Geschrieben am 28. März 2009 von für Crimemag, Porträts / Interviews

Zum Todestag von Raymond Chandler (I)

Cheap: auf deutsch „mies“?

Vor 50 Jahren, am 26. März 1959, ist Raymond Chandler gestorben. Unter allen Autoren, die mehr wollen als Buchstaben aneinanderreihen und Rechnungen schreiben, ist er einer der wenigen, die noch lange weiterleben. Besonders im Original zeigt sich der Meister – im Stil. Seine Dialoge und Atmosphären brachten Filmemacher dazu, Stories und Romane – teils mehrfach – für die Leinwand zu adaptieren … und auch sonst gibt es in der Wirkungsgeschichte einige Indizien und Fundstücke, die neben einer neuen Chandler-Kassette beim Diogenes Verlag beachtet werden sollten. Eine Hommage von Matthias Penzel (Teil I)

Sieben Romane und ein paar Stories. Sonst nichts

In der Grundschule für Krimis lernt man, hardboiled thrillers, hartgesottene Einzelgänger in den Hinterhöfen verrotteter Städte, gab es zwar auch vor Dashiell Hammett und Raymond Chandler, aber die beiden haben dem Genre mindestens erste Juwelen beschert. Darauf angesprochen winkt ein anderer von Berufswegen hartgesottener Autor, einer dessen L.A. Quartet in „Chandlers L.A.“ der 40er Jahre spielt, ab. Abfällig sagt er, James Ellroy:

„Ich halte ihn nicht für so wichtig, wie er immer gemacht wird. Dashiell Hammett ist wesentlich wichtiger. Auch Joseph Wambaugh ist ein wesentlich besserer Autor, besonders seine frühen Sachen. Chandler schrieb nie ein neues Buch, er schrieb immer wieder dasselbe Buch. Er erweiterte es ein bisschen in Der lange Abschied, aber er machte nie was anderes. Er füllte sieben Romane mit Marlowes Gedanken und schrieb ein paar Short Stories. Sonst nichts. Er hätte sich an anderem versuchen sollen. Er hätte sich mehr bemühen sollen. Er hätte härter daran arbeiten sollen, das zu ändern und sein Privatleben in den Griff zu bekommen. Er hätte mit dem Trinken aufhören sollen. Dann hätte er schon mal länger gelebt.“

Doch Chandler fing mit dem Schreiben spät an – nachdem er in Amerika geboren, in London als Poet und Reporter erfolglos gewesen, in der kanadischen Army im Ersten Weltkrieg und auch noch leitender Manager einer Öl-Firma war. Da begann er das Schreiben von Stories für die Pulps. Als sein erster Roman erscheint, ist er 51 Jahre alt. Für einen Einsteiger hat er ziemlich viele Schläge und Kündigungen und Krisen bereits hinter sich. Macht man sich die Mühe und vergleicht Textstellen des frühen Chandler, d.h. aus Stories des 45-jährigen Black Mask-Autors, mit Passagen in den Romanen, für die er diese Stellen ausgeschlachtet hat („cannibalized“ sein Begriff), so erkennt man, dass er schnell lernte. Adjektive und Fett fallen weg, Zwischentöne werden instinktiv oder sorgsam kreiert, Nuancen und Kadenzen erklingen oder werden gebrochen. Was Chandler vorlegt, ist für Krimis sehr poetisch. Plausible Plots interessieren ihn weniger, schon gar nicht Kreuzworträtselkrimis wie die mit Sherlock Holmes. Das stellt Marlowe im Finale des Debüts Der große Schlaf klar: „Ich schnüffle nicht, nachdem die Polizei schon da war, noch mal am Tatort rum, um ’ne zerbrochene Füllfeder aufzulesen und ’nen Fall drauf aufzubauen. Wenn Sie glauben“, sagt in Wahrheit natürlich der Schriftsteller dem Leser, „daß es einen im Detektivgeschäft gibt, der so seine Brötchen verdient, dann kennen Sie die Polente schlecht.“

Ohne sich zu schämen, könnte man sagen: Der große Schlaf ist der beste Roman Chandlers. Alle Markenzeichen kommen hier zum Tragen: das Spiel mit Tonarten, Action durch Dialoge, die Bestimmung der Figuren dank Action, aber auch mithilfe von Garderobe und Gedanken dazu … das Spiel der Stimmen. Marlowes Worte – ironisch aber selten gemein – und die Worte des Erzählers, der aus Marlowes Augen schaut – ironisch und gelegentlich mit bitter-ätzendem Sarkasmus. Oft zum Totlachen.

