Geschrieben am 3. Februar 2019 von für Crimemag, CrimeMag April 2018, CrimeMag Februar 2019

Vladimir Sorokins „Manaraga“

Flöhe auf KI-Porno und Stör auf Dostojewski

Christopher Werth über „Manaraga“ von Vladimir Sorokin

Im Jahr 2037 ist Lesen der heißeste Scheiß. Nur, dass „Lesen“ bei Sorokin „Grillen“ bedeutet. Und gegrillt wird nicht auf Holz oder Kohle, sondern auf den Erstausgaben von Dostojewski, Nabokov, Flaubert oder Cervantes. Eine Rezension von Christopher Werth.

Die Grundidee ist schnell erzählt: Wir befinden uns etwa 20 Jahre in der Zukunft und folgen dem Tagebuch von Geza. Europa hat sich gerade in einem großen Krieg von der Herrschaft der Salafisten befreien können und befindet sich in einer Art neuem Mittelalter, über das ein „Hygiene-Institut“ mit strenger Knute wacht. Die High Society braucht da natürlich perfidere Kicks. Und genau das ist Gezas Spezialgebiet. Geza ist ein Jet-Set-Meisterkoch, der einer hochbezahlten Köche-Mafia angehört, deren Mitglieder auf der ganzen Welt von Superreichen gebucht werden, um unter Ausschluss der Öffentlichkeit ihr illegales Meisterhandwerk auszuüben. Book’n’Grill: Grillen auf wertvollen Originalausgaben von Klassikern der Weltliteratur. Komplexes Food-Pairing spielt dabei eine große Rolle, denn nicht jeder Roman eignet sich für jedes Gericht. Beispiele gefällig? Thunfischsteak auf „Moby Dick“, Kalbslunge auf „Zauberberg“, Christusfisch-Filet auf „Alter Mann und das Meer“, halb gares Schwein auf „Schwejk“, Schnitzel auf Schnitzler. Geza ist auf die großen russischen Klassiker spezialisiert: Stör-Schaschlik auf Dostojewskis „Der Idiot“ oder Seeteufelsteak auf Platonows „Tschewengur“. Das Ganze ist hochgefährlich – allein schon das Stehlen der wertvollen Bücher – und wird vom „Hygiene-Institut“ als internationaler Terrorismus eingestuft und dementsprechend rigoros bestraft. 

Wie oft bei Sorokin werden die technischen Gadgets der voll und ganz durchdigitalisierten Zukunft mit einer naiven Märchensprache des 19. Jahrhunderts erklärt. So hat unser Koch keine bionischen Industry 4.0 Cyborg-Implantate im Gehirn, im Ohr und in den Haaren, sondern einfach drei Flöhe, die sich global vernetzt um seine Sicherheit, sein Wohlbefinden und sein Wissen kümmern. Aber auch das Entertainment muss stimmen. Filme, wie wir sie kennen, heißen Flachfilme und sind nicht mehr angesagt. Holo ist das neue Ding, man taucht immersiv in die Handlung ein. Oder man lässt sich von seinem Floh einen KI-optimierten Porno in die Träume einbauen.

Geza reist behütet von den drei Flöhen durch die Welt und grillt für immer neue durchgeknallte Exzentriker, die sich das Spektakel aus verschiedensten Gründen leisten wollen. Er eilt von Erfolg zu Erfolg – bis er schließlich einen peinlichen Flop landet und vor dem verärgerten Filmteam, dass ihn gebucht hatte, fliehen muss. Ausgerechnet beim Kultroman „Meister und Margarita“ geht was schief. Er vermutet Sabotage. Plötzlich war das Buch feucht, und außer Qualm gab es nichts mehr her. Nach geglückter Flucht reist er weiter zum nächsten Job.

