Geschrieben am 1. November 2020 von für Crimemag, CrimeMag November 2020

Weiße Hasen und der Trugschluß, einfach zu sein

Ingrid Mylo über Bücher von Leonard Cohen, Peter Stamm und Jonas Eika

            Ein Schrei aus dem All, an den sich pelzige Tiere schmiegen. Ein Sommertag als Rechenaufgabe. Ineinandergeschobene Flugreisen, Menschen mit nur einem Gesicht, die Zukunft verschachert, die Hoffnung eine subtile Form von Folter. Erschöpfungszustände, aus denen man in leergefegten Räume erwacht. Wer sieht uns beim Schlafen zu?

            Löcher, in die Bankgebäude stürzen: und unter den Trümmern finden die Angestellten ein neues Zuhause. Löcher zur Gewinnung von Metallen. Löcher, durch die Füße gestreckt werden. Löcher im Kopf, aus denen das Blut strömt. Löcher im Inneren, durch die die Kälte dringt. Bodenlöcher, im „Besitz von Lügnern“. Arschlöcher, in denen es rötlich dämmert: „eines Tages wird es zu etwas führen“. Zornige Löcher, ausgefranste Löcher, aber hin und wieder hat ein Loch auch etwas Gutes: wenn es in der Wand eines Lagerraums sitzt und das Blau des Meeres hereinbricht, so leuchtend, „daß es in meinem Schritt kribbelt.“ Jedenfalls Löcher und Licht und der Himmel durchkreuzt von Oberleitungen und Stromkabeln: vereitelte Absicht.

            Die Welt nie nur so, wie sie sich zeigt, sondern auch: wie man sie will oder fürchtet, ein farbenprächtiges Aufkreischen, schau, und dann schnell in die Rüstung gepreßt, eine Reise nach Bukarest: die aus Osteuropa scheinen tatsächlich was mit Rittern am Laufen zu haben: auf der documenta (13) war es ein Bulgare, alter Geheimdienstler aus Sofia, der im Brüder Grimm-Museum  eine ganze Zimmerflucht mit seinen Kindheitsphantasien von Rittern bestückt hat. Sinnlichkeiten und Algorithmen, Wesen vom anderen Stern, alle Gewißheiten beim Teufel, und im Spiegel nie das, was sich vor ihm befindet.

            Selbst die Brutalität schlägt ein Pfauenrad und wird, ästhetischen zum Stillstand gebracht, zum Austellungsobjek. Wieviel Zärtlichkeit, wieviel Ekel, und mit dem Schleim, und schleimig ist viel, rutscht die Lächerlichkeit auf den Tisch, von den Nägeln splittert der Lack.

            ‚Traurig’ ist ein Wort, das oft vorbeitreibt wie ein toter Fisch in verseuchtem Gewässer, ‚Glück‘ ist ein weiteres: Jonas Eika hält sich diverse Optionen offen, und es gibt Tage, da sind „selbst die Flugzeuge schön“. Orangen, Organe: wo ist der Unterschied, nichts ist verbindlich, nichts bleibt, auch die mit dem eingeschlagenen Schädel sind nach ein wenig Hokuspokus wieder mit von der Partie, um weiterhin reiche Touristen am Strand einzuölen und auszunehmen.

            Was passiert, wenn man grünen Schimmel einatmet? Was passiert – außer, daß das Licht für paar Augenblicke erlischt – wenn jemand, Füße voran, gegen den Pfahl einer Straßenlaterne springt: leuchten in der vorübergehenden Dunkelheit nicht weitaus seltsamere Bilder auf, als in der Helligkeit je zu sehen wären?

            Dali vor Augen, ‚White Rabbit’ im Ohr und im Blut weiß der Henker welche Substanzen: ein literarischer Trip, der in eine andere Art Logik führt, in andere Rituale, andere Schatten, andere Erinnerungen. Doch nach dem Lesen ist die Welt keine andere geworden, im Gegenteil: sie besteht unbarmherzig auf sich. Und zeigt wie ein geblecktes Gebißihre Grenzen.

Jonas Eika: Nach der Sonne (Efter Solen, 2018). Aus dem Dänischen von Ursel Allenstein. Hanser Berlin 2020. 155 Seiten, 20 Euro.

