Geschrieben am 31. Dezember 2022 von für Highlights, Highlights 2022

Andreas Pflüger, André Pilz

Andreas Pflüger: Atemlos nach Florida

Ein glückliches Ehepaar ist pleite; der Vermieter von Tom und Gerry Jeffers will die beiden aus ihrer Wohnung schmeißen. Doch Gerry, gespielt von Claudette Colbert, weiß seit einer Begegnung mit dem Wurstkönig Wienie King um ihre betörende Wirkung auf ältere reiche Männer. Sie verfällt auf die Idee, sich in Florida einen Millionär zu angeln, um ihrem geliebten Tom die berufliche Karriere zu ermöglichen, von der er träumt. Wie Preston Sturges das in Tempo und Witz umsetzt, bringt mich zum Niederknien. »Du hast keine Vorstellung, was eine langbeinige Schönheit alles machen kann, ohne überhaupt etwas zu tun«, sagt Gerry zu ihrem Ehemann. O ja.

Atemlos nach Floria (The Palm Beach Story, 1942, Regie: Preston Sturges) mit Claudette Colbert, Joel McCrea, Siegfried Arno

Sturges war ein Auteur; in Hollywood galt er als Regenmacher, und zwar völlig zurecht. Dies sind seine elf Regeln für eine erfolgreiche Komödie:

1.  Ein hübsches Mädchen ist besser als ein hässliches

2.  Ein Bein ist besser als ein Arm

3.  Ein Schlafzimmer ist besser als ein Wohnzimmer

4.  Eine Ankunft ist besser als eine Abfahrt

5.  Eine Geburt ist besser als ein Tod

6.  Eine Verfolgungsjagd ist besser als eine Plauderei

7.  Ein Hund ist besser als eine Landschaft

8.  Ein Kätzchen ist besser als ein Hund

9.  Ein Baby ist besser als ein Kätzchen

10. Ein Kuss ist besser als ein Baby

11. Wenn jemand auf den Arsch fällt, ist das besser als alles andere

Über den ersten Punkt darf man heute streiten. Ansonsten hat sich seit 1942 nichts geändert. In Atemlos nach Florida (The Palm Beach Story, 1942) wird das durchdekliniert.

  • Im Herbst 2023 wird im Arche Verlag ein Buch mit Texten zu Andreas Pflügers Lieblingsfilmen erscheinen: „Herzschlagkino. 77 Filme fürs Leben“. Außerdem im Herbst 2023 bei Suhrkamp der Thriller „Wie Sterben geht“: 1980, auf dem Höhepunkt des Kalten Krieges, muss BND-Agentin Nina Winter in Moskau mit dem Tod tanzen. Pflüger verspricht Action.

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André Pilz

Der Innsbrucker Kickboxweltmeister Hans-Peter Weinold hat mir einmal während eines Sparringskampfes den losen Boxhandschuh auf den Kopf geschleudert und gemeint: „Du musst treffen wollen. Du musst treffen wollen, Marvelous! Sonst musst du erst gar nicht in den Ring! Geht das in deinen Kopf, Marvelous?“ (*yep, Marvelous war mein Spitzname, leider nur wegen meiner Glatze, nicht wegen meiner Klasse wie Marvelous Marvin Haglar) 

Das war vom ersten Tag mein Ziel beim Schreiben: treffen wollen. Sonst muss ich gar nicht erst schreiben. Sonst ist es ja doch nur Zeitverschwendung. 

Wenn ich ein Buch lese, wenn ich einen Film oder eine Serie schaue, dann möchte ich genauso getroffen werden. Das, was es für mich 2022 verdammt schwer machte, getroffen zu werden, war die brutale Wirklichkeit. Ein Moment hat sich tief in mich gebrannt: als das erste Video einer Autokolonne russischer Spezialeinheiten in einem ukrainischen Ort auf Twitter auftauchte, postete ein Journalist des überfallenen Landes die Nationalhymne und schrieb: „This might be it.“ Vorbei der Running Gag der vergangenen Wochen, dass der kriegshungrige, blutrünstige Putin bloß eine Erfindung der US-Amerikaner war, genau wie die Existenz von Massenvernichtungswaffen im Irak. Vorbei die Hoffnung, dass alles vielleicht doch nur ein gigantischer Bluff war. 

