Geschrieben am 31. Dezember 2020 von für Highlights, Highlights 2020

CulturMag Highlights 2020, Teil 16 (Wörtche – Ziegler – Zion)

Thomas Wörtche

Hätte ich einen Wappenspruch, wäre er klar: „Man kommt ja zu nichts“. Das gilt erst recht für dieses seltsame Jahr. Von wegen, die ruhige Zeit nutzen und „mal ein gutes Buch lesen“ (gehört sowieso in die Abteilung „Abscheuliche Sprachspiele“). 

Wobei man schon zwischen Rezeptions- und Produktionsverhalten unterscheiden müsste. 

Gelesen und zur Kenntnis genommen habe ich eine ganze Menge, nur dazu etwas Substantielles zu schreiben, dafür hat die Zeit dann doch (noch) nicht gereicht – und bloß irgendwas Hinschlunzen ist eher respektlos den Gegenständen gegenüber, deswegen och nöööö, I would prefer not to. 

Einlässliche Auseinandersetzungen stehen noch aus, zu:

Grant Geissman: The History of EC Comics. Ein wunderbarer Prachtband zum Thema: “Geschmacklosigkeit als erkenntnistheoretisch und ästhetisch produktives Prinzip“. Anschlussfähig an einen ganzen Cluster aktueller Probleme von Politik und Ästhetik. 

Jens Malter Fischer: Karl Kraus. Der Widersprecher. Absolut kompetente Monumentalbiographie, der einige Kritiken vorgeworfen haben, „zu viel zu wissen“, mon dieu. Basiswissen.

Catherine Fletcher: The Beauty and the Terror. An Alternative History of the Italian Renaissance. Ein grimmiges Antidot gegen schwarmgeistige Interpretationen von Kulturgeschichte. Gehört in den Großzusammenhang von Ästhetik und Gewalt. 

Johannes Willms: Der Mythos Napoleon. Verheißung – Verbannung – Verklärung. Eine Art Coda von Willms` jahrzehntelanger Beschäftigung mit der französischen, also europäischen Geschichte des 18./19. Jahrhunderts. Fein seziert und selbst für einen heimlichen Bonapartisten megaspannend. 

Markus Gabriel: Fiktionen. Grundsätzliche Distinktionen, die lebensnotwendig für alle Menschen sein sollten, die sich professionell mit „Wirklichkeit“ und „Fiktion“ beschäftigen. Räumt mit kategorialem Unfug an der Stelle auf, und mit blauäugigem Rumdilettieren und gefühligem Schwurbeln auch.

Nina Gladitz. Riefenstahl. Karriere einer Täterin. Nicht unproblematische Demontage des Mythos Riefenstahl, obsessiv bebend. Insofern für Riefenstahl-Hagiographen (gibt´s die ernsthaft noch?) leicht angreifbar, auch wenn alle Riefenstahl-Hagiograhien endgültig erledigt werden. Ein nützlicher Materialsteinbruch, Quellenkritik dringend geboten.

Jan Philipp Reemtsma: Helden und andere Probleme. Essays. Sehr kluge Beobachtungen zum Thema „Gewalt“ und „Zivilisation“, seit der Ilias. Apropos Ilias – , meine Sommerlektüre. Sollte man so alle zehn Jahre immer wieder lesen, gerade wenn man irgendwelche Slasher-Autoren originell finden möchte. Sonst aber auch. Und auf Komik achten!

Bruno Cabanes et al (Hg): Eine Geschichte des Krieges. Vom 19. Jahrhundert bis in die Gegenwart. Schullektüre, Pflichtlektüre, Allgemeinbildung, sine qua non. Auf 900 Seiten in lesefreundlichen Kapiteln kompetent und klug alles, was man zu diesem unerquicklichen Thema wissen muss. Aber nur weil es unerquicklich ist, geht es nicht weg. Ich bin ge-eee-gen Krie-iieeeg ist keine Position.

Klaus Theweleit: Warum Cortés wirklich siegte. Technologiegeschichte der eurasisch-amerikanischen Kolonialismen. Wie immer bei Theweleit eine unfassliche Materialschlacht, dankenswerterweise. Und wie immer die Verblüffung, was man alles zusammendenken kann, sinnvollerweise.

Mike Davis/Jon Wiener: Set the Night on Fire. L.A. in the Sixties. Von Chief Parker über Watts zu Wattstax. Stadtgeschichte par excellence als Universalgeschichte. Und wider jede Art von Romantisierung. Kontext-Steinbruch vom Feinsten, für das Verständnis einschlägiger Fiktionen unverzichtbar. 