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            Ein Buch, das damit beginnt, daß einer seine Maske mitnimmt, wenn er aus dem Haus geht: und es hat nicht das Geringste mit Virenschutz zu tun. Es gab eine Zeit, da streifte man sich Masken über, wenn man einen Banküberfall plante. Aber wer Peter Stamm kennt, weiß, daß das nur der Augenschein ist, der Anlaß, etwas ganz anderes zu erzählen. Der Bankraubraub als Befreiungsversuch. Ein Mann allein, erwachsen nach Jahren, ein Kind im Gemüt: und daß er noch bei seiner Mutter lebt, läßt die Sache deutlich ranziger riechen. 

            Da ist immer mal wieder ein See, da sind Eichhörnchen, und dauernd, wirklich dauernd trinken die Leute Kaffee, in manchen Geschichten mehrmals, und selbst nachdem der einzige Gast in einer Bar sein Bier schon bestellt hat, läuft es dann doch wieder nur auf einen Espresso hinaus.

            Unheimlich seien diese Geschichten heißt es auf dem Klappentext, gleich zweimal versteigen sie sich zu diesem Wort, und das auf sehr kurzer Strecke: und wie bei allem, das mit zuviel Nachdruck des Weges kommt, darf man sicher sein: dieses „unheimlich“ ist eher Beschwörung als Beschreibung. Man kann’s ja mal versuchen. Zur Not unter Zuhilfenahme des Autorenfotos: da sitzt Peter Stamm (gewohnt mißvergnügt, gleichzeitig leicht verschreckt: so wirkt das Mißvergnügte wie eine Schutzbehauptung, die Lippen wie gewohnt zusammengepreßt, die Stirn wie gewohnt leicht gerunzelt, als würden unter seinen Augenbrauen mindestens paar Eulen hausen: seit ewigen Zeiten läßt er sich so fotografieren: Naturbursche, empfindsam, in Abwehrhaltung), also: da sitzt Peter Stamm wie gewohnt, und anders als gewohnt sitzt Peter Stamm daneben gleich noch mal, leicht verschoben, halb durchsichtig, seine eigene Geistererscheinung. „Was, wenn unsere Phantasien realer werden als die Wirklichkeit?“ Steht vorn im Klappentext. „Was, wenn unsere Phantasien realer wären als die Wirklichkeit?“ Steht hinten auf dem Umschlag. Und schon ist aus einer Vision eine Möglichkeit geworden. 

            Das einzig Unheimliche an den elf Erzählungen ist das Gefühl des vage Vertrauten, das aus den Seiten aufsteigt: als hätte man eine Variante davon schon einmal gelesen. Und wo Stamm einst verstörend sein konnte, ist er inzwischen versöhnlich. Was er nach wie vor kann: den Spagat zwischen der Vorstellung, die Leute von sich haben, und den Verstellungen, die nötig sind, diese Vorstellung umzusetzen. Wer sind sie danach?

            Und sonst: seine gravierende Einfachheit, die er zu seinem Markenzeichen gemacht, die er kultiviert hat, und die auch Grammatikfehler (die Verwendung des Dativs anstelle des Akkusativs) mit einschließt und das Benutzen von Klischees und Bildern von der Stange. (Und die in diesem Buch durch die groß gedruckten Buchstaben zusätzlich unterstrichen wird). Diese Einfachheit war mal prägnant, war genau: denn nur die Sätze waren einfach, nicht die Sichtweise, die Worte fanden ihren Weg sicher ins Ziel. Es läßt sich nicht einmal feststellen, ob sie noch treffen oder nicht: „the bullets are blanks“. Und Platzpatronen hinterlassen keine Einschußlöcher. Man liest den neuen Stamm, weil man all die alten gelesen hat, man hat den Autor geschätzt. Vielleicht wird er wieder besser. Doch was, wenn die Plattitüden zahlreicher werden als die Einfachheit? Was, wenn die Plattitüden zahlreicher wären als die Einfachheit?

Peter Stamm: Wenn es dunkel wird. Erzählungen. S. Fischer Verlag, Frankfurt 2020. 191 Seiten, 21 Euro.

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            Er glaubt nicht an Revolutionen. Er sieht das Annehmen des Todes als Chance, weniger unglücklich zu sein. Er beharrt darauf, daß seine Songs nicht durch Inspiration sondern durch harte Arbeit zustande kommen. Er stellt Mutmaßungen an über sein kaltes Herz. Er „mag die Kerzen in der Abenddämmerung am Freitag“. Er schätzt das Fernsehen als Einschlafhilfe.

