
Schlagen Sie nach bei Edward Brooke-Hitchings „Atlas des Teufels“ – Thomas Wörtche staunt.
Das Leben bis zum Tode ist das Geschäft u.a. des Kriminalliteratur. Dann ist in den meisten Fälle Schluss, das Jenseits mischt sich nur sehr selten ein. Und wundert man sich manchmal über die Phantasie, mit der Kriminalautor:innen sich exquisite Todesarten ausdenken (oder sich von beklagenswerten Realien inspirieren lassen), so sind sie doch naive Kleinkinder im Vergleich mit den Konstrukteuren der Nachwelt. Denn die haben die größeren Ressourcen: Mythen und Religionen, kollektive Vorstellungen, Visionen und Wunschwelten von Verdammnis und Erlösung. Eine der mächtigsten Fiktionen der Menschheit ist vermutlich die vom „danach“.
Der Universal-Gelehrte Edward Brooke-Hitching hat versucht, dieses Jenseits quer durch die Kulturen der Welt und durch die Zeiten kompakt und opulent zugleich als schieres Lese- und Schauvergnügen aufzubereiten.
Reich illustriert führt uns „Der Atlas des Teufels“ vom Eingang der jeweiligen Höllen bis ins Schlaraffenland. Das Wunderbare an diesem Band ist, dass er nicht nur die „üblichen“ Himmel und Höllen behandelt, sondern auch asiatische, südamerikanische, taoistische und buddhistische Vorstellungen präsentiert. Auffällig sind bei aller Diversität dabei die Gemeinsamkeiten: Die Himmel, Paradiese etc. sind so ziemlich überall eher fade Angelegenheiten, höchstens für Männer only hin und wieder mit Spaß und Frohsinn (Huri) ausgestattet.

Fast bürokratisch penible Detailfreudigkeit aber kommt in allen Höllen, Vorhöllen und Fegefeuern zur Anwendung, wenn es um die kleinteilige Sortierung von Schlechtigkeiten geht, die im Jenseits abgearbeitet werden müssen. Sünder:innen werden in Klassen eingeteilt und entsprechend gequält (ein besonders widerliches Beispiel ist die Bestrafung kleiner Kinder, an der sich fromme Viktorianer ergötzten: „Das kleine Kind ist in dem rotglühenden Ofen. Hört nur, wie es schreit und herauswill … Wahrscheinlich hat Gott erkannt, dass es immer unartiger werden und niemals bereuen würde, wenn es nicht in der Hölle bestraft würde“).
In tibetanischen Vorstellungen gibt es übrigens Kältehöllen, artig gestaffelt von „bibbern“ über „Zähneklappern“ und „lotosblumenblauen“ Erfrierungen bis zum ganz Auseinanderfallen. In einer buddhistischen Hölle wird man von Dämonen mit „heißen Metallklopsen“ gefüttert, wie überhaupt die buddhistischen Höllen, in denen Sündern schon mal zu „roter Paste“ zerquetscht werden oder mit Flammenwerfern traktiert, ziemlich bösartige Veranstaltungen sind. Solche Nummern hatten auch die einschlägigen Spezialisten wie Hieronymus Bosch oder der Höllen-Breughel drauf. Zusammengenommen scheint Homo Sapiens auf jeden Fall alle, aber auch wirklich alle sadistischen Fantasien zu bemühen, um mit der Drohung des Jenseits im Diesseits das jeweils gewünschte Verhalten zu regulieren. Nur die traditionellerweise streng bürokratisierten chinesischen Gesellschaften scheinen zu einer Art Selbstironie fähig zu sein: Sie haben als besonders übles Quälprogramm die Bürokratie entdeckt: „Die Verstorbenen müssen viel Zeit in Wartezimmern verbringen, lange Korridore auf der Suche nach Beamten durchwandern, die ihnen den Weg weisen sollen, und immer neue Anträge einreichen.“ (Natürlich fällt einem dabei Kafkas „Process“ und „In der Strafkolonie“ ein, Höllen sind eben ziemlich globale Dinger, syn- und diachron).

Auffällig beim Durchblättern des Bandes ist auch das globale Bedürfnis, Himmel und Hölle zu kartographieren oder zu verbildlichen. D.h. zuerst einmal zu verbildlichen, dann das Chaos, zu systematisieren. Das Bildmaterial, das Brooke-Hitching dazu zusammengetragen hat, ist beeindruckend. All die Karten, Risszeichnungen, die Berechnung zu Fassungsvermögen und Ausdehnungen, Temperaturen und Architekturen, all das, was eigentlich doch über das menschliche Fassungsvermögen hinausgehen sollte, wird säuberlich geordnet und rubrifiziert, sorgfältig ausgepinselt. Egal, ob Schreckens- oder Seligkeitsvision, sie werden alle konkretisiert. Somit ist das menschliche Fassungsvermögen dann doch wieder das Maß aller Dinge. Und das ist letzten Endes das wirklich Beunruhigende, denn was der Mensch so alles für denkbar hält, mon dieu … Das lässt, wir sehen es immer wieder und täglich, für das Diesseits nichts Gutes vermuten.
Edward Brookes-Hitchings Prachtband ist natürlich eine Kompilation bekannter Vorstellungen, die man sich ansonsten mühsam zusammenstoppeln müsste, ausgestattet mit vielen, auch weithin unbekannten Bildern. Lehrreich, brillant geschrieben (resp. übersetzt), eine ästhetische und epistemologische Wunderkammer.
Thomas Wörtche
Edward Brooke-Hitching: Der Atlas des Teufels. Eine Erkundung des Himmels, der Hölle und des Jenseits (The Devil’s Atlas. An Explorer´s Guide to Heavens, Hells and Afterworlds, 2021). Deutsch von Lutz-W.Wolff. Knesebeck Verlag, München 2022. 255 Seiten, 35 Euro.
