Geschrieben am 31. Dezember 2020 von für Highlights, Highlights 2020

CulturMag Highlights 2020, Teil 13 (Rescue – Roth – Rosenstrauch – Rumpel – Saygin)

Robert Rescue –
Hazel Rosenstrauch –
Tobias Roth –
Frank Rumpel –
Susanne Saygin –

Robert Rescue: Ein bisschen Schuld habe auch ich

Das Berliner Stadtmagazin Zitty ist eingestellt worden. Mit sofortiger Wirkung. Also kein letztes Heft mit den besten Veranstaltungen der letzten 43 Jahre, doppelter Umfang und Statements von Prominenten, wie leid ihnen die Einstellung tut, wie sehr sie das Heft, dass sie vermutlich seit 20 Jahren nicht mehr gelesen haben, jetzt schon vermissen und wie doof sie die Corona-Pandemie finden, die als letzter Sargnagel für die Zitty gilt und als Krönung einen ätzenden Kommentar zum konkurrierenden Magazin TIP. Nein, das alles nicht, sondern ex und hopp, hau wech, den Scheiß.

Dabei hat sich das Ende schon lange angekündigt. Die Zahl der Berliner ist Legion, die sich immer mal wieder gedacht haben: „Ach, die gibt es noch?“, wenn sie im Kiosk oder Späti auf eine Ausgabe aufmerksam wurden. 

Ich selbst gehöre ja auch dazu.

Dabei war ich mal ein überzeugter Anhänger der Zitty. Als ich 1993 nach Berlin kam, wurde sie mein Guide durch die für mich unbekannte Metropole. Mein Heimatkumpan und Gastgeber war Zitty-Leser, also wurde ich es auch. Nicht auszudenken, es hätte bei ihm eine TIP rumgelegen. Ich wäre nicht der geistreiche, stets gutgelaunte und charismatische Mensch geworden, der ich heute bin. 

Für viele Neuberliner war es die erste Entscheidung, die sie treffen mussten. Zitty oder diese TIP, dieses elitäre, piefige, unpolitische, harmlose „Ding.“ Es gab ein regelrechtes Lagerdenken, dem ich mich allzu gerne anschloss. Wenn ich Leute kennenlernte, kam unweigerlich irgendwann die Frage, auf welcher Seite sie standen. Sie konnten hübsch, sympathisch, förderlich sein, aber wenn sie TIP-Leser waren, starb augenblicklich in mir jedes Interesse ab. 

Zitty, jenes auf Papier gedruckte Zeugnis der ungeheuren kulturellen Vielfalt der Hauptstadt, phasenweise mit jeder Ausgabe etwa ein Drittel so dick wie das Berliner Telefonbuch von A-H. Der Wegweiser durch den Dschungel aller erdenklichen Freizeitaktivitäten, denen man von Montag bis Sonntag frönen konnte. Wenn die Haltbarkeit des Veranstaltungskalenders, aus dem die Zitty ja quasi bestand plus ein paar Bla-Bla-Artikel, nach 14 Tagen erreicht war, konnte man sie anschließend noch gut als Anzündhilfe für den Kohleofen verwenden.

Ich erinnere mich, dass ich bei meinen ersten Reisen in die Heimat stets eine Ausgabe der Zitty dabei hatte. Ich wollte damit protzen, dass ich in einer Stadt lebte, in der man jeden Tag so viele Dinge erleben konnte, wie in meiner Heimatstadt in 300, ach was, 3000 Jahren nicht. 

Die Zitty diente mir aber auch als Rettungsanker bei all den Abenden in der ehemaligen Stammkneipe, wenn ich den Gesprächen von Ausländerfeinden, Dorftrotteln und ausländerfeindlichen Dorftrotteln zuhören musste. Ich umklammerte das Heft und wünschte mich fort oder ich blätterte im Veranstaltungsteil und plante, welche Konzerte oder Lesungen ich besuchen würde, wenn ich dieser kleingeistigen Landhölle endlich entronnen war.