Richard J. Evans: Eric Hobsbawm. A Life in History. Grandiose Gelehrten-Biographie zu dem Historiker (1917- 2012), der eigentlich der Schutzpatron von CrimeMag sein sollte. Stichworte: Banditen, Jazz, Politik, Analyse und Philosophie. 

Elsa Dorlin: Selbstverteidigung. Eine Philosophie der Gewalt. Gewalt ist pfui? Nicht immer … Thematisch nicht nur das Kerngeschäft von CrimeMag tangierend, sondern eben jeden Diskurs über Gewalt, Verteidigung, Selbstermächtigung. Auch hier: Gefühligkeiten überflüssig und denkhemmend. 

So, das waren jetzt 12 Bücher – insgesamt ca. 7700 Seiten Lektüre. Moonlighting-Lektüre natürlich für mich, man hat ja noch andere Dinge zu tun.

Und dann waren da noch: 

Die Edition des Herzens: Die Steidl Nocturnes – herausgegeben und ggf. übersetzt von Andreas Nohl: Richard Middleton: Das Geisterschiff; Prosper Mérimée: Tamango; Robert Musil: Der Fall Moosbrugger. Schön gemacht, schön kommentiert, schön übersetzt. Prosaperlen, hach!

Das Buch des Herzens: Nassir Djafari: Eine Woche, ein Leben. Ein coming-of-age/Vater&Sohn-Roman, der einfach nur sympathisch und liebevoll ist. Weicht verkrustete Seelen auf, falls überhaupt vorhanden. 

Und ach ja, im November 2020 war CrimeMag zehn Jahre lang auf Sendung (und noch zwei, drei Jahre lang vorher „Samstag ist Krimi-Tag“ beim damaligen Titel-Magazin, wöchentlich gar). Zehn Jahre plus meines Lebens, in denen meine Ambiguitätstoleranz zunehmend strapaziert wurde. Fazit: So what? Und 2021 geht´s auf zu neuen Ufern.

Archivalien: Texte von TW gibt u.a. hier, hier und hier

© 12/2020 Thomas Wörtche

Helmut Ziegler

Kein Wort über. Nur verstreute Lieblinge eines doofen Jahres:

Berghain: Et in Arcadia ego: Jau, ich war nu auch drin, in diesem sagenumwoben verruchten Ort (Danke, Matthias). Und was soll ich sagen? Keine Wartezeit, nette Türsteher, leiser Bummel-Techno, gut ausgeleuchtete Darkrooms, Kunst von Olafur Eliasson und diese rohe, hohe Hammer-und-Sichel-Architektur. Ausgeflippter Laden. 

Cover: Schon im Januar veröffentlicht, fasste die Vorderansicht von William Gibsons Agency das Jahr zusammenfassen.

Damengambit: Feministischer Rachezug auf Drogen durch die Welt des Macho-Schachs in „Mad Man“-Ästhetik. Ob das wohl so gepitcht wurde? Jedenfalls die einzige Serie, die mich nicht nur kurzfristig abhängig machte, sondern ernsthaft begeisterte. Wie fast jeden, ich weiß: Bei Ebay wurden die Schachbretter knapp. Noch schöner: Die wie mit der Handkante geschriebene und ziemlich eins zu eins umgesetzte Roman-Vorlage von Walter Tevis stieg 37 Jahre nach Erscheinen in die Bestseller-Liste der New York Times ein.

Gute Frage: Die Kolumne von Johanna Ardorján im SZ-Magazin zu moralischen Fragen. Weil: Interessant, was Menschen für Probleme haben können. Klar auch weil: Aha, so klug und emphatisch kann man diesen Hindernissen auch begegnen. Vor allem aber weil: Diese stetigen kurzen Schlenker raus aus dem Orbit, die unseren Blick weiten. 

Lustiger Punkt: Das Ende eines Satzes, in Chats korrekt getippt, wird inzwischen manchmal als Mikro-Aggression gedeutet. Der grammatikalisch nicht so fitte Empfänger darf sich dann als Opfer fühlen, eine 2020 recht gern eingenommene Position von Nicht-Opfern.

Projekt Unverloren: Vor eineinhalb Jahren ging die Fotografin Susanne Katzenberg in der Nähe von Weimar spazieren und entdeckte eine aufgegebene Porzellanmanufaktur. Sie verknallte sich erst in den Ort, den Gipsstaub der Historie, dann in die gefeuerten Menschen und ihre so sorgfältigen Produkte. Jetzt hat sie ein ernsthaft opulentes Buch über diese Schock-Verliebtheit gemacht und dazu eine Vase, eine Hommage an das Bauhaus, der Konkursmasse entrissen. Ich durfte am Rande mitlaufen: projekt-unverloren.de

Revival: In meinem Alter freut man sich über Bekanntes. In diesem Fall Piano-House wie etwa Jayda G‘s Both of us (samt Versprechen, dass die runtergebremsten Clubs wieder Luft kriegen) oder Maria Minervas Had me at Hello (mit Soundflächen, als würden schwere Schränke über das Parkett geschoben).

