man die Fährfrau auf dem Styx, die animierte Seelen in liebevoll animierter Tiergestalt darauf vorbereitet auf ihre letzte große Reise zu gehen. Abgesehen von ein paar platformer-inspirierten Minispielen ist man zumeist damit beschäftigt das Boot auszubauen, vom Heck hinab zu fischen, Mahlzeiten für die Tiere an Bord zuzubereiten und ihre letzten Wünsche zu erfüllen. Das Problem ist nur, dass man sich von ihnen an der großen Everdoor verabschieden muss, sobald man sie richtig kennen gelernt hat. So fühlt es sich jedes Mal beinahe ein bisschen masochistisch an, das Spiel zu starten.

Der Tod ist in den meisten Videospielen allgegenwärtig – in Form frustrierend schnell ablaufender Herzen, an deren Ende es ein Level zu wiederholen gilt. In Spiritfarer ist der Tod das ganze Konzept. Die beinahe therapeutische Wirkung, die das Spiel entwickelt, liegt wahrscheinlich in der Tatsache begründet, dass man sich trotz aller Emotionen (und manche davon hauen einen ganz schön um) niemals hilflos fühlt. Es gibt immer etwas zu tun, um die Situation für alle Beteiligten besser zu machen – und wenn es nur bedeutet, im Menü die Aktion „Umarmung“ anzusteuern. Es mag alles ein bisschen schrullig klingen, makaber vielleicht, aber genau das macht Spiritfarer so einzigartig. Die erste Zeile des Verkaufstext, die Google zutage fördert, trifft es perfekt: „Spiritfarer is a cozy management game about dying.“

Mein unangefochtener Spieleliebling des Jahres 2020 trägt aber den schönen Namen A Short Hike. Die Wanderung ist wirklich kurz. Jemand mit ein bisschen Videospielübung wird den Titel wahrscheinlich während der Laufzeit eines durchschnittlichen Spielfilms abschließen können. Aber darum geht es gar nicht, denn A Short Hike vom kanadischen Entwickler Adam Robinson Ryu ist eine open world, die es ohne Zeitlimits oder andere Zwänge zu entdecken gilt. Im Mittelpunkt steht das Vogelmädchen Claire, das die Ferien bei seiner Tante verbringt, einer Rangerin im Hawk Peak Provincial Park. Weil es einen Anruf erwartet, versucht es den Gipfel des Hawk Peak zu erreichen – den einzigen Ort weit und breit mit Handy-Empfang. Unterwegs sammelt es Goldene Federn und andere Gegenstände, die das Klettern und Sprinten erleichtern. Es spielt Ball mit den anderen Tieren am Strand, rennt mit einer Schildkröte um die Wette, mietet ein Boot, um kleine Inseln in Küstennähe zu erkunden und nutzt den Auftrieb, um mit ausgebreiteten Flügeln an den Steilwänden entlang zu gleiten. Man kann zwei Stunden am Berg verbringen – oder dort vollständig die Zeit vergessen.

Animiert ist das Ganze als pixel art. Simple weiße Linien deuten den Wind an und beim Blick in die Ferne verblassen die farbenprächtigen Gebirgswälder zu krisseligen Silhouetten. In der finalen cut scene entwickelt A Short Hike sogar regelrecht filmische Qualitäten – und erinnert so daran, dass technische Grenzen (überhaupt: Grenzen) unserem Drang nach und Vermögen zur Immersion nichts anhaben können.

Katrin Doerksen schreibt – über Film vor allem, manchmal auch über Comics, Mode und Fotografie.
Ihre Texte bei uns hier.
Zusammen mit Thomas Groh bestreitet sie auch unsere „Schatzsuche“ für illustre Novitäten bei GraphicNovels und DVDs/ BluRays.

Danny Dziuk

Sicher, ich weiß, was man gegen Bob Dylan alles haben kann, und jetzt hat er auch noch für geschätzte 300 Mio. Dollar sein Gesamtwerk an Sony verkauft, sodass einem durchaus ein paar seiner Songs demnächst als Werbung für WasAuchImmer um die Ohren fliegen könnten, ohne dass er dabei überhaupt auch nur zugestimmt haben muss. 

