Geschrieben am 1. Juli 2022 von für Crimemag, CrimeMag Juli 2022

Wozu dichten (7): Marcello Neri über Pasolini

Pasolini © Wikji-Commons

Pasolini: der letzte Intellektuelle

Pier Paolo Pasolini wurde am 5. März 1922 in Bologna geboren. Zwischen diesem Tag und heute ist nunmehr ein Jahrhundert vergangen. Am 2. November 1975 wurde er am Strand von Lidio di Ostia ermordet. Es war ein kurzes, aber außerordentlich intensives Leben.

Dichter, Schriftsteller, Regisseur, Dramatiker, Maler. In seinem schlanken Körper haben sich verschieden Kunstsprachen verabredet, um einem Lebenswerk Gestalt zu geben, das im Wesentlichen unvollendet geblieben ist. Und genau darin liegt seine Stärke: aber das ist, was seine Werke – anachronistisch – für uns heute noch relevant macht, weil es sich um noch offene Werke handelt, die nach einem weiteren Gestaltwerden streben.

Man denke nur an seine scharfe Kritik am Fernsehen als Mittel der Macht zur Gleichschaltung der Massen: eine Art staatlicher Narkose, deren Ziel es war, das Volk in Gleichgültigkeit zu bändigen. Jene Gleichgültigkeit, die Gramsci, dem Pasolini ein Gedichtzyklus mit dem Titel „Die Aschen von Gramsci“ gewidmet hatte, mit klaren und prophetischen Worten gebrandmarkt hat: 

„Ich hasse die Gleichgültigen. Ich glaube, dass Leben bedeutet, Partei zu nehmen. Wer wirklich lebt, kann nur Bürger und parteiisch sein. Gleichgültigkeit ist Willenlosigkeit, Schmarotzertum, Feigheit. Gleichgültigkeit ist kein Leben. Deshalb hasse ich die Gleichgültigen. 

Gleichgültigkeit ist das tote Gewicht der Geschichte, die in der Geschichte selbst eine starke Wirkung hat. Sie funktioniert in passiver Weise, aber funktioniert. Es ist das Schicksal. Es ist das, womit man nicht rechnen kann. Es ist das, was Programme durcheinanderbringt, was die besten Pläne umwirft. Es ist die rohe Materie, die die Intelligenz erstickt.

Was geschieht, das Übel, das allen widerfährt, es geschieht, weil die Masse der Menschen ihren Willen aufgibt, Gesetzen erlassen lässt, die nur durch Aufruhr außer Kraft gesetzt werden können, Männer an die Macht kommen lässt, die nur durch Meuterei gestürzt werden können. Das Schicksal, das die Geschichte zu beherrschen scheint, ist nichts anderes als der trügerische Schein dieser Gleichgültigkeit, dieses Abwesend-Seins. Fakten reifen im Verborgenen, wenige Händen, unbeaufsichtigt von jeder Kontrolle, weben das Netz des kollektiven Lebens, und die Massen ignorieren es, weil sie nicht interessiert sind.“[1]

Pasolini war ein eklektischer Künstler mit einer Besessenheit für die Sprache. Er hatte das Bedürfnis, sich zwischen Poesie und Cinema, Literatur und Theater, Zeitungsartikeln und Malerei, zu bewegen: auf der Suche nach einer Sprache, die imstande gewesen wäre, aus den starren Schranken der einzelnen Gattungen auszubrechen und das widerherstellen konnte, was er die „mystische Bindung“ von Worten und Dingen nannte.  

Bindung, die durch eine jahrhundertlange Geschichte der Hochsprachen verdunkelt worden sei, welche aber in den Dialekten und im Jargon der Vorstädte weiterlebe. Sein erstes großes poetisches Werk „La Nuova Gioventù“ (1941-1943) ist letzten Ende eine großartige Fiktion: geschrieben im Dialekt des westlichen Friauls, den Pasolini erst lernen musste, um seine Gedichte darin komponieren zu können. Dahinter steckt die Idee, dass Sprache immer wieder zu lernen ist und nie beherrscht werden kann.

Schon in diesen Gedichten taucht eine archaische, religiöse Seele auf, die ihr ganzes Leben lang die unüberbrückbare Distanz spüren wird, die sie von der katholischen Kirche in dem Moment trennt, in dem diese Kirche sie unaufhaltsam mit den Erfahrungen und Gebärden Jesu verbindet. Pasolini ist fasziniert von einem Gott, dessen Wort Körper ist, von einem Gott, der „auf die Erde tanzt“: als ob sich in diesem tanzenden Wort/Körper das ursprüngliche Geheimnis der Sprache kundtun würde.

