Geschrieben am 1. Februar 2022 von für Crimemag, CrimeMag Februar 2022

TW: Was soll uns Raymond Chandler heute?

Seriös oder Nicht-Seriös, das ist die Frage

Fredric Jameson hat einen anregenden Essay über Raymond Chandler geschrieben, der ein paar problematische Aspekte der Chandler-Rezeption aufreißt. Thomas Wörtche hat ihn sich genauer angesehen. 

Raymond Chandler gehört zu den Autoren, die man eigentlich für abgeschlossene Fälle hielt. In seiner literaturgeschichtlichen Relevanz unbestritten, im Großen und Ganzen gut „ausgeforscht“, zumindest gibt es keinen neuen Fakten, die Leben und Werk in einem sensationell anderen Licht erscheinen ließen. Dass bei uns gerade neue Übersetzungen erscheinen, ist philologisch zu begrüßen und mag Nuancen korrigieren, ein neues Chandler-Bild ergibt sich daraus nicht.  Daran ändert auch der lange Essay des amerikanischen Literaturwissenschaftlers Fredric Jameson, „Raymond Chandler. Ermittlungen der Totalität“ nichts, der 2015/6 entstanden und jetzt in der Übersetzung von Horst Brühmann in der feinen Konstanz University Press erschienen ist.  Jameson, Jahrgang 1934, ist eine Größe in der US-amerikanischen Literaturwissenschaft, eine Art postmoderner Postmoderne-Skeptiker, der sich gerne bei Louis Althusser munitioniert. Und bei Heidegger, aber dazu kommen wir noch. 

Dass in diesem Spannungsfeld der Reflexion von „Populärer Kultur“ und (post-)marxistischer  politischer Ökonomie (Warencharakter von Kultur), also einem der Hauptfelder postmoderner Theoriebildung, ein Autor wie Raymond Chandler auftaucht (und, nebenbei bemerkt, die „Dialektik der Aufklärung“ explizit nicht), verwundert wenig. Allerdings setzt sich bei dieser Konstellation die Frage im Hinterkopf fest, um was es in diesem Essay wirklich geht: Um einen erhellenden Beitrag zu Raymond Chandler – oder um einen weiteren Baustein zu einer kritischen post-postmodernen Kulturtheorie.

Letztere Vermutung wird genährt von Jamesons Statement, Chandlers Texte gehörten „zu einer Klasse von Objekten, die wir früher camp nannten, darunter: Humphrey-Bogart-Filme, bestimmte Comics, `hartgesottene` Detektivgeschichten und Horrorfilme“ (S. 34). Nun ist die Rede von camp erst seit Susan Sontags berühmtem Text „Notes on Camp“ von 1964 möglich – eine Rede, die eine bestimmte Rezeptionshaltung gegenüber bestimmten Kunstwerken beschreibt.  Ein Begriff wie camp sortiert und deutet Kunstwerke auf einer interpretativen, meinetwegen semiotischen Ebene; über die Klassifizierung als, wie hier, Texte, sagt dieser Prozess gar nichts aus. Auch der rezeptionsästhetische Kalauer (grob vereinfacht), dass Texte an sich nichts sind, sondern in verschiedenen Rezeptionsstufen jeweils neu entstehen, erledigt dieses Problem nicht.

Tatsächlich verweist Jamesons Text so auf eine Aporie postmoderner Theoriebildung: Das schon fast als sportlich zu verstehende Verfahren, auf jede Beobachtung eine Meta-Ebene drauf zu setzen und noch eine und noch eine (ein in meinen Konstanzer Studententagen beliebtes Spiel beim Bier oder im Hauptseminar: Wer hat noch eine Metaebene on the top?) birgt die Gefahr, das Objektiv so weit aufzuziehen, dass die Unterschiede immer unschärfer werden, und Texte damit zu reinem Rohstoff für Theorien werden (oft der literatursoziologischen Art), ihre eigene Dignität jedoch zunehmend verschwindet. Ihre Ästhetik als Qualitäts- und Differenzkriterium wird allmählich obsolet.

Für den Kriminalroman, auch für den von Chandler, heißt das, dass er als monolithischer Block „Der Kriminalroman“ erscheint, der eine kategoriale Unterscheidung zwischen „guten“ und „schlechten“ Kriminalromanen kaum mehr zulässt. Das wiederum kann erklären, warum Jameson, ganz traditionell anti-postmodern, zwischen „seriöser“ Literatur und Pop unterscheidet (S.45), also eine ähnlich hierarchische Werteskala hat, wie sie Pierre Bourdieu mit seinem Konzept der „artes moyens“ konstruiert, die quasi als naturgegeben gesetzt nicht weiter hinterfragt wird. Hat Jameson damit Chandler erst einmal unter „Pop“ rubriziert (was er de facto mit dieser Argumentation tut) also tatsächlich eine Klassifikation vorgenommen, muss er Qualitäten aufzeigen, die ihn aus dieser Klassifikation befreien, wobei Chandler dann in die Rubrik „seriös“ rutschen würde (das Bourdieu´sche Feld lassen wir hier außen vor). 