            In sechs Interviews, die er zwischen 1988 und 2009 mit fünf unterschiedlichen Männern geführt hat, redet Leonard Cohen über seine Einflüsse (Kino, Bücher, Natur, der Mond), über Chaos und Trostlosigkeit als Ausgangsmaterialien für das Leben, über „die Weisheit der Null“, über Demokratie und die Gleichheit der Gegensätze,über Gedichte, die den Schmerz zur Möglichkeit machen, „die Sonne und den Mond zu umarmen“, über die Tyrannei der politisch Korrekten, über Enttäuschungen (die sich ins Positive kehren können, wenn man sich auf sie einstellt), über die östlichen Zen-Meister, die der starken Sexualität amerikanischer Frauen erliegen, über Großzügigkeit, über seine Freude an den Erbstücken seines Vaters (Messer und Revolver) und seine Tränen über den Tod seines Hundes. Über die ständig neue Erfindung seiner Vergangenheit, die er seinem maroden Gedächtnis verdankt. 

            Er gibt sich (anfangs vor allem) suchend, verwirrt, ahnungslos, ohne Leidenschaft, ohne Haltung zur Politik (das ändert sich später), unwissend, verlottert, gelangweilt. Desinteressiert: nicht an den Fragen sondern dem Leben gegenüber, er unterhält seit seiner Kindheit eine eher laue Beziehung zur Welt, Persönliches brennt ihm stärker unter den Nägeln. Im Laufe der Jahre wird er zunehmend philosophisch: dann spricht er nicht gerade in Zungen, aber mehr und mehr in Bildern.

            Er ist das, was die Engländer so treffend „elusive“ nennen und was im Deutschen mit „ausweichend“ nur unzulänglich beschrieben wird: dem Wort fehlt das Schlangengleiche, Elegante, das Cohen sehr wohl an den Tag legt. Und es ist ja nicht so, daß er die Fragen nicht beantworten würde: nur klingen diese Antworten wie leere Gläser, die auf den Tisch gestellt werden. Selbst wenn er, ganz bereitwillig, zu seinen Depressionen Auskunft gibt, betrifft ihn das nicht wirklich. Alles Schein und Scheitern. Und überall Leid. Da muß man um das eigene keine Worte verlieren.

            In ihren sehr offenen, sehr persönlichen und erhellenden Gesprächen mit Malka Marom (Kampa sei Dank) erzählt Joni Mitchell auch und immer wieder von ihrer Freundschaft mit Leonard Cohen: Gespräche mit ihm, sagt sie, waren immer sehr schwierig („unsere Beziehung ging nicht weit über das Boudoir hinaus“), ganz gleich, wie viele Anstrengungen sie unternommen hat, „zum Kern vorzudringen“: er blieb ungreifbar. Aber dann schlägt, was sie zum Zeitpunkt der Gespräche noch nicht wissen konnte, das Leben einen seltsamen Bogen: am 7. November, dem Tag, an dem Joni Mitchell Geburtstag hat, ist Leonard Cohen 2016 gestorben.

Leonard Cohen: So long. Ein Leben in Gesprächen. Übersetzt von Thomas Bodmer & Cornelius Reiber. Kampa Verlag, Zürich 2020. 188 Seiten, 22 Euro.

© 2020  ingrid mylo

Ingrid Mylo lebt in Kassel. Ihre Texte bei uns hier. Ihre Bücher:

Kaffeeblüten. Prosa, Verlag Jenior & Pressler, Kassel 1994.
Apropos Katherine Mansfield. Essay, Verlag Neue Kritik, Frankfurt 1998.
Das Treppenhaus. Prosa, Das Arsenal, Berlin 2004.
Männer in Wintermänteln. Prosa, Das Arsenal, Berlin 2009.
Masken und Mandarinen. Fotos von Frank Horvat. Prosa, Gedichte, Edition Off, Paris 2009.
Zerlesene Träume. Gedichte mit Druckgrafik, AQUINartepresse, Kassel 2009.
Krähenspäne. 41 Gedichte, AQUINartepresse, Kassel 2011.
Das 100-Tagebuch. Documenta (13). Zusammen mit Felix Hofmann. Verlag getidan, Berlin 2015.
Kleine böse Absichten. Zusammen mit Peter Olpe (Illustr.). Verlag Johannes Petri/ Schwabe, Basel 2015
Zufälliges Blau / Verdichtungen. Prosa, Essays, Feuilletons. Verlag Das Arsenal, Berlin 2018 – Besprechung von Georg Seeßlen hier.

Ihre Internetseite und eine vollständige Bibliografie hier.

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