Ansonsten half Reggae, wie immer, immer. Die Top 10:

10. A Rocket in Dub: Dub Air
9. Alpha Steppa: Dear Friend (Violin Mix)
8. WeN_Music: Emergency
7. Alpha Steppa: Dear Friend (Trombone Mix)
6. P-rallel & Greentea Peng: Soulboy (Izco Remix)
5. Willi Williams & Lone Ark Riddim Force: There’s A Place
4.  Denise Sherwood: Let Me In
3. O.B.F. w/ Charlie P, Irah & Killa P: Ina This Ya Time 
2. Mia Doi Todd: Take What You Can Carry (Scientist Dub One)
1. Neyssatou & Likkle Mai: Harb

Schrebergarten: Ab März. Mit Frau und Freunden (Danke, Nicole, Danke, Olli) Laube schleifen und streichen, Wegplatten umlegen, Erde sieben, Hochbeet aufbauen, Giersch-Pesto produzieren, angesetzte Storchenschnabel-Tinktur probieren, Brombeeren, Kirschen und Minze ernten. Fühlte sich an der frischen Luft extrem sinnstiftend an. 

Sepulkralkultur: Ein Wort, das mein Rechtschreibprogramm rot unterkringelt, ein Wort zudem, das ich selten fehlerfrei ausspreche. Aber in diesem Kasseler Spezial-Museum stehend, kam der Tod als Geschenk ins Leben zurück. Schön darüber hinaus, dass zwischen Grabsteinen, Särgen und Totenköpfen auch mal ein Post-mortem-Humor herrschte, bei schwarz-weißen Disney-Trickfilmen oder Karikaturen unter dem Motto „Schluss jetzt!“ 

Unruhig bleiben: Die Aufsatzsammlung von Donna J. Haraway ist bereits vor zwei Jahren im Campus-Verlag erschienen, nie davon gehört, jetzt wurde sie mir nachdrücklich empfohlen (Danke, Marie). Ein wirbelndes Buch, ich fliege bei jeder zweiten Seite neu raus. Angeblich SF im Sinne von spekulativem Fabulieren. So far habe ich verstanden: Haraway wirft die Idee über Bord, wir seien von der Spezies Homo. Wir sind lediglich Humus.

Zwei Sätze: „Je mehr Du kannst, desto schwieriger wird es.“ Stammt von meinem Box-Trainer.

„Die schwerste Übung: Mundwinkel hochkriegen.“ Stammt von meiner Yoga-Lehrerin.

Helmut Ziegler, 1958 geboren, u. a. Ko-Autor von „Brüste – Das Buch“, strebt in der dritten Lebenshälfte seine vierte Karriere an und schreibt jetzt Two-in-one-Romane. Sollte das nicht erfolgreich sein, heißt das nächste Spielfeld: Frührente. 

Robert Zion

Das Jahr 2020 – Nachrufe auf das Kino

Es ist wohl nicht zuviel gesagt, dass das Jahr 2020 für viele Menschen auf diesem Planeten, wenn nicht sogar für die meisten, für immer in ihrem Gedächtnis eingebrannt bleiben wird. Jenseits der globalen Pandemie, aber auch der im Hintergrund stets weiter schwelenden Überlebensfrage der Klima- und Umweltkrise, ist dieses Jahr aber ebenso eines gewesen, in dem sich der Niedergang und die endgültige Historisierung einer genuinen Kunstform des 20. Jahrhunderts abzeichnete: des Kinos.

Mit Olivia de Havilland und Kirk Douglas starben die beiden allerletzten Überlebenden Super-Stars des Goldenen Zeitalters Hollywoods. Ebenfalls verstorben ist der Filmkritiker und Filmemacher Wolf-Eckart Bühler (Nachruf von Ralf Schenk im Filmdienst), dessen Beiträge in der „Filmkritik“ und dessen Filme – insbesondere über Sterling Hayden (Nachruf von Wolf-Eckart Bühler bei culturmag) – bei mir schon seit einiger Zeit ein wenig Wehmut darüber haben aufkommen lassen, wie sehr die hierzulande ohnehin immer nur sehr schwach ausgeprägte Filmkultur mittlerweile endgültig zu verschwinden scheint. (Siehe auch den Nachruf von Hans Schifferle in diesem Jahresrückblick – d. Red.)