Dieser Widerspruch, ob er intentional ist oder nicht (wie ich befürchte), könnte aber durchaus ein produktives Moment haben, wenn man sich seiner hermeneutischen Bedingungen bewusst ist.  Die Faszination von Jamesons Lektüre der Chandler Romane begründet sich in dem Interesse daran „… wie der Alltag in einer Welt aussah, die der unseren ähnlich genug war, um sehr fern zu erscheinen“ (S.47).  So wird, dann wieder klassisch rezeptionsästhetisch, die Lektüre zur Re-Lektüre, die nicht zu erläutern braucht, wie die zeitgenössische Lektüre ausgesehen haben könnte – also die Art von Lektüre, die den Erfolg der chandlerschen Romane, gemessen in Verkaufszahlen und Anhäufung symbolischen Kapitals wie Prestige, erst möglich macht, weil sie die Texte erst einmal als „Klassiker“ etablieren und konservieren muss, die eine Re-Lektüre zwecks neuer Erkenntnisse lohnend erscheinen ließe. 

Re-Lektüre

Problematisch wird die Angelegenheit aber spätestens dann, wenn solche „neuen“ Erkenntnisse gar nicht so neu wären, sondern lediglich ihre Herleitung. „Raymond Chandlers Romane“, sagt Jameson auf S.48f, „haben nicht nur eine Form, sondern zwei, eine objektive Form und eine subjektive, einerseits die starre äußere Struktur der Detektivgeschichte und andererseits einen persönlicheren, unverwechselbaren Rhythmus der Ereignisse“, die sich schließlich zu einem „Drama“ fügen, „vor dessen Hintergrund die soziale Welt fortwährend gedeutet wird“. Ob Jameson hier nicht auch „Form“ mit „Erzählkonvention“ verwechselt, interessiert in diesem Zusammenhang nicht. Was er meint, illustriert er mit einer Bemerkung Chandlers in seinem tausendfach zitierten Sampler „The Simple Art of Murder“, „die einzige … wirksame Methode, dem Leser ein Schnippchen zu schlagen, (besteht) darin …, dass man ihn ein Geheimnis lösen lässt, das ihn auf einen Seitenweg führt, weil es mit dem Hauptproblem nur lose zusammenhängt“.

Jameson sieht zurecht, dass dieses In-die-Irre-führen des Lesepublikums ein Kniff ist, den Agatha  Christie in „The Murder of Roger Ackroyd“ (1926) vorexerziert hatte, bei Chandler aber „ein generelles Konstruktionsprinzip für eine Handlung“ (S.50) ist. Tatsächlich markiert diese Aussage genau den schon oft bemerkten Traditionalismus Chandlers: Hinter den Handlungsteilen, in denen es um strukturelle Probleme seiner Zeit geht, um Gangstertum, Polizeikorruption, ubiquitäre urbane Gewalt, liegt die „eigentliche“ Handlung, psychologisch begründete Morde. Nur dass Chandlers soziale Milieus „realistischer“ erscheinen, als Agatha Christies papierene, auf reine Funktion angelegte Konstruktionen. Hier liegt der große Unterschied zu Hammett (der erstaunlich wenig erwähnt wird, bei Jameson, als Referenz-Text tritt nur der „Malteser Falke“ auf, der untypischste, wenn auch womöglich deswegen bekannteste Text von Hammett), dessen Untaten tatsächlich ent-psychologisiert sind – scharfkantige Eissplitter, wie Jerome Charyn einmal richtig bemerkt hatte, während bei Chandler immer eine romantisierende Sentimentalität mitschwingt.

Das sieht Jameson durchaus, deswegen verweist er auch auf Robert Altmans Verfilmung von „The Long Good-Bye“, der Chandlers rührseligen Schluss radikal ändert: Am Ende des Films erschießt Marlowe Terry Lennox. Und ist damit auch eine Radikalkritik an Chandlers Traditionalismus. Bei Hammetts Continental Op treten solche Probleme nicht auf. Eine neue Dimension kann ich also bei Jameson an dieser Stelle nicht erkennen. Wohl aber ein Anschlussmöglichkeit von Chandlers Konzept an viele heutige Kriminalnarrative, die sich sozialkritisch gerieren, aber die „eigentliche“ Mordtat dann doch wieder in den privaten Raum verlegen, was deutlich publikumsträchtiger ist als der deutliche Bezug auf strukturelle Gewalt. Auf dieser Ebene liegt auch der Kuschel-Faktor von Chandler, dem von Agatha Christie analoger als ihm vermutlich selbst lieb war. 

