Geschrieben am 1. September 2022 von für Crimemag, CrimeMag September 2022

TW zur Austellung „Neue Sachlichkeit“ in Paris

Katalog-Titelseite der hier besprochenen Ausstellung

Zwischen den Kriegen

Thomas Wörtche über Ausstellung und Katalog „deutschland/1920er Jahre/neue sachlichkeit/ august sander“ im Centre Pompidou, Paris.

Vielleicht ist es nur ein Reflex, der Déformation professionnelle geschuldet, dass mir beim Begriff „Neue Sachlichkeit“ sofort Helmut Lethens „Verhaltenslehre der Kälte. Lebensversuche zwischen den Kriegen“ einfällt, das jüngst wieder neu aufgelegte literaturwissenschaftliche Standardwerk von 1994 zur Kultur des Interbellums. Vielleicht war es aber auch nur die Hitze in den bei praller Sonne dafür berüchtigten transparenten Röhren des Centre Pompidou an einem heißen Sommertag, die mich nach zumindest intellektueller Kühle sehnen ließ.  Und vielleicht sind es auch die hitzigen Turbulenzen und emotionalisierten Debatten unserer Tage – Krieg, Pandemie, Klima, gesellschaftliche Verwerfungen etc. -, die Sachlichkeit als eine sehr begehrenswerte Kategorie erscheinen lassen. 

Immerhin, sachlich kühl ist die Ausstellung aufgebaut, die versucht, „Neue Sachlichkeit“ als gesamtkulturelles Phänomen im Deutschland der Weimarer Republik aufzufächern. Ineinandergehende Räume (es gibt acht Hauptabschnitte), die nicht unbedingt einen Kurs vorschreiben, wodurch alles mit allem verbunden bleibt, aber gleichzeitig thematisch distinkt betrachtet werden kann.  Viele Exponate kennt man per se – Bilder, Filme, Fotos, Einrichtungsgegenstände, Architekturskizzen usw. -, aber derart gebündelt und ergänzt von Installationen entspricht das Konzept der Ausstellung dem Konzept dessen, was man „Neue Sachlichkeit“ nannte und noch heute nennt. Eine alle Bereiche der Kultur und der Gesellschaft umgreifende „Geisteshaltung“, wie die die Ausstellung kuratierenden Angela Lampe und Florian Eber in der Einleitung des Katalogs schreiben. Eine Geisteshaltung, die man üblicherweise mit Kategorien wie Rationalität, Nüchternheit, Distanz, Funktionalität, Standardisierung, Emotionslosigkeit und nicht zuletzt mit Kälte beschreibt, eingebettet in eine dem „raschen Wandel auf sozialer, politischer und vor allem medialer Ebene unterworfenen deutschen Gesellschaft“.

Das ist in der Tat eine gewaltige Klammer, die zunächst eines   deutlich macht: „Neue Sachlichkeit“ ist Begriff der Abgrenzung, des Neuanfangs. Das wird schon bei der von Gustav Friedrich Hartlaub zusammengestellten, namensgebenden Initialausstellung „Neue Sachlichkeit“ 1925 in der Kunsthalle Mannheim (ungefähr 400 Meter von meinem Geburtshaus entfernt, btw) deutlich: Hartlaub setzte seine Ausstellung ganz bewusst gegen den Expressionismus mit dessen Visionen, mit dem aufgeregten Oh-Mensch-Pathos, mit der aufgewühlten Emotionalität, nachdem die Menschheitsdämmerung und die letzten Tage der Menschheit ganz offensichtlich doch nicht stattgefunden hatten. Ähnliche Mechanismen kennt man aus der Kulturgeschichte: Die Romantik reagiert auf die Aufklärung, der Realismus auf die Romantik, der Expressionismus auf den Naturalismus usw. Solche Reaktionen sind oft polemisch, sie alle berufen sich auf als solche empfundene Defizienzen bei den vorgängigen Poetiken, die korrigiert werden müssen, und sie alle sind Generatoren von Kreativität.

Die „Neue Sachlichkeit“, getrieben von den neuen technologischen Möglichkeiten, und den gesellschaftlichen Umwälzungen wie die Demokratisierung und Urbanisierung und den neuen Medien, und damit dem Aufkommen des Massenkultur, konnte  ein disziplinübergreifendes Programm entwickeln, das die Malerei denselben Grundsätzen unterzog wie das Design von Küchen, die ganze Lebenswirklichkeit der Menschen sollte ver-neu-sachlicht werden. Kultur für alle, Wohnraum für alle, Rationalisierung für alle, Standardisierung, Funktionalität – die dialektischen Gefahren, die Brecht etwa früh erkannte, liegen auf der Hand. Das Massentöten im Ersten Weltkrieg und der Fordismus liegen unbehaglich nahe zusammen.  Insofern kann man schon fragen, ab wann der Begriff „Neue Sachlichkeit“ nur noch ein Instrument der historischen Periodisierung wird, unter den subsumiert wird, was sich ansonsten nur schwer subsumieren lässt.