In diesem Jahr stellte die deutsche „Boxoffice“, das Branchenblatt „Filmecho“/„Filmwoche“, sein Erscheinen ebenfalls ein (Nachruf auf eine Filmzeitschrift von Marc Mensch auf Blickpunkt:Film). Die im Duktus der Unvermeidbarkeit des „Fortschritts“ vorgetragene „Digitalisierung“ hatte dem Kino ohnehin bereits länger zu schaffen gemacht. Ästhetisch tote CGI-Bilder und Streaming-Dienste haben die Erlebniswelt des Kinos, wie wir sie kannten, vor allem bei jüngeren Menschen fast vollständig ersetzt. Dahinter steht nicht viel mehr als eine sich global durchsetzende Ideologie des Silicon Valley, auch als rücksichtslose Kommerzialisierung und Oligopolisierung unter dem Kommando des Shareholder Value.

Wir leben folglich in einer Phase eines gigantischen Umbruchs des Kinos. Es ist nicht nur in einer Krise, sondern längst in einen rasanten Prozess seiner Historisierung eingetreten. Zugleich aber werden unsere Gesellschaften immer geschichtsloser und damit auch Filmgeschichte zunehmend marginalisiert. Diese wird zu einer Nische, die bewusste Rezeption hiermit zugunsten des reinen Konsums verdrängt. Da Filme aber immer auch kulturelle Speicher sind, droht hiermit ein gutes Stück unseres kulturellen Gedächtnisses verloren zu gehen. Aber: „Nichts, was wir erinnern können, ist vorbei“, so der in diesem Jahr ebenfalls verstorbene Philosoph und Religionswissenschaftler Klaus Heinrich (Nachruf von Jürgen Kaube in der F.A.Z.). Tatsächlich ist Geschichte das Einzige, was niemals wieder verschwindet, das Einzige, was für immer bleibt – auch Kinogeschichte.

Wir sollten Filme ebensowenig vergessen oder gar wegwerfen, wie alte Bücher von Romanautoren oder Philosophen. Ein Teil unserer krisenhaften Situation ist ohnehin darauf zurückzuführen, dass wir schon zu viel an kulturellem Bestand verdrängt oder vergessen haben. Je länger wir diese Historisierung leugnen, desto schwieriger wird es mit der notwendigen Musealisierung des Kinos. Denn dann droht eine über hundertjährige kulturelle Praxis – und damit wertvolles kulturelles Gedächtnis – wirklich verloren zu gehen. Es gibt zur Zeit gerade einmal ein Handvoll Kinematheken und noch eine weitere Handvoll Filmmuseen in Deutschland. Aber, die Umwandlung von kommerziellen Abspieleinrichtungen in Kultureinrichtungen (inklusive der Musealisierung erhaltenswerter Gebäude) scheint mir der einzige Weg, um überhaupt noch etwas vom Kino dauerhaft zu bewahren. Denn das, was sich derzeit durchsetzt, wer will dies überhaupt noch ernsthaft „Kino“ nennen? Bewahrenswert ist nicht nur das Kino selbst, sondern ebenso die Schätze der Lebenswerke so vieler Filmschaffender eines ganzen Jahrhunderts wie auch die Erinnerungen an ganz besondere Persönlichkeiten des Kinos. Auch Rhonda Fleming, die letzte noch lebende „Glamour Queen“ des klassischen Hollywood, ist in diesem Jahr verstorben (hier mein Nachruf auf culturmag). Vielleicht sollten uns ihre Worte ein Beispiel sein. So erzählte die damals bereits siebzigjährige 1993: „Ich sitze nicht einfach herum und rede nur über die Vergangenheit. Hin und wieder schalte ich den Fernseher ein und sehe mich in IN DEN KERKERN VON MAROKKO oder STRASSE DES VERBRECHENS. Dann schaue ich eine Minute zu und lache zusammen mit diesem rothaarigen Mädchen.“ Wenn wir das Kino, wie wir es kannten, wirklich bewahren können, dann wird uns so vieles niemals mehr verloren gehen, auch nicht solch ein unverhofft wieder hervorgeholtes Lachen – und wie sehr haben wir dieses gerade im vergangenen Jahr gebraucht. 

Robert Zion ist Autor der weltweit einzigen und dazu noch vorzüglich ausgestatteten Rhonda-Fleming-Monografie – ein leidenschaftlich vom Kino begeistertes, altmodisch schönes und informatives Filmbuch mit Bildern in bester Druckqualität. Robert Zion, der vornehmlich für 35 Millimeter – Das Retro-Film-Magazin schreibt, hat bereits exquiste Bücher über Roger Corman, Vincent Price, William Castle und Dario Argento veröffentlicht. Rhonda Fleming ist, da stimmen wir ihm zu, einer der Gründe, warum das Kino überhaupt erfunden wurde. Das Buch hier bei uns von Alf Mayer besprochen.

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