This might be it. All die Wut, Enttäuschung, Verzweiflung, Trauer, die ich in diesen Tagen, nein, in den Wochen darauf empfand, führten dazu, dass lange nichts mehr an mich rankam. Dass mich Bücher und Filme kalt ließen und nicht interessierten. Und ich weiß, ich bin hier nicht das Opfer, ja, die eigene Befindlichkeit scheint geradezu lächerlich, wenn man sich anschaut, wie unendlich groß das Leid der Menschen in Kriegsgebieten oder unter diktatorischen Regimen ist. Trotzdem war dieser 24. Februar 2022 ein niederschmetterndes Ereignis für mich. 

Im Lauf des Jahres fand ich Trost in Büchern meiner Lieblingsautor*innen: So habe ich Cormac McCarthys Border-Trilogie wiedergelesen. Und auch wenn McCarthys konservative Ansichten, die in manchen Passagen durchschimmern, immer ein Störfaktor für mich waren, gehört diese Trilogie zu meinen heiligen Büchern. Nehme ich diesen Band in die Hand, dann mit viel Ehrfurcht und noch mehr Freude. 

Charles Bukowski ist mehr als problematisch, keine Frage, aber wenn er gut ist (und nicht rassistisch oder zutiefst frauenverachtend), wenn er vom Leben als Arbeiter, als Alkoholiker, Liebeskranker, Arschloch und Underdog erzählt, dann gab und gibt es niemanden, der ihm auch nur annähernd das Wasser reichen kann. Keiner kann mich so zum Lachen bringen und dann auch wieder etwas in mir berühren, das für so lange Zeit noch nachklingt. Selbst in dem größten Wahnsinn der Welt, in den schlimmsten Momenten kapitalistischer Ausbeutung, im größten Liebesschmerz findet sich noch Menschlichkeit und Hoffnung und ein Grund zu lachen. Und wie meisterhaft Charles Bukowski auf allen Ebenen auf Konventionen geschissen hat, das haben zwar pseudocoole Autoren auch hierzulande versucht zu kopieren, aber es ist bisher bei plumpen Versuchen geblieben. 

Die viel zu früh verstorbene Kathy Acker hat irres Zeug geschrieben, ich tu mir schwer, ihre Bücher an einem Stück zu lesen, aber ich habe mir auch dieses Jahr immer wieder gerne Passagen reingezogen. Sie müsste viel größer sein. Genau wie Ann Petry. The Street (Die Straße) entstand 1946, das erste Buch einer afro-amerikanischen Schriftstellerin, das sich über eine Million Mal verkaufte, und auch wenn ich es erst vor zwei Jahren entdeckt habe, gehört es für mich zu meinen persönlichen Klassikern.  

Andrea Hairstons Master of Poisons ist ein Fantasy-Roman, der mir viel Freude bereitet hat, wie traurig, dass das Buch nicht viel mehr Aufmerksamkeit bisher bekommen hat und bisher nicht einmal eine deutsche Übersetzung vorliegt. Das von Cherise Boothe und Larry Herron grandios gelesene Hörbuch habe ich mir auf langen Waldspaziergängen reingezogen, und ich bin so manche Extrarunde gegangen, um es länger zu hören. 

Apropos Hörbücher: Die Physikerin Chanda Prescod-Weinstein hat mich mit The Disordered Cosmos: A Journey into Dark Matter, Spacetime, and Dreams Deferred (gelesen von Joniece Abbott-Pratt) in ihren Bann gezogen, und nein, ich hab so einiges nicht verstanden, natürlich nicht. Oder: Carlo Rovellis The Order of Time, das ich gleich zweimal gehört habe, nicht nur, weil Benedict Cumberbatch eine göttliche Stimme hat und ich ihm wohl sogar dann noch gerne zuhören würde, wenn er Uwe Tellkamps Unsinn vorlesen würde. 