Für viele Studenten, Schüler oder Lebenskünstler war der Job des Zitty-Verkäufers eine gute Möglichkeit, um das Bafög, das Taschengeld oder die Sozialhilfe aufzustocken. Alle vierzehn Tage sah man sie zuhauf, in Kneipen, vor U-Bahnstationen, an belebten Kreuzungen, vor großen Kaufhäusern. Damals ein alltägliches Bild, ebenso wie die Zeitungsverkäufer von B.Z. oder Berliner Kurier, die mit ihren Wägelchen oder Shoppern um die Häuser zogen. Sie trugen Schlüsselbunde bei sich, mit denen sie nachts die Haustüren öffneten, um den Abonnenten die frische Zeitung in die Briefkästen zu stecken. Es waren gewaltige Schlüsselbunde, mit fünfzig oder hundert Schlüsseln und sie lärmten durch die nächtlichen Straßen. 

Eigentlich unnötig zu erwähnen, dass ich seit Jahren weder einen B.Z. noch einen Zitty-Verkäufer gesehen habe, aber ich tue es trotzdem.

Eine Freundin von mir arbeitete damals als Zitty-Verkäuferin am U-Bahnhof Wittenbergplatz. Ich habe sie häufiger dort besucht und dass, wie ich gerade bemerke, ohne ihr vorher eine Message zu schicken. Einfach so, weil ich wusste, dass sie alle zwei Wochen zu einer bestimmten Uhrzeit dort stand. Total verrückt. Ich erinnere mich, dass es meist schlechtes Wetter war. Dick eingepackt und mit einer Thermoskanne in der Armbeuge stand sie da. Wenn sie mal auf Toilette musste, hatte sie einen Verdienstausfall. Einmal habe ich ihr ausgeholfen. Stand da und verkaufte die Hefte, etwa 15 Stück in den 10 Minuten, die sie weg war.

Die Rubrik, die ich neben den Veranstaltungen am meisten studierte, waren die Kontaktanzeigen. Ich war nicht einsam, aber ungebunden und leider nicht umtriebig. Daher begann ich irgendwann Mitte der Neunziger mit den Chiffre-Anzeigen, lange bevor es E-Mail-Adressen gab, noch viel länger, bevor Parship und Tinder auf den Markt kamen. Ich entwickelte eine Obsession dafür, gab eigene Anzeigen auf und bekam irgendwann auch Zuschriften, antwortete auf Inserate und traf mich zu Blind-Dates. Manchmal war ich der einzige, der am Treffpunkt wartete, manchmal wusste ich nach fünf Minuten, dass ich den Abend anders hätte verbringen sollen. 

Es hat nicht einen einzigen Treffer gegeben, aber ich habe das gute drei, vier Jahre mitgemacht. Damals gab es noch keine Algorithmen, sondern Bürokräfte, die die vertraulichen Chiffre-Nachrichten Nummern zuordneten und die Kennenlern-Post an die Empfänger zustellten. Ein Job, den es vermutlich seit zwanzig Jahren nicht mehr gibt.

Ein bisschen Schuld am Untergang der Zitty habe auch ich. Erst kam eine Beziehung, dann das Internet. Plötzlich gab es Websites von Bands, Newsletter von Bands und Blogs von Bands, wo sie ihre eigenen Konzerte bewarben. 

Es brauchte kein gedrucktes Heft mehr. 

Zu Konzerten ging ich irgendwann auch nicht mehr aus eigenem Antrieb. Oder zu Ausstellungen oder Lesungen. Einmal in zehn Jahren besuchte ich ein Museum und einmal in zwanzig Jahren ging ich Tanzen, wobei das auch nur „passiv“, um das mal so auszudrücken. Manchmal verlasse ich die Wohnung nur zum Einkaufen oder zu Auftritten. Seit etwa 20 Jahren habe ich keine Zitty mehr gekauft. Vielleicht lag das aber nicht an der Änderung von Lebensumständen oder an meiner Lethargie, sondern am Ende des Klassenkampfes zwischen TIP und Zitty-Lesern. Beide Magazine landeten unter dem Dach eines Verlages und wurden von einer gemeinsamen Redaktion produziert. Es herrschte quasi Frieden, aber von oben diktiert. Ob das der gemeine Leser akzeptieren wollte? Sollte es künftig keine eingeschlagenen Fensterscheiben mehr bei Kiosken geben, die das Konkurrenz-Heft verkauften? Keine nächtlichen Hetzjagden mehr auf die Leser des anderen Blattes mit abschließendem Aufknüpfen an der nächsten Straßenlampe?