Wer will, der kann den hoffnungslosen Romantiker und Säufer Chandler natürlich auch verdammen – schon alleine, weil er eine so unrealistische Figur wie Marlowe durch die umso realistischere Kulisse von Los Angeles losschickt. Was er da am westlichen Ende der westlichen Welt findet, ist „California, the department store state“, wie es in Die kleine Schwester so schön heißt: „das Meiste von allem und das Beste von Nichts.“ Übrigens: Wer nach der zitierten Stelle fahnden möchte, wird sie in der Ullstein-Übersetzung von 1963 nicht finden. Denn das allerbeste Kapitel Chandlers fehlt darin.
Ohne weiteres ließe sich sagen: Die kleine Schwester ist der beste Roman Chandlers – oder, wie Rudolf Hermstein in seiner erschreckenden Analyse der deutschen Übersetzung Karaseks feststellt, „einer von Chandlers besten“ .

Der frühe, viel zu frühe Rücktritt

„Sie haben miese Gefühlchen. Alles an Ihnen ist mies“, muss sich nicht Chandler, sondern Jahre später Philip Marlowe anhören. „Sie freunden sich mit einem Burschen an, trinken ein paar Schluck mit ihm, reißen ein paar Witze, stecken ihm ein paar Kröten zu, wenn er abgebrannt ist, und sind total vernarrt in ihn. Wie ein kleiner Schuljunge, der Frank Merriwell gelesen hat. Sie haben keinen Mumm, keinen Grips, keine Beziehungen, keine Ahnung, darum schminken Sie sich eine kitschige Rolle an und erwarten, daß die Leute Rotz und Wasser wegen Ihnen heulen. Klein Tarzan fährt im Hühnerstall Motorrad.“ Er zeigte ein kleines schlappes Lächeln. „Wo ich die Bilanzen mache, sind Sie bloß eine naseweise Null nach dem Komma.“ Anmerkung: Wo der Gauner, der mit Marlowe abrechnet, im Deutschen seine buchhalterische Bilanz aufstellt, ist er im Original dem hundsnormalen Zuhälterjargon näher – „in my book“ ist selbstredend realistischer.

Trotzdem:

Die Abrechnung sitzt. Was Ellroy über Chandler sagt, das hört sich Marlowe schon 1953 an. Tatsache, er weiß, dass er aus dem letzten Loch pfeift. Und da kommt dieser Mobster an und klapst ihm ganz nebenbei und verächtlich ins Gesicht. Es ist nicht gut, gar nicht gut bestellt um Marlowe. Im Verlauf von Der lange Abschied wurde oder wird er betrügen und betrogen, lügen und vögeln – gütiger Gott, er wird sich sogar verlieben, oder zumindest fast verlieben! – und immer wieder ist er ein Verlierer. Kein Action Hero. Ehrlich gesagt: nicht einmal ein Hosentaschen-Tarzan. Am Boden, geschlagen und getreten, okay, aber er steht auf. Sonst mit Sprüchen und Rhetorik schnell reagierend, rasanter als John Wayne seinen Colt zieht, sagt also Marlowe, als der Mobster seine „cheap emotions“ verlacht, überhaupt „cheap all over“ … sagt Marlowe was?

Er sagt nichts.

Und das macht er mit mehr Stil und Cool als es die deutsche Sprache zulässt: „I let it ride.“

Anderswo „I let that pass“ – also mit einem Verb, bei dem die Idee mitschwingt, hier würde ein gerade mal okay gelaunter Schupo ein Auge zudrücken und einen Verkehrssünder vorbeiwinken. Oder, in Lebwohl mein Liebling, einem der besten Romane Chandlers: „I let it hang“, zwei Zeilen tiefer: „I passed that too“.

Bei Stil zählt eben nicht nur das, was man sagt – oder anzieht oder tut – sondern zu gleichem Anteil, was man weglässt. Und das machen Chandler und Marlowe oft unauffällig, gelegentlich aber auch mit explizitem Hinweis. „Keiner nahm mich fest.“ „Ein Mann, blaß und ohne Hut, mit dem Gesicht eines Hausverwalters“ usw.
Die Tote im See ist übrigens auch ein sehr guter Chandler-Roman. Der beste aber ist ein anderer, auch wenn sich die Kritiker gerade in den am liebsten reinbeißen, und zwar mit der Eleganz von Pitbull-Terriern. Wer Chandler kleinkriegen will, der nimmt sich seinen letzten Roman vor – Der lange Abschied. Wie vielleicht alle Meisterwerke ist auch dies ein Meisterwerk des Scheiterns.

