Geschrieben am 4. April 2009 von für Crimemag, Porträts / Interviews

Zum Todestag von Raymond Chandler (2)

In Hollywood mit seinem Latein am Ende

Im zweiten Teil der großen Hommage an Raymond Chandler sehen wir, wie man ihn gesehen hat: Als Persönlichkeit, als Erfinder der Ikone Marlowe, welche Wirkung er auf Leute, Filme, Comics und überhaupt auf die Kunst des 20. Jahrhunderts hatte und welche Erfahrungen man machen kann – mit ihm und über ihn. Chandler ist und bleibt eine Schlüsselfigur.
Eine Hommage von Matthias Penzel (Teil II)

(Teil 1 ist am 28.3.2009 erschienen)

Wie mit einigen Zitaten und Appetizern im ersten Teil angedeutet, kommt man am besten in den Genuss Chandlers, ja, man kommt am besten auf den Geschmack, wenn man ihn pur und unverschnitten konsumiert. Im Original. Dass man so was sagen muss, um sich als distinguierter Leser zu beweisen, das lernt jedes Kind schon früh; kurz nach dem immer-wahren Angebersatz, dass die Verfilmung zwar ihre Reize habe, das Buch aber besser sei.

Diese Sorte Snobismus, die im Gleichschritt folgenden subtilen und grazilen, wiewohl hundsgemeinen Feinheiten des Bildungsbürgertums oder der Upper Middle Class hat Raymond Thornton Chandler früh kennengelernt. Nachdem sein saufender Vater von der Szenerie verschwand, packte seine Mutter – für den Rest ihres Lebens, was man heute alleinerziehend nennt – Hab und Gut und zog mit dem Kind von Chicago nach England. Dort besuchte Chandler Schulen, in denen er Latein und Altgriechisch lernte, und mit der sogenannten humanistischen Bildung eben auch die Überheblichkeit, die Ellbogenschoner, die Feinheiten bei der Wahl der Manschetten.

Das ist deshalb erwähnenswert, weil es aufzeigt, wie er früh zwei Welten kennenlernen musste – und weshalb er sich in beiden Welten nie zu Hause fühlen konnte. Daher diese für uns als Leser so reiche Schreibe und Sprache: das Beste aus allen Welten.

Wenn ich also sage, man sollte ihn am besten im Original lesen, so ist das zu 100% wahr; zugleich würde ich das nie im Leben laut und in aller Öffentlichkeit sagen, denn es ist auf so plumpe Weise snobistisch, dass ich mich hüten würde, mich dermaßen billig als vermeintlich clever darstellen zu wollen.
Yeah?
OK, hier haben wir ihn, den doppelten Boden. Den doppelten Boden des Chandler’schen Humors und seiner Traurigkeit, seiner großen Enttäuschung von der Welt.
Denke ich.
Im selben Groove, als Bruch gegen alles vorher Gesagte, und zwar im Original, weil es ja fast klingt wie ein Song: „Don’t be a hero, there’s no percentage in it.“

Ja Chandler. Jeder bessere Schreiber liebt ihn. Schon sein Name klingt ja. Klingt wie ein chandelier, und zugleich, bei allem Glanz und Prunk und Protz des Kronleuchters, war Raymond Chandler exakt dieses klimpernde Getue zuwider. Das macht ihn und seine Erzählstimme so zeitlos: Sie ist so menschlich.

Deshalb möchte man, beginnt man ihn erst zu lesen, mehr. Mehr von diesen Sentenzen und quips, mehr Stellen wie die, wo die Blondine zu Marlowe sagt: „Sit down and rest your sex-appeal.“ In Das hohe Fenster, ein ausgezeichneter Chandler-Roman übrigens …

Down These Mean Streets a Man Must Go

Beim Weiterlesen, beispielsweise der quasi definitiven Biografie von Frank MacShane (anlässlich Chandlers 50. Todestags auch von Diogenes wiederveröffentlicht und in neuer Verpackung) merkt man: Diese Zwischentöne und Kadenzen, das gezielte und urkomische Brechen von Metaphern und Stilebenen, wie aus dem Handgelenk, das Verschwimmen von Erzählstimme, Protagonistenperspektive und -gedanken, aber Wortwahl des Gymnasiasten aus dem alten Europa: Das alles ist kein Zufall. Chandler war nicht Marlowe, aber ein Hang zur Sentimentalität war auch ihm eigen. So wie sich in der Narrative der Romane die beiden verschränken, auch verhöhnen, so wie Chandlers Leben und Leiden in chauffierten Limousinen und Absteigen stattfand, so war auch sein Schreiben: immer extrem, phasenweise auch extrem unangenehm.
Und doch ist Marlowe natürlich nicht mit Chandler zu verwechseln.
Nebenbei: Marlowe war auch nicht Humphrey Bogart, Robert Mitchum, Danny Glover, James Caan, Elliott Gould, James Garner, Dick Powell, Robert oder George Montgomery.