Schön war es auch, die Audioversion meines Romans Morden und lügen (gelesen von Sebastian Grünewald) anzuhören. Auf Plattformen wie Audible, Spotify, Google Play oder Deezer präsent zu sein, ist eine verdammt coole Sache.  

Was mir 2022 aufstieß: Die Debatte um Karl May. Als Kind habe ich all seine Bücher gefressen und wäre vielleicht ohne nie zum Bücherjunkie geworden. Aber schon als junger Mensch wurde mir mit der Zeit klar, wie rassistisch und platt da manches war. Und wenn dann im Jahr 2022 eine Buch- oder Filmadaption uralte rassistische Klischees wiedergibt, jeglichen Protest von Natives ignorierend, und das in einer Zeit, da indigene Menschen in Amerika immer noch verfolgt, vertrieben, lächerlich gemacht, ausgegrenzt und ermordet werden, dann ist die Entscheidung gerechtfertigt, so ein Projekt einmal am Ende nicht durchzuziehen (und nein, es wurde nichts verboten, gar nichts, warum dieser Schwachsinn selbst von Leuten verbreitet wurde, die ich sonst sehr respektiere, ist mir bis heute ein Rätsel). Aber tausende von wütenden Almanapachen ritten unter der fragwürdigen Schirmherrschaft der BILD aus, um Winnetou beizustehen und machten sich, sorry!, in meinen Augen so ziemlich zum Affen. 

Ich erinnerte mich an das Buch, das im Regal meines Vaters steht: Vine Deloria, We talk. You listen. Und weiße Menschen in Europa sollten sich genau das zu Herzen nehmen. Ja, wir sollten alle ein bisschen demütiger, leiser und neugieriger werden. Reichtum und Privilegien auf dieser Welt beruhen auf Raub und Mord. Die Geschichten derer, die dabei unter die Räder kamen und kommen, sind da draußen. Man muss sie manchmal suchen und das kostet ein bisschen Mühe und Zeit. Aber sie sind da. Und sie sind wichtig. Ja, ich behaupte, überlebenswichtig für die ganze Menschheit. Hätten die Leute in den letzten Jahrzehnten nicht die Bücher von Leuten wie z.B. Gabriele Krone-Schmalz oder Michael Lüders en masse gekauft, sondern stattdessen etwa den Erzählungen von Tschetschen*innen und Syrer*innen gelauscht, hätten wir heute vielleicht keinen Krieg in Europa, keine Gefahr einer nuklearen Eskalation und Putin viel früher eingedämmt. Dann nämlich wäre es in Talkshows oder Tageszeitungen viel schwerer gefallen, Menschenschinder wie Putin oder Assad zu verharmlosen, und vielleicht hätten dann auch politische Entscheidungsträger*innen nicht solch katastrophale Fehler begangen, wie sie ein Wolfgang Schäuble mittlerweile offen eingesteht. 

Die Streamingplattform Mubi hat mich mit guten Filmen überzeugt. Den Feelgood-Film A l’abordage (All Hands on Deck) brauchte ich in Zeiten von Krieg und mörderischen Menschenschinder-Regimen 2022 im Iran, in Belarus, in Myanmar, in Nicaragua … Die kroatische Serie The Paper auf Netflix ist nicht perfekt, verdient aber unbedingt eine Erwähnung. Die Discounter ist eine schräg-dreckige Serie auf Amazon Prime aus Deutschland, bei der ich vor allem Staffel 1 geil finde. Und in der ARD-Mediathek findet sich in diesem Jahr eine der besten deutschsprachigen TV-Serien überhaupt: Fast wia im richtigen Leben von Gerhard Polt. Polts für mich etwas zweifelhafte Haltung zum Ukrainekrieg ändert natürlich nichts daran, dass diese Serie ein brillantes, unübertroffenes Meisterstück ist. 

