
Lektüre für den Sommer 22

Es sind viele tolle Bücher auf dem neuen Weltempfänger – und ich habe lange überlegt, über welches Buch ich hier schreiben will. Auf Platz 1 steht „Die Differenz“, ein ungemein sprachmächtiges Werk, das mich sehr beeindruckt hat. Über „Die Aosawa-Morde“ habe ich schon an anderer Stelle geschwärmt. „Unserer Teil der Nacht“ ist sehr spannende, sehr gegenwärtige Genreliteratur aus Argentinien. Und sie alle erzählen auch davon, wie man mit Traumata umgeht – seien es persönliche oder die eines ganzen Landes.
Um die Frage, wie man von einem traumatischen Ereignis erzählt, kreist auch „Vista Chinesa“ von Tatiana Salem Levy. Die Architektin Júlia wurde vergewaltigt – am helllichten Tag in Rio de Janeiro. Der Mann hat ihr eine Waffe an den Kopf gehalten, sie in den Wald des Nationalparks Tijuca gezogen und eigentlich dachte sie, dass er sie töten wird. Aber sie überlebt. Sie erzählt ihrem Freund, ihrer Familie, was passiert ist. Sie geht zur Polizei. Immer wieder wird sie im Zuge von deren Ermittlungen befragt, mit neuen Verdächtigen und zweifelnden Polizisten konfrontiert. Irgendwann wird ihr alles zu viel. Sie glaubt nicht mehr, dass es der Polizei darum geht, den Täter zu fassen. Vielmehr wollen sie nur irgendeine Verhaftung präsentieren, um einen Erfolg vorzuweisen. Júlia will keinen Unschuldigen belasten – sie will ihr Leben zurück. Also beschließt sie, der Polizei nicht mehr als Zeugin zur Verfügung zu stehen. Jahre später ist sie verheiratet, hat zwei Kinder und setzt sich an einen Tisch, um einen Brief zu schreiben. Dieser Brief ist das, was man in „Vista Chinesa“ zu lesen bekommt. Er ist der Versuch einer Frau, sich zu erinnern und in Worte zu fassen, was sie noch nie in Worte fassen konnte. Sie glaubt, es ist wichtig, dass ihre Kinder irgendwann lesen können, was ihr passiert ist. Auch wenn sie hofft, dass sie es niemals lesen werden.
Immer wieder geht es um die Vergewaltigung, um den Versuch, die richtigen, die passenden Worte zu finden. Es kommen neue Details und Erinnerungen hinzu und so wird dieser Brief zu der Niederschrift eines Traumas. Aber nicht nur das: er erzählt, wie eine Gesellschaft, wie die Polizei versagt in einem Land, in dem nach offiziellen Angaben im Jahr 2020 täglich 126 Frauen vergewaltigt wurden.
Tatiana Salem Levys „Vista Chinesa“ ist ein 127 Seiten langes, zutiefst beeindruckendes Buch, das auf Gesprächen von der Autorin mit einer Freundin basiert, die vergewaltigt wurde. In klarer, schneller Prosa erzählt er von dem Trauma, aber auch der Rückkehr in das eigene Leben.
Sonja Hartl
Tatiana Salem Levy: Vista Chinesa. Aus dem brasilianischen Portugiesisch von Marianne Gareis. Secession Verlag, Zürich 2022. 127 Seiten, 22 Euro.
Über den Weltempfänger, samt Archiv.