Da gibt die Ausstellung viel zu denken. Zum Beispiel bei den Bildern von Otto Dix, die im Katalog von Catherine Wermester unter dem Stichwort „Kalte Persona und Melancholie“ abgehandelt werden. Das „Bildnis der Journalistin Sylvia von Harden“ (1926) als prominentes Beispiel ist keinesfalls „kalt“, dagegen spricht das matte Rot, das die farbliche Grundstimmung vorgibt  – der Rest ist weder kühl noch rational, sondern blank boshaft, karikierend. Dix verspottet das „prätentiöse Gehabe“ seines Modells, und natürlich nicht nur das, denn Sylvia von Hardenberg steht, zumindest hier, für das Bild der „neuen Frau“, selbstbewusst rauchend und Alkohol trinkend, in extravaganter Garderobe (das kurze Kleid wird durch einen ungünstig heruntergerutschten Strumpf denunziert), mit Monokel (ein Hinweis auf lesbisch sein, der nicht solidarisch gemeint ist) im wenig attraktiven, leichenblassen Gesicht. Catherine Wermester weist sehr zurecht dahin, dass nicht nur dieses Porträt von Dix auf physiognomischen Theorien etwa von Ludwig Klages beruht, dessen Buch „Körperbau und Charakter“ (von 1922) vornehmlich eine Streitschrift gegen die Psychoanalyse Freuds war, eine Argumentation, die bei den Rassentheoretikern der Zeit auf bekanntlich furchtbar fruchtbaren Boden fiel.  

Anyway, von neusachlicher Kälte, die man vielleicht am ehesten bei Christian Schad (z.B. „Operation“ von 1929) findet, ist hier keine Spur. Ähnliches gilt für Dix´ „Bildnis der Tänzerin Anita Berber“ (1925), das das Cover des Katalogs als wirkungsvoller Eyecatcher ziert, und in der Ausstellung unter dem Thema „Überschreitungen“ diskutiert wird. Überschreitungen meint hier (vielleicht nicht ganz geschickt) die Neusortierung der Geschlechterrollen nach dem Krieg, als lesbische Frauen und schwule Männer öffentlich sichtbarer wurden.  Während bei Christian Schads  „Zwei Freundinnen oder Zwei Mädchen“ (1928) zumindest noch unklar ist, ob es sich um ein lesbisches Paar oder um zwei Prostituierte handelt (wobei Schad auf denunzierende Details verzichtet, sollte man die zweite Option für plausibler halten) und während Jeanne Mammen, die mit erfreulich vielen Blättern in der Ausstellung präsent ist, sehr warmherzige Bilder lesbischer Frauen liefert, ist Dix´ Anita Berber „die personifizierte Sünde“ (als Allegorie somit jeder Programmatik der „Neuen Sachlichkeit“ entgegengesetzt), durchaus alle homophoben Stereotypen der Zeit“ bedienend, wie Jonathan Odden in seinem Kommentar anmerkt.  

Es geht mir aber weniger darum zu diskutieren, ob Otto Dix nun zurecht der „Neuen Sachlichkeit“ zugeschlagen werden kann oder nicht, sondern um die möglichweise problematische Extension des Begriffs.  Er scheint nämlich da an seine Grenzen zu stoßen, wo Sexualität, insbesondere in Kombination mit Gewalt ins Spiel kommt. Wir wissen, dass die Weimarer Republik eine gewisse Obsession für sexualisierte Gewalt hatte – vulgo Lustmord, die den auch massenmedial beliebten Serienmord à la Haarmann und Kürten noch mit einem offen sexuellen Surplus ausstattete.  Otto Dix, Walter Hubbuch oder Rudolf Schlichter haben solche Motive nachgerade wollüstig exaltiert (und ich verzichte darauf, ausführen, warum sich Dix in einer solchen Pose selbst porträtierte) – der Bezug zur „Neuen Sachlichkeit“ wäre in diesen Fällen nur über das Thema zu konstruieren, das etwa mit demselben kalten Blick aufgegriffen würde wie ein Thema der Architektur. Aber die Ästhetik dieser Bilder sagt etwas ganz anderes, kein Kriterium aus dem Kriterienkatalog der „Neuen Sachlichkeit“ passt. Und wenn: Das Beispiel zeigt, dass bestimmte ideologische Positionen (Homophobie, Misogynie) auch unter einem postulierten, fortschrittlichen Modernitätsentwurf hartnäckig resilient bleiben können. Es ist der Ausstellung hoch anzurechnen, dieses Problem zu bemerken und zu reflektieren.