Womöglich hat sich die Zitty all die Jahre nur über den Veranstaltungsteil und Anzeigen über Wasser gehalten. Aber seit Beginn der Corona-Pandemie gibt es keine Veranstaltungen mehr. Wer hätte das auch ahnen können? In Filmen oder Büchern über Pandemien sterben Hunderttausende wie die Fliegen, alles brennt, es gibt nichts mehr zum shoppen und das Militär schießt auf Zivilisten. Aber von ausgefallenen Veranstaltungen handeln all die Katastrophen-Szenarien nicht. Vermutlich hatten die letzten Ausgaben der Zitty nur noch den Umfang eines Flyers. Tipps für Restaurant-Besuche machten ja auch keinen Sinn mehr.

Was mich an dem Ende der Zitty am meisten wurmt und was ich nicht verhehlen kann: Der TIP macht weiter. Die hat den Überlebenskampf (vorerst) gewonnen.

So eine Scheiße aber auch.

Robert Rescue bei CrimeMagZu seiner Webseite mit Terminen, Veröffentlichungen etc. geht es hier, einen einschlägigen Beitrag von ihm finden Sie in der Anthologie „Berlin Noir“ und beim Talk Noir im Neuköllner Froschkönig ist er regelmässig unser Stargast.

Im Herbst 2020 erschienen: Robert Rescue: Das Leben hält mich wach. Berlins müdester Lesebühnenautor trotzt dem alltäglichen Wahnsinn mit Humor. Edition MundWerk, Berlin 2020. 146 Seiten, 12 Euro.

Hazel Rosenstrauch: Russische Dämonen

Lockdown, Feiertage und Rückzug haben die Besinnung auf Bücher befördert – aber man kann nicht immer lesen, auch Radio- und erst recht Fernsehprogramme waren in diesen Dezembertagen oft öde. Zum Glück gibt es Hörbücher. Am Sofa sitzend, im Bett und (falls  ein CD-Player in der Küche steht) neben dem Kochen kann man der eindringlichen Stimme von Sylvester Groth folgen. Leonid Zypkin begleitet Fjodor Dostojewski und seine zweite Ehefrau nach Baden-Baden, wo es den Dichter immer wieder zum Spieltisch zieht, oberflächlich betrachtet hofft er, seinen finanziellen Nöten zu entkommen. Er ist nicht der einzige Russe in diesem „Roulettenburg“, auch Turgenjew oder Gontscharow treten auf, es ist auch ein Roman über die russische Literatur des 19. Jahrhunderts. 

Die Stimme des Schauspielers führt uns in die Spielhölle, der Dichter hat nicht nur über Spieler und Dämonen geschrieben, doch Zypkins Erzählung zeigt, dass und wie Dostojewski besessen ist. Ein Spieler, der von den Dämonen seiners Gefängnisaufenthalts in Sibirien und den Kränkungen im Kreis durch Dichterfreunde in Petersburg verfolgt wird, von Eitelkeiten und Eifersüchteleien, Erinnerungen an die Grausamkeiten im Lager und Erniedrigungen nicht zuletzt verursacht durch die Armut und ständige Geldsorgen. 

Anna Grigorjewna Dostojewskaja hat ein Tagebuch geführt, die Geschichte wird entlang ihrer Notizen erzählt. Sie hatte sich als Sekretärin bei dem Dichter beworben und wird seine duldsame – im Unterschied zu ihm lebenstüchtige – Begleiterin. Sie hilft ihm mit dem Schmuck ihrer Mutter, mit den letzten Kleidungsstücken, die in Baden-Baden beim Pfandleiher landen, damit sie die Unterkunft bezahlen können – und jedes Geldstück landet wieder im Casino. Er beschimpft und erniedrigt sie, sie duldet und kümmert sich um ihn, später auch um die Kinder, die Schulden, seine Krankheit. 

Es ist nicht nur die Geschichte von Sucht, Wut, der Unbeherrschtheit dieses einen Dichters, sondern ein Parforceritt durch die russische Literatur und eine Studie der russischen Seelen – im Plural. Zypkin verwebt seine Studien auf den Spuren Dostojewskis mit der Reise des Ehepaars 1867 nach Deutschland, seine eigene Biographie mit  psychologischen Studien des Verzweifelten, den Wahn des Dichters mit der russischen Geschichte. Zu ihr gehört die Belagerung Leningrads und hundert Anspielungen, die ich vermutlich nicht alle verstanden habe, und die wohl auch das sowjetische Leben unter Stalin meinen. 