Was bei anderen Autoren vielleicht als Einfall für eine Kurzgeschichte reicht, wird von Sorokin konsequent durchgezogen und zum Thriller ausgebaut: Geza wird zu einem außerordentlichen Konzil der „Großen Küche“ gerufen. Unter abstrusesten Sicherheitsmaßnahmen treffen sich alle hier organisierten Elite-Griller und besprechen aktuelle Bedrohungen und Zwischenfälle. Betrüger werden vom eigenen Sicherheitsdienst einfach einbetoniert und entsorgt. Aber dann kommt der Vorsitzende mit den Breaking News: Auf dem Gipfel des wie eine Krone gezackten Bergs Manaraga im Uralgebirge clont ein Abtrünniger mit einer molekularen Reproduktionsmaschine absolut perfekte Exemplare einer Erstausgabe von Nabokovs Roman „Ada“. 516 „Adas“ konnten konfisziert werden. Alle Bände untereinander absolut deckungsgleich bis hin zu den Bleistiftnotizen und den Einrissen im Schutzumschlag. Diese Ausgabe von 1969 ist aufgrund von Papier und Umfang ein fast perfektes Buch zum Grillen. Eine mögliche Überschwemmung des Marktes würde das gesamte Preisgefüge zerstören. Es muss etwas getan werden. Einer der Meisterköche soll zu einer Mission in den Ural gesandt werden. Das Los fällt natürlich auf den Erzähler. Er solle sich bereithalten, er erhalte die Informationen und Anweisungen in den nächsten Wochen. Nach dem Treffen geht es für ihn weiter, wie bisher. Nach ein paar Jobs für mal durchgeknallte, mal genmanipulierte Zeitgenossen kommt dann das Signal vom Konzil: Einsatz in Manaraga! Der Koch wird zu einer Art James Bond und reist begleitet von einem Trupp kerniger Elitesoldaten zum Ural, um dem Bücherfälscher das Handwerk zu legen. Nach ein paar spektakulären Flug- und Actionszenen kommt es auf dem Gipfel des gezackten Manaraga zum Showdown. Und – wie immer bei Sorokin – ganz anders, als man denkt. Geza trifft den größenwahnsinnigen Ex-Koch Henri. Der ist dabei, das Businessmodell der „Großen Küche“ disruptiv auf den Kopf zu stellen. Er will mit einem innovativen Systemgastronomie-Konzept weltweit neue Zielgruppen erschließen und sich so im Book’n’Grill-Business die Weltherrschaft sichern. Und dafür will er Geza gewinnen…Der Underground soll auch hier vom Mainstream geschluckt werden. 

„Manaraga“ bietet mit seiner Fülle an kreativen Einfällen vielfältigen Interpretationsspielraum. Immerhin wurden in Russland auch schon Bücher von Sorokin verbrannt. Es ist aber keine simple Systemkritik an einem konkreten System. Eher die Kritik an sich aus reinem Selbstzweck erhaltenden Systemen an sich. Obwohl natürlich russische Nationalheilige wie Gorki und Lenin ihr Fett abkriegen – auf mittelmäßigen Autoren wie Gorki grillt Geza nicht und er weiß nur von seinem Floh, wer Lenin überhaut war. Man kann diesen durch und durch grotesken Roman aber auch als eine romantische Utopie lesen. Er geht davon aus, dass im Jahr 2037 die großen Werke der Weltliteratur (Sorokin präsentiert hier nebenbei seinen persönlichen Kanon) extrem relevant sind und zu heiß gehandelter Ware werden. Dass sie Menschen glücklich machen, sie berauschen, sie aus ihrem Alltag entreißen und ihnen unvorstellbare, multisensorische Genussmomente schenken, für die sie bereit sind schmerzhaft hohe Summen hinzublättern und dabei ihr Leben zu riskieren. „Lesen“ wird zu einer Mischung aus verbotene Kunstschätze sammeln und illegale Drogen nehmen. Zu einem einzigartigen, weil unwiederholbaren Moment für die Ewigkeit. In diesem Sinne: Netflix aus und ran an die Bücher. 

Vladimir Sorokin: Manaraga. Tagebuch eines Meisterkochs. Aus dem Russischen von Andreas Tretner. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2018. 256 Seiten, 20 Euro.

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