Zu Raymond Chandler, der Biografie von MacShane (der sich auch als Hrsg. diverser Briefbände bewährt hat), sei angemerkt, dass ihm besonders in Bezug auf die ganz frühen Tage Chandlers ein paar Fehler unterlaufen sind, größtenteils Details, die er von Philip Durhams Down These Mean Streets a Man Must Go: Raymond Chandler’s Knight (von 1963) übernommen hat.

Potenzielle Fans von Chandler-Biografien sollten beachten, dass vor zehn Jahren der Engländer Tom Hiney das vergleichbar ordentliche, das möglicherweise besser komponierte Raymond Chandler: A Biography veröffentlicht hat. Den Anfang hat er sich bei MacShane angelesen, doch zum Lebensende Chandlers – incl. Revolverlauf im Mund, Schüsse in die Badezimmerwand – erreicht er eine eigene Klasse. Mit Zitaten, beispielsweise Chandler zu einem Verriss Hemingways (mehr oder minder: Es gibt Champs und einfache Messerwerfer, ein Champ gibt alles, und wenn er das nicht mehr im Ring kann, dann schmeißt er immer noch mit seinem Herz statt kleinlaut abzutreten und zu greinen, Rotz und Wasser zu heulen. Hemingway war ein Champ), und viel Feingefühl zeichnet er ein besseres Bild der letzten Jahre. MacShane hatte für seine Recherche in Los Angeles noch einige Studenten angeheuert, Hiney ist nie dort gewesen.

Wer sich für Korrekturen dieser – zugegebenermaßen meist kosmetischen Fehler – interessiert, wer überhaupt Einblicke in Chandlers Los Angeles werfen will, und zwar auf die Schnelle, der muss zu http://raymondchandler.info. Die Timeline gibt Einblicke in neueste Erkenntnisse, teils mit Beweisen in Form von Dokumenten und Fotos. „All the straight poop“, schwärmt der Macher der Site, Loren Latker. Und in der Tat, Latker ist durch kleine dunkle, gemeine Gassen gestreunt, hat noch mal unter Fußabtretern und Klingelknöpfen nachgebohrt, Grundbucheinträge gelesen und in Testamentsbüchern nachgeblättert. Daher ist sein „straight poop“ stellenweise Scoop oder Coup: Chandler und Cissy haben sich 1930, also wenige Jahre nach ihrer Hochzeit, offiziell getrennt und zwar mit allen Siegeln und Stempeln. Dann gibt es noch Hunderte andere, auch für Neueinsteiger spannende Sachen. Unbedingt besuchen!

Wer trotzdem von Biografien in Buchform immer noch nicht genug hat, mag mit dem im vergangenen Jahre veröffentlichten The Long Embrace: Raymond Chandler and the Woman He Loved seine – oder ihre? – Freude haben. Judith Freeman guckt durchs Schlüsselloch, laut Werbung meditiert sie über Ehe und Schreiben, sogar Jonathan Lethem konnte dem etwas abgewinnen. Tatsächlich beeindruckend ist, dass es ihr gelungen ist, Dorothy Fisher ausfindig zu machen, eine Sekretärin bei Paramount, mit der Chandler 1943 eine Affäre hatte …

Schwarz auf Weiß

Dann vielleicht doch lieber gleich richtig komisch, nämlich die Noir-Sicht. Kongenial eingefangen in dem harten Schwarzweiß von Raymond Chandler’s Marlowe. The Graphic Novel: The Authorised Philip Marlowe Graphic Novel mit drei Adaptionen, eine davon von Jerome Charyn. Bei allem Talent der Zeichner und Autoren, bleibt ein ähnlicher Eindruck wie nach den Filmen: die beste Chandler-Adaption spielt im Kopf des Lesers … Besser gelungen dagegen Michael Larks Adaption von The Little Sister; ohnehin der beste Chandler-Roman … Grafik und Gesichter manchmal wüst und plump, dann raffiniert und so, dass man sich die Seiten vergrößern und über den Florentiner Spiegel in der Haupthalle des Gästehauses hängen möchte. Lark fängt die Story und diese brütenden inneren Monologe klasse ein, die langen Schatten kommen rüber wie am schlecht beleuchteten Set, die leider mit Computer colorierten Farben wie bei einem kaputten Monitor.

Dem fast diametral entgegengesetzt, auch schön, aber mit weniger Bewegung und Chandler-Zitaten aus mehr Werken, ist der vor 20 Jahren veröffentlichte Fotoband Raymond Chandler’s Los Angeles (von Elizabeth Ward und Alain Silver); Tailing Philip Marlowe kann man dagegen vergessen.

Eine Hälfte Gin, die andere Roses Limettensaft. Und sonst nichts

Dass und weshalb Raymond Chandler im angloamerikanischen Sprachraum nicht nur als guter oder okayer oder hervorragender Kriminalschriftsteller gilt, sondern dass er dort zum täglich Brot gehört, das ist also klargestellt. Es gibt dort mehr Literatur zu Chandler, Sentenzen und Zitate finden sich wöchentlich in den Medien … und er wird auch 50 Jahre nach seinem Tod gelesen. Um das zu belegen, kann man als gewiefter Schreibtischtäter ins Internet gehen. Vergleicht man die Verkaufsränge seiner Romane in diversen Ländern, dann zeigt sich, dass sein Werk besonders dort kontinuierlich gekauft wird, wo es im Original zu haben ist: Noch Wochen vor dem Todestag, also durch Presse angekurbeltes Interesse, belegten die jeweils bestverkauften Romane diese Top-Positionen: In England, Position 2.610, USA 8.392 und 10.165, Japan dazwischen, bei 5.147. Hierzulande hinterherhumpelnd auf Position 13.616, in Frankreich 19.006.