Slawisten mögen diese Fülle an Andeutungen besonders genießen, der einzige Nachteil für nicht so kenntnisreiche Hörer ist, dass man bei einer CD nicht zurückblättern kann. Zypkin war kein professioneller Schriftsteller, er war Arzt, der neben anstrengender Arbeit als Pathologe spätabends geschrieben und aus verschiedenen unglücklichen Umständen nicht publiziert hat, auch nicht im Samisdat. Er hat weder diesen Roman noch seine Erzählungen, Lyrik und autobiographischen Schriften gedruckt gesehen. Fünf Tage vor seinem Tod hat ihm der in Kalifornien lebende Sohn berichtet, dass dieser ins Ausland geschmuggelte Roman publiziert wurde. Das erfuhr ich, dann doch lesend, in dem kleinen beigelegten Essay von Susan Sontag, die beim Stöbern in einem Kasten mit abgegriffenen Taschenbüchern zufällig auf dieses Buch stieß. In dem Begleitheftchen stehen auch die wichtigsten Daten, der Autor „wurde 1926 als Sohn russischjüdischer Eltern in Minsk geboren“. Sein Antrag auf Ausreise aus der Sowjetunion wurde nicht bewilligt, er führte nur dazu, dass er entlassen wurde, auch davon berichtet Susan Sontag in ihrem Essay, die Leonid Zypkins Roman zu „den schönsten, anregendsten und originellsten literarischen Werken des vergangenen (d.h. 19.) Jahrhunderts“ zählt. 

Leonid Zypkin: Ein Sommer in Baden-Baden. Gelesen von Sylvester Groth, Regie Walter Adler. Erschienen bei ‚hörkultur‘. 331:01 Minuten, 5 CDs. Das Buch dazu ist im Aufbau-Verlag Berlin erschienen. 

Hazel E. Rosenstrauch, geb. in London, aufgewachsen in Wien, lebt in Berlin. Studium der Germanistik, Soziologie, Philosophie in Berlin, Promotion in Empirischer Kulturwissenschaft in Tübingen. Lehre und Forschung an verschiedenen Universitäten, Arbeit als Journalistin, Lektorin, Redakteurin, freie Autorin. Publikationen zu historischen und aktuellen Themen, über Aufklärer, frühe Romantiker, Juden, Henker, Frauen, Eitelkeit, Wiener Kongress, Liebe und Ausgrenzung um 1800 in Büchern und Blogs.  Ihre Internetseite hier: www.hazelrosenstrauch.de

Ihre Texte bei CulturMag hier. Ihr Buch „Karl Huss, der empfindsame Henker“ hier besprochen.Aus jüngerer Zeit: „Simon Veit. Der missachtete Mann einer berühmten Frau“ (persona Verlag, 112 Seiten, 10 Euro). CulturMag-Besprechung hier.

Tobias Roth

Dass das Jahr 2020 ein sehr ruhiges und sehr schreibtischlastiges Jahr werden würde, stand für mich mit der Aussicht auf die Fertigstellung und Buchwerdung eines Zwölfhundertseitenmanuskriptes eigentlich schon lange vor dem Anbruch des Jahres 2020 fest, aber die Überraschung der alternativlosen Häuslichkeit und all der anderen Ausfallerscheinungen brachen unvermindert herein. Als das Buch fast fertig war, fehlte noch die Abdruckgenehmigung für eine Abbildung, das prachtvoll illuminiertes Incipit eines Architekturtraktats, das sich im Besitz einer italienischen Bibliothek, der Marciana in Venedig, befindet. Unerwartet hatte ich mehrere Telephonate mit der Marciana zu führen, um herauszufinden, wo die Bewegung stockte, und um die Stockung wieder aufzulösen; die Zähigkeit war in diesem Moment nicht nur dem italienischen Bibliothekswesen geschuldet, sondern auch den Untiefen und der Unbill der Telephonie in Fremdsprache. Es war, so stellte sich schnell heraus, ein kleines Körnchen, das die Stockung hervorrief, aber langwierig aufzulösen war es trotzdem. Das seltsamste war, dass ich in Venedig auf dem Markusplatz direkt vor der Biblioteca Marciana stand, während ich telephonierte, und gar nicht erst versuchte, hineinzugehen, aus bewussten Gründen; ich würde in den Handschriftenlesesaal verbunden, hieß es, und meine Augen glitten die Fenster entlang. Zehn Tage später war meine Arbeit am Buch beendet, eine halbe Stunde nach Versendung der letzten Mail bekam mein kleiner Sohn meinen Füller in die Hände und ramponierte ihn dermaßen, dass die Leute in der Werkstatt nicht mehr festzustellen vermochten, welche Stärke die Feder einst gehabt hatte. Schluss mit Strichen. Das Buch ist nun fertig, ist sehr dick, heißt „Welt der Renaissance“, und prägt für mich das Jahr 2020 wie zum Glück nichts sonst.