Wobei wir wieder bei der Extension des Hauptbegriffes wären. Die sorgt nämlich auch für prekäre Anschlussmöglichkeiten. Während die Bilder und andere Arbeiten von Käthe Kollwitz, Ernst Barlach, Hans Baluscheit oder Otto Nagel (Stichwort: „Miserabilismus“) sich empathisch mit dem Schicksal der Armen und Elenden auseinandersetzten, also letztendlich Mitgefühl und Mitleid evozieren wollten, abstrahierten Künstler:innen wie Alice Lex-Nerlinger, Oscar Nerlinger oder Karl Völker die Abläufe der Arbeitswelt (die Welt der Obdachlosen wird eher ein Fotosujet, seltener wie bei  Hans Grundig für Gemälde) durchaus nicht in Opposition zu industriellen Interessen. 

Auch die Architektur der „Neuen Sachlichkeit“, obwohl fortschrittlich und sozialreformerisch intendiert, trägt schon einen Hauch von „1984“ oder, zeitnäher, „Brave New World“ (1932) in sich, vor allem, was den standardisierten und normierten Siedlungs- und Wohnungsbau betrifft, Stichwort „Verdinglichung“.  Möglicherweise ist es eine Ironie der „Neuen Sachlichkeit“, dass man mit analogen formalen Mitteln zu sehr unterschiedlichen ideologischen Positionen kommen konnte   – der Katalog diskutiert das sehr schön anhand der Filme (auch der nicht realisierten) von Slátan Dudow, der sich letztlich für einen klassenkämpferischen Standpunkt entschied (und damit Bertolt Brechts Skepsis recht gab). 

Als bittere Koda schoben die Nazis 1933  in eben jener Mannheimer Kunsthalle die Ausstellung „Kulturbolschewistische Bilder“ nach – noch vor der „Entarteten Kunst“. Viele der Exponate der „Neuen Sachlichkeit“ konnten einfach hängen bleiben. Wobei der Nationalsozialismus sich eklektisch aus dem Repertoire der „Neuen Sachlichkeit“ genauso ungeniert bediente wie der Stalinismus.

Katalog-Rückseite/ Sander

Aber systematische Konsistenz kann man auch nicht erwarten, bei einem Konzept, das derart umspannend sein sollte. Bemerkenswert ist dabei, dass Helmut Lethen im seinem oben erwähnten Buch einräumt, manche seine Thesen zur „Neuen Sachlichkeit“ empirisch nicht belegen zu können. Da liegt die Aporie des Operierens mit der Kategorie „Geisteshaltung“, ohne die aber eine Gesamtschau des Phänomens nun auch wieder nicht möglich wäre.

Und August Sander? Dessen Fotos bilden sozusagen das Rückgrat der „Neuen Sachlichkeit“, weil sein meisterhafter Blick auf Menschen einerseits den diskutierten Kategorien entsprachen (die Systematisierung von sozialen Gruppen etwa, die Kargheit der Inszenierung, der kühle Blick auf den Gegenstand etc.), andererseits aber den humanistischen Aspekt bei aller „Kälte“ nicht suspendieren. 

Fazit: Eine extrem anregende, ja aufregende, vor allem sehr kluge Ausstellung, deren Aspekt- und Materialreichtum hier noch nicht einmal andeutungsweise beschrieben werden kann. 

Thomas Wörtche

deutschland/1920er Jahre/neue sachlichkeit/ august sander. Katalog Centre Pompidou, Paris. Herausgegeben von Angelika Lampe. Schirmer/Mosel, München 2022. 320 Seiten, 26 Essays, 340 Abbildungen, 78 Euro.Die Ausstellung im Centre Pompidou läuft noch bis zum 5. September 2022

Photographien von August Sander, Aenne Biermann, Lotte Jacobi, Lucia Moholy-Nagy, Martin Munkácsi, Albert Renger Patzsch, Willy Zielke u.a.

Malerei und Graphik von Max Beckmann, Otto Dix, George Grosz, Hannah Höch, Raoul Hausmann, Karl Hubbuch, Heinrich Hoerle, Lotte Laserstein, Hanna Nagel, Anton Räderscheidt, Christian Schad u.a.

Architektur, Design, Film und Theater von Bert Brecht, Marcel Breuer, Slatan Dudow, Walter Gropius, Martin Elsaesser, Carl Froelich, Ernst May, Walter Ruttmann, Margarete Schütte-Lihotzky, Kurt Weill u.a.

Texte von Olivier Agard, Kerstin Barndt, Sabina Becker, Irène Bonnaud, Florian Ebner, Simone Förster, Arno Gisinger, Marie Gispert, Sophie Goetzmann, Inge Herold, Pascal Huynh, Christian Joschke, Angela Lampe, Mathias Listl, Philippe-Alain Michaud, Elke Mittmann, Werner Möller, Herbert Molderings, Jonathan Odden, Olaf Peters, Jonathan Poutier, Patrick Rössler, Jean-Christophe Royoux, Bernd Stiegler, Philippe Sturm und Christina Treutlein, Catherine Wermester.

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