Screenshot aus „Comizi d’Amore“ im San Telmo Museoa, Donostia-San Sebastián © Wiki-Commons

Pasolini verstand sich und seine Kunsttätigkeit vor allem als Ausübung jenes Sollens, das einem Intellektuellen zusteht – nämlich, die Pflicht zur Wahrheit als kritischer Instanz und Denunziation gegenüber der Macht, die sich in der Verstrickung von ökonomischen und politischen Interessen gnadenlos durchsetzt. Das Wort des Intellektuellen ist unbequem, es stört, es bringt das ans Licht, was alle gern im Schatten belassen würden. Im Italien der Nachkriegszeit war Pasolini die öffentliche Gestalt einer unablässigen Suche nach der Wahrheit – ein Licht, das die Heuchelei des von der kapitalistischen Ideologie gepredigten Massenwohlstandes verspottete, dem sich ein konsumorientiertes Volks inzwischen endgültig ergeben hat.

In dieser illusorischen Gleichförmigkeit des Kapitals suchte Pasolini nach Widerständigen, mit denen er sich verbünden konnte, um das Leben wieder zu einem Leben der Menschen zu machen – anstatt zu einem großem Markt, der einige wenige bereicherte und es vielen unmöglich machte, menschenwürdig existieren zu können.

In seinem denkwürdigen Leitartikel im Corriere della Sera vom 14. November 1974 schrieb Pasolini über sich selbst: „Ich weiß, weil ich ein Intellektueller bin, ein Schriftsteller, der versucht, alles zu verfolgen, was geschieht, alles zu kennen, was darüber geschrieben wird, sich alles vorzustellen, was nicht bekannt ist oder verschwiegen wird. Der Intellektuelle koordiniert auch entfernte Tatsachen, er fügt die ungeordneten und bruchstückhaften Teile eines ganzen kohärenten politischen Bildes zusammen, er stellt die Logik wieder her, wo Willkür, Wahnsinn und Geheimnis zu herrschen scheinen (…). Der Intellektuelle muss sich weiterhin an das halten, was ihm als Pflicht auferlegt wird: die Wahrheit.“[2]

Mit seinem frühen Tod hat Italien nicht nur seine Person und seine Kunst verloren, sondern auch jenen geistigen Auftrag, den er mit seinem ganzen Dasein verkörpert hatte. Nach Pasolini hat die italienische Gesellschaft bald die Kraft des Wissens vergessen und ließ sich von der medialen Aura der Meinung faszinieren, so dass heute Italien eine bloße Meinungsgesellschaft ohne Wahrheit geworden ist, wo alles als gleich-gültig gilt.

Pasolini ist wirklich der letzte Intellektuelle in unserem Land gewesen, zu dem wir heute zurückkehren müssen, wenn wir in der Öffentlichkeit die Arbeit an der Wahrheit zugunsten aller Menschen leisten wollen.

Marcello Neri


[1] Antonio Gramsci: Odio gli indifferenti. In: La Città Futura (11. Februar 1917), S. 2 (Übersetzung von Marcello Neri).

[2] Pier Paolo Pasolini: Io so. In: Il Corriere della Sera (14. November 1974), S. 1 (Übersetzung von Marcello Neri).

In unserer Reihe „Wozu dichten?“ bisher erschienen:

Markus Pohlmeyer: Sappho: Lieder, griechisch-deutsch (2021). Eine Rezension, in CulturMag 05_2021, Zugriff am 1.5.2021

Markus Pohlmeyer: Das erst Mal Ich. Der Dichter Archilochos – Ein Essay, in CulturMag 03_2022, Zugriff am 1.3.22

Wolfgang Johann: Du mußt versuchen, den Schweigenden zu hören: Über Paul Celans Schweigen 

Markus Pohlmeyer: Hermann Broch – Noch Prosa oder schon Lyrik? Über Vergil-Variationen, lyrische Prosa und Quantenmechanik. In CulturMag 05_2022, Zugriff am 1.5.2022

Markus Pohlmeyer über Horaz; in CulturMag 06_2022

Günter Rinke zu Wolfdietrich Schnurre: Gedichte als Beschwörungen, in CulturMag 06_2022

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