Tobias Roth, geb. 1985, ist freier Autor, Mitbegründer des Verlags Das Kulturelle Gedächtnis, Lyriker und Übersetzer. Für seine Lyrik erhielt er den Wolfgang-Weyrauch-Förderpreis. Promoviert wurde er mit einer Studie zur Lyrik und Philosophie der italienischen Renaissance. Davon eine späte, aber überaus gehaltvolle Frucht: der im Text angesprochene und im Herbst 2020 bei Galiani erschienene monumentale Folioband Welt der Renaissance. Ebenfalls jüngst erschienen und bei uns samt Textauszug besprochen, ein illustres und kundiges Buch über Feindflugblätter des Zweiten Weltkriegs.

Frank Rumpel

In einem Jahr ohne Reisen bleibt fast nur der Griff zum guten Reisebuch. Und da entpuppten sich die bereits 2019 im Residenzverlag erschienenen, aber sicher auch noch in den kommenden Jahren taufrischen Reiseaufzeichnungen des österreichischen Autors Peter Rosei als bester Begleiter. Es sind Texte, die in den vergangenen fast 50 Jahren entstanden und verstreut in Zeitungen und Zeitschriften erschienen, nun aber erstmals komplett und gesammelt zu lesen sind. Peter Rosei war und ist viel unterwegs, wobei es eben längst nicht nur Urlaubsreisen sind, von denen er hier erzählt. Längere Zeit war er etwa in Japan, Russland und den USA, gewann dort tiefere Einblicke.  

Diese Reisenotizen sind in mehrfacher Hinsicht interessant. So kann man darin etwa Orte im Gestern kennenlernen, die Rosei teilweise mehrfach und mit Abstand besuchte. Da ist etwa das China von 1978 und von 2012, das Venedig von 1979 und 2012, oder Prag 1984 und 1995. Dabei hat Rosei seine Texte zum Glück nicht chronologisch angeordnet, sondern nach Regionen. So kann man nicht nur sehen, wie sich die Orte und Gesellschaften verändern, auch Stil und Blickrichtung ändern sich mit den Jahren. Feingliedrig aber bleibt die Prosa, in der sich Rosei im Wechselspiel mit dem, was er sieht und wahrnimmt beobachtet, ohne sich dabei allzu wichtig zu nehmen. 

Diese persönlichen, literarischen Reisenotizen, die da eben von Zürich (1972) bis Japan (1997, 2003), von Albanien (1988) bis Sri Lanka (2018) reichen, sind nicht nur spannend und kenntnisreich, sondern weiten auch den eigenen Blick, weil sich darin jede Menge substantielle, kluge, auch politische und pointierte Gedanken und Beobachtungen finden. „Zuletzt“, schreibt Rosei 2012 etwa über eine Indienreise, „ist Leben doch eine Frage des Mutes, sage ich mir immer wieder vor – mit der Halbherzigkeit des Europäers“. In China fragt er sich: „Kann man etwas finden, von dem man nicht weiß, was es ist?“ Im Text „Die große Straße“, der dem Buch seinen überaus passenden Titel gab, wird ihm in den USA klar: „Wir sehen also, dass etwas, das im Grunde weder Anfang noch Ende hat, ein Zentrum sein kann.“ Und 1992 notiert er in Guatemala: „Sah ich die verelendeten Dörfler zwischen winzigen Schweinen, von Rauch verpesteten Hütten und Bergen von Unrat, zwischen Kinderhorden und bunten Plakaten, die vor der Cholera warnten, dann wünschte ich mir, dass dieses dumpfe Entsetzen, das da ununterdrückbar in mir hochstieg, nur etwas Privates gewesen wäre.“ Peter Rosei nähert sich stets aufs Neue an, der Landschaft, den Menschen, den Umständen, sich selbst und lässt sich dabei erfrischenderweise immer wieder überraschen. 