In England führt in der Publikumsgunst The Big Sleep, gefolgt von The Big Sleep and Other Novels und Farewell, My Lovely (11.612). Von den japanischen Übersetzungen hat man bis hier gehört, schließlich sind sie von Haruki Murakami: ロング・グッドバイ, also Der lange Abschied, belegt in unterschiedlichen Editionen den ersten und zweiten Rang (mit Position 5.147 und 6.942), im Stil hiesiger Verkäufe folgt dann abgeschlagen Farewell, My Lovely (34.281). Top-Titel in den USA sind The long Goodbye und The Big Sleep; hier ebenso, nur in umgekehrter Reihenfolge (13.616 und 19.483), ähnlich bei den Franzosen: Le Grand Sommeil, seltsamerweise gefolgt von Die Tote im See (29.112).
Verknappt: Wenn von Murakami übersetzt, dann ein Bestseller, sonst nur im Original wirklich ein kontinuierlicher Renner.

Adieu, ma jolie

Zurück zum Bücherregal: Chandler in allen Varianten. Zum Abschluss der Cocktail – also nicht nach jedermanns Geschmack, klar – aber sehr süß und mit einem nachwirkenden Kick, am nächsten Morgen aber ohne Hangover … ist ein Buch aus Deutschland! Verrückt.
So wie bei jedem Cocktail sind auch in diesem die meisten Zutaten bekannt, doch sie wirken. Fast so wie der englische Reader The World of Raymond Chandler, in dem 1977, also kurz bevor Robert Mitchum für The Big Sleep nach London ging, mehrere eher vergessene Briten einzelne Aspekte im Leben und Schaffen Chandlers nachzeichnen. Hervorhebenswert das Stochern Eric Hombergers nach dem Man of Letters der Jahre 1908–1912, ganz besonders der eh immer clever-unterhaltende Clive James, der die Nachhaltigkeit Chandlers an dessen Wortwahl festmacht, geprägt nicht von prosaischer sondern poetischer Denkweise; und Natasha Spender über die letzten London-Besuche des fast gar nicht mehr schreibenden 66-Jährigen.

Doch, wie gesagt und verrückt: Den idealen Einstieg in das Leben und Leiden von Chandler, in diesen Blick auf das westliche Ende der westlichen Welt, in das Taktieren und Handeln von Philip Marlowe, bietet ein Buch aus Deutschland. Der Übersetzer Kristian Lutze war 1988 wahnwitzig genug, urpersönlich darüber zu schreiben. Mein Freund Marlowe, Untertitel: Das einsame Leben des Raymond Chandler ist zwar relativ unbekannt – aber es ist für Kenner wie Einsteiger eins der coolsten Bücher zu Chandler und seinem Private Investigator.

Matthias Penzel

Material und Infos zu Chandler und seinem Werk gibt es hier und hier

Maria Lesinski hat noch folgende Titel bibliografiert:

Raymond Chandler: Die Philip-Marlowe-Romane. Diogenes: 2009. 7 Bände in Kassette: 1920 Seiten. 55 Euro.

Biografien

Philip Durham: Down these mean streets a man must go: Raymond Chandler´s Knight. University of North Carolina: 1963. 184 Seiten.

Judith Freeman: The Long Embrace: Raymond Chandler and the Woman He Loved. Vintage Books: 2008. 368 Seiten. 12,99 Euro.

Tom Hiney: Raymond Chandler: A Biography. Grove/Atlantic Inc: 1999. 320 Seiten. 11,99 Euro.

Kristian Lutze: Mein Freund Marlowe. Das einsame Leben des Raymond Chandler. Droemer Knaur: 2007. 239 Seiten.

Frank MacShane: Raymond Chandler: Eine Biographie. (übersetzt von Christa Holz, Alfred Probst, Wulf Teichmann). Diogenes: 2009. 480 Seiten. 22,90 Euro.

Timeline: http://raymond.chandler.info

Graphic Novels

Raymond Chandler´s Marlowe. The Graphic Novel: The Authorised Philip Marlowe Graphic Novel. IBooks: 2003. 144 Seiten.

Raymond Chandler´s Philip Marlowe: The Little Sister. Prentice Hall & IBD: 1997.

Sonstiges

Miriam Gross: The World of Raymond Chandler. Littlehampton Book Services: 1977. 190 Seiten.

Elizabeth Ward & Alain Silver: Raymond Chandler´s Los Angeles: A Photographic Odyssey Accompanied by Passages from Chandler´s Greatest Works. Overlook: 1997. 240 Seiten. 20,99 Euro.

Brian & Bonnie Olson: Tailing Philip Marlowe. Burlwrite LLC: 2003. 112 Seiten. $9,99.