Langer Auftakt, kurzer Sinn

Chandler wusste exakt, wo man ihn kriegen kann. Wenn man will. Der Mobster, der Marlowe in Der lange Abschied auf die Pelle rückt, will ihn kriegen. Kleinkriegen, ein Klein-Tarzan selbst mit Hut. Am Boden ist er ohnehin: Der sonst einsame Ritter in der Nacht Marlowe schließt erstmals mit jemandem so eine Art Freundschaft, sie treffen sich zu Gimlets (eine Hälfte Gin, die andere Roses Limettensaft „und sonst nichts“), nachmittags bei Viktor in einer Ecke der Bar. Dann muss der Freund über Nacht verschwinden, Marlowe bringt ihn nach Mexiko, keine Gegenfrage – und als er nach Los Angeles zurückkommt, warten sie bereits auf ihn, in einem roten Sedan ohne Polizeikennzeichen, ohne Rotlicht. Ja, die Frau des Freundes (der auf deutsch gesiezt wird) wurde ermordet, seine Ex-Geliebte wird Marlowe verführen, von deren Schwester bleibt ihm ein langes Haar auf dem Kopfkissen und Blei im Herz … Er steckt bis zum Hals im Schlamassel.

Wer will, kann ihm noch eins reinwürgen. Marlowe. Oder Chandler und diesem ganzen verworrenen, vor Sentimentalität triefenden Wirrwarr. Daher: Wer will, wer erst einmal die Perspektive eines Mobsters oder Kritikers einnimmt, der haut gleich noch mal drauf – und rümpft die Nase, da Chandler hier von lakonischer Melancholie in Sentimentalität abrutscht.

Chandler-Kenner wissen: Der lange Abschied ist der beste Roman Chandlers. Seine 18 Jahre ältere Frau, seit Jahrzehnten kränkelnd, sollte kurz nach Veröffentlichung (der langen Entstehungsgeschichte, 1949 bis 1953) sterben. Genau: Liebe und Tod. Pulp oder Bleibendes. Der heimliche Alkoholiker und hölzerne Playboy mit seiner lebendig verwelkenden Ex-Striptänzerin; der in England erzogene Amerikaner sitzt in Hollywood und hasst Kalifornien. Sein Private Eye und dazu eine Erzählstimme, die mal mit den Augen Marlowes beschreibt, dann aber distinguierte Zwischentöne des in Privatschulen erzogenen Chandlers in den scheinbar aus dem Ärmel geschüttelten Erzählton schmuggelt. Stoff für endlose Nächte. Wer Chandler liebt, will schnell mehr als die sechs großen Romane (Playback zählt nicht, die Begründung ist keinen Nickel wert). Wer Chandler liebt, der liebt Der große Schlaf mit seiner unschlagbaren Eröffnungsszene, von den Beschreibungen der Halle des Sternwood-Anwesens durch das tropfende Gewächshaus, den „Pflanzen mit ekelhaft fleischigen Blättern und Stengeln, die aussahen wie frischgewaschene Leichenfinger“… Der liebt auch Lebwohl, mein Liebling… und all die anderen.

Ja, wer Chandler liebt, der ist vermutlich ziemlich hin und weg, dass es die Romane nun in einer Kassette gibt. Leider nicht neu übersetzt, aber äußerst adäquat verpackt: stilvoll und im Sinne des Verlags, mit Schwarzweiß-Fotos, die wiederum so aussehen, als kämen sie aus Polizei-Archiven – oder dem Tresor eines Erpressers.

Was ich sagen wollte: Wer das alles liebt, der liebt den Stil, die wohl gewählten Worte für Orte, an denen Menschen zu dem werden, was sie sind; ebenso die Beschreibung der Kleidung, diesem manchmal hilflos lächerlichen Versuch, aus sich doch noch etwas anderes zu machen. Wer Chandler liebt, der merkt schnell, hier geht es um so viel mehr als in den allermeisten Romanen überhaupt.

Vielleicht sind die Marlowe-Romane Chandlers keine guten Krimis, ihre Plots zu verworren – und dem Autor zu gleichgültig –, aber sie sind Weltliteratur. Mit Sicherheit. Sie haben jenseits von Moden und Kategorien Bestand. Die ersten vier erschienen ab 1939 im Jahrestakt, mit anwachsenden und zermürbenden Jobs am Fließband Hollywoods kam Die kleine Schwester nach sechs Jahren Abstinenz, Der lange Abschied nach vier.

Matthias Penzel

Teil 2 folgt am 4.4.2009