Aus gegebenem Anlass aus dem Regal gekramt habe ich dieses Jahr einen acht Jahre alten Roman von Wolf Haas, denn der passt in die Zeit. In „Verteidigung der Missionarsstellung“ erzählt er eine Liebesgeschichte entlang der neueren Pandemien. Sein Protagonist Benjamin Lee Baumgartner verliebt sich stets in virologisch bedenklichen Situationen, in England etwa in eine Burgerverkäuferin, als die Rinderseuche ausbricht. Er ist in Peking, als die Vogelgrippe wütet und bekommt später als erster die  Schweinegrippe. Muss man mögen, ist aber immer noch virtuos und komisch und eben auch ein Buch über das Erzählen selbst.

Frank Rumpel bei uns hier.

Susanne Saygin: Hello Boomer!

„Das Gefühl, wenn Du ‚damals‘ sagst und Februar meinst“, tweetete eine unbekannte Twitter-Userin einige Tage nach Verhängung des ersten Lockdowns. Ihre Beobachtung traf schon im März ins Schwarze und umso mehr nun, Ende Dezember 2020. Dennoch der Versuch einer Rückschau.

‚Damals‘, also im Januar und Februar 2021, schien SARS-CoV-2 noch ein Sack Reis in China und sehr weit weg von meinem Leben. In diesen Monaten war ich in der Endphase der Arbeit an meinem neuen Krimi. Meine Existenz beschränkt sich auf Arbeiten, Schreiben, Schlafen. Mein Lebensraum war der große Lesesaal der Staatsbibliothek zu Berlin, diesem von mir viel zu spät entdeckten golden schimmernden Raumschiff am Potsdamer Platz. Ich verlasse dieses Habitat nur selten. Anfang Februar, nach der Regierungskrise in Thüringen, stehe ich mit einem alten Freund aus Köln und einer Handvoll anderer Aufrechter mit Protestbannern für eine Stunde zwischen Kanzleramt und Reichstag. Ab und an zwinge ich mich zu etwas feuilletonistisch Wertvollem, René Polleschs Glauben an die völlige Erneuerung der Welt im Friedrichstad-Palast zum Beispiel. Großes Spektakel vor ausverkauftem Haus. Um mich herum 1.894 einhellig begeisterte Kulturadepten, einzig mir, so scheint es, mag es nicht gelingen, in der brillanten Inszenierung mehr zu erkennen, als eine kalte Ansammlung schöner Bilder. Immerhin, nach Ende der Vorstellung und nach dem Klatschen der Anderen, in der U-Bahn zurück nach Neukölln eine Gang smarter, junger Menschen mit offensichtlichem Migrationshintergrund, wild und scharfzüngig über das Stück diskutierend, lachend und dann auf einmal der Spruch: „Ey, check mal Deinen Habitus, Bruder!“ Das ist eher meine Scene, auch wenn mich – ich weiß es wohl – von diesen hungrigen Jungschen mehr trennt, als von der saturierten Volksbühnen-Posse. Ende Februar dann Berlinale und gleich noch zweimal im ausverkauften Friedrichstadt-Palast: Am 24. Februar – diese Daten scheinen mir im Rückblick wichtig – Christian Petzolds Undine (öd), am 27. Februar Burhan Qurbanis Berlin Alexanderplatz, den ich als ziemlich beeindruckend abspeichere, auch wenn mich die wollüstig ausgewalzten Szenen aus dem ach so verruchten Berliner Clubleben tendenziell langweilen. Aber wahrscheinlich bin ich inzwischen einfach zu alt für diesen ganze Berlin-Babylon-Talmi.