Trotzdem fand ich Murder Most Foul allein schon deshalb so erfreulich, weil´s für ein paar Wochen sämtliche Marktgesetze auf den Kopf stellte: wie kann ein knapp 17minütiges Stück ohne Rhythmus, Refrain oder auch Video (bei der offiziellen Version sah man 17 Minuten lang nichts als ein Portrait John F. Kennedys) eines 78-Jährigen einen derartigen Erfolg haben, und dazu in internationalen Single(!)-Pop-Charts? Mit im Grunde kaum mehr als einem ellenlangen Text, der sich dazu noch um ein Ereignis dreht, das fast 60 Jahre her ist – und zu einem Zeitpunkt, wo der Rest der Welt über nichts als die Pandemie redet? Und welcher A&R irgendeiner Plattenfirma hätte nicht prognostiziert, dass sich sowas allerhöchstens ein paarhundert mal verkaufen würde, wenn man Glück hätte? – Für mich mal wieder eines dieser mutmachenden kleinen Wunder, die für Dylan von Zeit zu Zeit so typisch sind (und die niemand sonst hinkriegt), denn wenn sowas möglich ist, dann vielleicht ja auch noch einiges andere mehr. Und das mithilfe eines Songs, in dem es u.a. heißt: „Freedom, oh freedom, freedom over me / I hate to tell you, mister, but only dead men are free.“- 

Andererseits hab ich schon länger damit aufgehört, bei Dylan allzu rationale Kriterien anzulegen. Wobei übrigens selbst der sich auch mal irren kann: die Mondscheinsonate ist nämlich nicht in „F sharp“ (wie in dem Song behauptet), sondern in C sharp. Soviel weiß ich immerhin. Es sei denn, es soll nahelegen, dass irgendwer das Stück um eine Quarte nach oben transponiert spielen soll oder gespielt hat, aus welchen Gründen auch immer. 

Aber abgesehen von alldem, und dass ich das bloß nicht vergesse: ein großartiger Song, natürlich.   

Dann, um notgedrungen den Rest etwas kürzer zu halten, aber schön für mich war´s trotzdem: die Entdeckung John Burnsides, eines schottischen Dichters, und insbesondere derjenigen seiner Bücher, in denen es um seinen Vater geht, z.B. Lügen über meinen Vater, denn ich bin auch so einer ( d.h. einer mit „Vater-Problemen“, und hier kriegt man kompetente Unterstützung), und überhaupt ist er jemand, der meine Fantasie anregt bzw. Bilder produziert, die ohne die Lektüre nicht so ohne weiteres aus meinen eigenen Vergangenheiten aufgestiegen wären. Poesie als Ersatz für einen Psychotherapeuten quasi.- 

Bei John Niven ist es sein ziemlich schwarzer Humor, der mir vor allem gefällt. Welche Hintergrundmusik zum Beispiel läuft in der Hölle, wo jemand dem Teufel gerade einen Besuch abstattet? Antwort: Huey Lewis´ „Hip To Be Square“, in einer Panflötenversion. Auch sein letzter Roman namens Die Fuck-it-Liste, in dem es um eine imaginierte Nach-Trump-Ära geht, hat mir Spaß gemacht. Ich glaub, ich mag übergewichtige, ältere schottische Autoren. – 

Was jetzt ein – zugegebenermaßen etwas holperiger – Übergang sein soll zu Generation Beleidigt, wo es um den Gesinnungs-Terror von Linksidentitären auf einigen amerikanischen Unis geht, bei denen nicht nur die eben Erwähnten mit Sicherheit von vornherein aber auch sowas von gar nichts zu melden hätten. Die Autorin Caroline Fourest ist eine universalistische Feministin, hat u.a. für Charlie Hebdo gearbeitet, und dieses Buch verstehe ich als Warnung vor allzu haarsträubenden Auswüchsen politischer Überkorrektheit, wie sie auch schnell auf diesen Kontinent überspringen könnten, wenn man da nicht gegenhält. Sehr klar und logisch geschrieben, und es macht Spaß, sich prophylaktisch schon mal mit ihren Argumenten bewaffnen zu dürfen. Und auch wenn man nach Gründen für die Beliebtheit Trumps sucht, kann man hier zumindest Teilerklärungen finden, die einleuchten, mir jedenfalls. 

Danny Dziuk, „der Große im Hintergrund“ (FAZ), Autor, Komponist, Sänger, Arrangeur und vieles mehr …

Und natürlich mit dem passenden Song:

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