Musikmäßig haben mich u.a. Jimi Hendrix, Albert King und Motörhead durch das Jahr gebracht, mein Vorarlberger Landsmann Philipp Lingg hat mit „Werkstatt“ eine tolle Platte rausgebracht, mit Songs auf Deutsch, Englisch und im Dialekt (Fun Fact: Ich habe Dialoge in „Morden und lügen“ erst im Dialekt geschrieben und danach umgewandelt). Józef Kozłowskis Requiem ist vielleicht meine musikalische Lieblingsentdeckung 2022, es lief bei der Arbeit auf loop (und zwar diese Version auf YouTube: A Rare Gem: Osip Kozlovsky). Wer sich auf etwas Besonderes einlassen möchte, suche auf YouTube die vom Nationalen Symphonieorchester der Ukraine gespielte persische Oper „Puppet Opera of Rumi with English Subtitles“. Und die Birmingham Opera Company hat eine wunderbar-geniale englische Version von Wagners Rheingold auf die Bühne gebracht (ebenfalls zu finden auf YouTube, OperaVision, Rhinegold). 

Ebenfalls ein Lichtblick: Ende Juli mein erster Besuch einer Kunstausstellung nach Ausbruch der Pandemie: Mythos Natur im Kunstmuseum Lindau. Und mir wurde klar, wie sehr mir das gefehlt hat. 

Was noch? Elon Musk hat mit der Zerstörung Twitters begonnen, und für mich war Twitter eine der wenig richtig starken Plattformen im Internet. So fanden Menschen, die gegen mörderische Regime aufstanden, dort eine Möglichkeit, sich zu artikulieren, die Welt zu informieren oder sich zu organisieren (die Menschen in Syrien gegen Assad 2011f., in Nicaragua gegen Ortega 2018f., in Belarus gegen Lukaschenka 2020f., in Myanmar gegen die Militärdiktatur 2021f. im Iran gegen das Terrorregime 2022, man muss diese verzweifelten, tapferen Aufstände immer wieder erwähnen). Twitter hatte auch seine hässlichen Seiten, keine Frage, aber die guten überwogen. Warum gibt es überhaupt 2022 noch Milliardäre wie Musk in (vermeintlich) demokratischen Staaten? Oder Königinnen (no R.I.P. für eine Kolonialherrin) und Könige? Ich wünsche mir eine Zeit herbei, in der Menschen über sowas nur noch den Kopf schütteln.

In meinem Zimmer liegt ein riesiger Stapel ungelesener und angelesener Bücher (Martin G. Wankos Eisenhagel 2 hat mich schon gepackt und Drei Kameradinnen von Shida Bazyar scheint genau mein Ding zu sein) und auch wenn ich pessimistisch bin, was die Lage der Welt und auch unserer Gesellschaft angeht, freue ich mich auf all die vielen Bücher, Filme, Serien und vor allem Songs, die mir 2023 Freude bereiten werden. Und auch wenn es sich 2022 anfühlte, als würden die Apokalyptischen Reiter durchs Land ziehen, angesichts von Pandemie, Krieg, drohendem Nuklearkonflikt, Klimawandel, erfolgreichen Niederschlagungen friedlicher Proteste durch Terrorregime, darf man eines niemals vergessen: It ain’t over til it’s over. 

PS: Fauxpas bei meinem Culturmag-Rückblick 2021 – ich habe Oss‘ Buch über den Djatlow-Pass nie gelesen, habe die Autorin bzw. das Buch schlicht und einfach verwechselt. Sorry …  

  • André Pilz lebt in Vorarlberg. Seine letzten drei Romane „Man Down“ (2010), „Die Lieder, das Töten“ (2012) und „Der Anatolische Panther“ (2016) erschienen bei Haymon. In der Edition TW bei Suhrkamp erschien 2022 „Morden und lügen“. Sein Blog trägt den Namen liebeundgewalt.

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