Also zurück in die Staatsbibliothek und zu meinem Manuskript. Am 28. Februar notiere ich in meinem Tagebuch erstmals allgemeine Corona-Unruhe; den wirklichen Ernst der Situation checke ich aber, ausweislich meiner Tagebucheinträge, erst am 11. März. Die WHO ruft die Pandemie aus, eine Freundin in Rom steht da schon seit Tagen unter der italienweiten Ausgangssperre, ein Freund aus Köln sagt eine Reise nach Berlin ab, die Staatsbibliothek schließt für den Kundenverkehr, in Mitte und Neukölln sind manche Regale in den Supermärkten plötzlich leer und auch ich lege mir sorgsam durchdachte Vorräte an. Eine Woche später erwischt mich Angela Merkels Lockdown-Ansprache dann zwischen den Regalen eines Baumarkts, wo ich hektisch Materialien zusammenraffe, um während der befürchteten Ausgangssperre meine Wohnung renovieren zu können.

Und dann also Lockdown. Für mich ändert sich zunächst nichts. Ich sitze weiterhin ununterbrochen an meinem Text, obwohl ich da schon weiß, dass mein im Frühjahr 2019 angesiedelter Thriller unversehens zum historischen Roman mutiert ist. Am 27. März schicke ich das fertige Manuskript an den Verlag. Danach habe ich auf einmal viel Zeit. Ich streife durch die verwaiste Stadt, in der außer mir vor allem Obdachlose unterwegs sind, ich finde erste Querdenker-Manifeste auf Kreuzberger Parkbänken, checke mehrmals täglich die Zahlen der Johns Hopkins University, höre den Podcast von Christian Drosten, habe Geburtstag (Gratulation via Skype, liebstes Geschenk eine selbstgenähte und auf mich zugeschnittene Maske), kaufe für Nachbarn ein, rufe die Polizei wegen häuslicher Gewalt im Hinterhaus, renoviere meine Wohnung und lese ununterbrochen. Ich entdecke das digitale Angebot der Berliner Stadtbibliotheken und damit die für mich neue Welt der Audiobooks (Unübertroffener Höhepunkt: die englischsprachige Hörbuchversion von Sarah Perrys The Essex Serpent).

Und dann natürlich Binge Watching: Andere reizen ihr Netflix-Abo aus, ich stoße ich auf youtube durch Zufall auf die wöchentliche Gartensendung Gardeners’ World der BBC und bin sofort angefixt. Schwer zu erklären, was den Reiz für mich ausmacht: Das Gartenthema (die Saatgut-Kataloge von Rühlemann’s, vom Templiner Kräutergarten, von Chiltern Seeds und Special Plants Nursery gehören seit Jahren zu meiner Pflichtlektüre)? Die ausgesprochen britische Mischung aus Leidenschaft, Nerdiness und Zurückhaltung? Beides sind Faktoren, vor allem ist es jedoch die schlichte Zivilität von Gardeners‘ World, die sich in den Corona-Monaten gerade in den Zuschauereinsendungen offenbart. Aufgefordert, zu erzählen, was ihnen ihre Gärten in den Zeiten der Pest bedeuten, schicken Tausende von Zuschauern quer durch alle sozialen Schichten, Alterskohorten und ethnischen Backgrounds ihre selbstgedrehten Videos ein – von der Familie aus Bangladesh, die auf jeder Fensterbank ihrer Wohnung Chilis und asiatische Auberginen zieht, über den Vater im Home Office, der sich mit seiner blinden Tochter in den Garten legt, um mit ihr den Bienen zuzuhören, bis hin zu der Frau, deren Mann nach einer CoVid-Erkrankung seit Monaten im Koma liegt und die erzählt, wie ihr manchmal nur die Konzentration auf die sich im Wind bewegenden Blätter in ihrem Garten gegen die aufsteigende Panik hilft. Das mag nach Rührseligkeit klingen, ist aber für mein Empfinden weit davon entfernt und vielmehr ein bodenständig-utopischer Gegenentwurf zum deutschen Landlust-Eskapismus.

Irgendwann ist der Lockdown zu Ende und dann ist fast schon Sommer. An einem Samstag im Mai besuche ich Freunde in Mitte. Auf dem Alexanderplatz trennt ein Polizeikordon demonstrierende Corona-Leugner von der ca. 300 Meter langen Warteschlange vor PRIMARK. 

In den darauffolgenden Wochen sollte ich am lektorierten Manuskript arbeiten. Der Veröffentlichungstermin ist mittlerweile um ein ganzes Jahr nach hinten verschoben. Die Staatsbibliothek hat wieder geöffnet, wenngleich die wenigen Plätze im Lesesaal eine Woche im Voraus gebucht werden müssen. Aber eigentlich zieht es mich ständig nach draußen: mit Freunden an die Seen im brandenburgischen Umland, in den Britzer Garten, eine Parklandschaft zwischen Neukölln und Gropiusstadt, zur Not auch ins Kreuzberger Prinzenbad, das infolge des prohibitiven Ticketsystems von einem trubeligen Multikulti-Treffpunkt mit hohem Seniorenanteil zur All-White-Veranstaltung für Menschen zwischen 30 und 40 gentrifziert ist.

Im August wird das Syndikat, ein linksautonomes Kneipenprojekt in meinem Kiez nach 35 Jahren zwangsgeräumt. Schon Tage zuvor riegelt die Polizei die Straße ab. Die zugezogenen Expats, die mittlerweile die Mehrheit im Viertel stellen, beobachten die mit Flutlicht ausgeleuchtete Szenerie amüsiert-distanziert über Tapas und koreanischem Fast Food. Während der Räumung wird ein Polizist bei gewalttätigen Auseinandersetzungen schwer verletzt.

Anfang September kehre ich spätnachmittags mit einer Freundin aus Brandenburg in die Stadt zurück. An einer Ampel in Mitte steht ein phänotypischer Hipster mit einem Plakat gegen Bill Gates. Der Deutschlandfunk berichtet von Tumulten vor dem Reichstag.

Anfang Oktober eine Woche Hiddensee, wo die Welt noch in Ordnung ist und sich alle an die Regeln halten. Der Zug zurück nach Berlin speit mich im Wedding aus und der Kulturschock trifft mich unmittelbar: Keine Maske, nirgends. Wohin die Reise geht, ist da eigentlich schon klar. 

Mein Radius wird wieder kleiner. Ich gehe nicht mehr in die Staatsbibliothek, sondern pendle nur noch zwischen Büro und Wohnung. Ende November die zweite große Querdenken-Demo in Berlin, einer der Anfahrtswege für die Demonstranten führt direkt unter meinem Büro vorbei. Get up, stand up und die Gedanken sind frei, dringen von unten zu mir herauf. Ich denke an Flammenwerfer. In der Mittagspause gehe ich in Richtung Brandenburger Tor, weil ich mit eigenen Augen sehen will, womit wir hier zu tun haben. Eine schwäbische Landsmannschaft drängt mir entgegen – ohne Masken, dafür mit Herzchen-Ballons und Baden-Württembergischer Standarte (ich erfinde das nicht). Hinter mir sächselndes Raunen über die Umtriebe der Deutschland GmbH, unmaskierte Wildpinkler in den Grünanlagen um den Bundestag. Ein umtriebiger Wirt hat entlang des Demonstrationswegs einen CaiPi-Stand aufgebaut. Das Geschäft läuft Bombe.

Ich gehe zurück in mein Büro und kann in der Nacht darauf nicht schlafen. Schlaf ist überhaupt ein Problem in den letzten Monaten. Ich höre viel Barockmusik und lasse mich immer wieder von Peter Kurzeck und seiner Novelle Da fährt mein Zug in den Schlaf erzählen. Nach ein paar Wochen schlägt mir der spotify-Algorithmus die Solitude Trilogy von Glenn Gould vor und das ist dann eine dieser ganz großen Offenbarungen. Genau wie kurz darauf die zufällige Entdeckung von Kay Ryans Gedicht On the Nature of Understanding. Ich habe es im Allgemeinen nicht so mit Lyrik, Ryans kurzes Prosagedicht hingegen erwischt mich kalt. Sonst noch was? Ja, Benjamin Mosers Biographie von Susan Sontag, 900 Seiten über eine Frau, die mir immer unsympathisch war. Kein Heldinnen-Epos, sondern eine ständige Gratwanderung zwischen Schonungslosigkeit und Mitgefühl. Grandios!

Finis. Fazit: In der Krise habe ich mich offenbar fast ausschließlich auf bewährte Formate und Nicht-Aktuelles aus den 70igern und 80igern zurückgezogen. Hello Boomer!

Susanne Saygin wohnt in Berlin. Ihre Texte bei uns, Texte zu ihr, darunter eine Laudatio von Tobias Gohlis und Hintergrund zu ihrem Roman Feinde. Ihr neuer Roman Crash wird im August 2021 und wieder bei Heyne erscheinen. Eine Mini Sneak Preview gibt es hier.

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