John Ridgely als „Eddie Mars“

Zwei Realitäten?

Jamesons Argument, die „eigentliche“ und die „ablenkende“ Handlung seien auf zwei „Realitätsebenen“ angesiedelt (S. 53) kann ich nicht folgen, weil sie sich hinsichtlich ihres „Realitätsstatus“ in den Romanen bei Chandler nicht unterscheiden können. Und weil Jameson diese beiden Ebenen hierarchisiert (deswegen auch Chandlers „nette“ Gangster wie Eddie Mars aus „The Big Sleep“ etwa) und eben nicht als äquivalent betrachtet, entfällt auch der von ihm postulierte „soziologische Schock“, dass „private“ und „strukturelle“ Verbrechen gleichermaßen „brutal“ und „gemein“ sind (S.55). Die These, dass bei Chandler im Gegensatz zum Agatha-Christie-Typ der Mörder „kein Symbol des Bösen“ und der gewaltsame Tod „entmystifiziert“ wird (S.58f) ist allerdings Allgemeingut, das Jameson ausgerechnet nicht hinterfragt.

Ähnlich sieht es auch mit Chandlers Misogynie aus. Auch hier argumentiert Jameson mit den beiden Ebenen: Auf der ablenkenden Ebene, um Jameson zu paraphrasieren, baut Chandler „Bedrohungsszenarien“ die z. B. vom Organisierten Verbrechen ausgehen, aber so hat es  nur den Anschein, während die „wahre“ Bedrohung auf der „eigentlichen“ Ebene von „lüsternen Frauen“ herrührt, die die Männer permanent bedrohen. Diese Chandler´sch Idiosynkrasie, die schon fast unfreiwillig komisch exaltiert wird, ist aber wiederum ein Grund für seine (und die vieler seiner Adepten) Beliebtheit bei einer auch heute noch existierenden Fan-Klientel, die sich eine solche imaginäre Bedrohung realiter wünschen mag, gerade wenn sie sich partout nicht mit der eigenen Lebenswelt in Deckung bringen lässt. Die Pose des hartgesottenen Autors hartgesottener Texte und die gleichermaßen hartgesottenen Leser sind ein erstaunlich persistentes, allgegenwärtiges Muster. Aber ist das mehr als eine Evidenz?

Inszenierung

Ein anderes neuralgisches Problemfeld bei Jameson hängt mit Sprache und Realismus, mit Wirklichkeitsausschnitten und Perspektive zusammen. Die Figur des chandlerschen Privatdetektivs, sagt Jameson, (S.20ff), leitet sich aus dem Umstand her, dass die amerikanische Gesellschaft, in Sonderheit die von Los Angeles zu Chandlers Zeiten charakterisiert ist durch ein „Zerfließen der Sozialstruktur“ und es daher keine „privilegierte Erfahrung mehr gibt, in der das Ganze der Sozialstruktur erfasst werden könnte“. Deswegen brauche es eine Figur, „deren Gewohnheiten und Lebensmuster sich irgendwie dazu eignen, ihre separaten und isolierten Teile der Gesellschaft zusammenzubinden“.

Was früher die Aufgabe des Schelmenromans war, übernimmt jetzt der Privatdetektiv-Roman. „Als Sozialforscher wider Willen frequentiert Marlowe jene Orte, die man entweder übersieht oder nicht sehen kann: die anonymen oder die wohlhabenden und abgeschiedenen“ (S.21). Chandlers Leistung sei dabei die Inventarisierung isolierter Lebenswelten: Das Büro, die Wohnung, Hotellobbys die Residenzen der verschiedenen Klassen (auch im Konnex mit der Natur) und so weiter, überhaupt „Orte, die zur massenhaften, kollektiven Seite unsere Gesellschaft gehören: Orte, die von gesichtslosen Menschen bevölkert werden, ohne dass sie einen Abdruck ihrer Persönlichkeit hinterlassen, kurz: die Dimension des Austauschbaren, Uneigentlichen“. Jameson nennt dies die „Darstellung des sozialen Materials“ (S.22), eher, wie er meint, typisch für die europäische Literatur. Zusätzlich jedoch rücke bei Chandler die „amerikanische Seite“ ins Bild: „private Clubs, Privatpolizei, Kulte, Casino-Schiffe, korrupte lokale Polizei, mächtige Männer und Clans, die eine Stadt beherrschen“ (S.23). Dies sei, fügt Jameson hinzu, „die Kehrseite, die dunklere konkrete Wirklichkeit einer abstrakten gedanklichen Illusion über die Vereinigten Staaten“ (S.24) – vulgo des American Dream.

Dass natürlich der Californian Noir (Nathaniel West, James M. Cain, Dashiell Hammett und natürlich, Raymond Chandler) zu den großen Saboteuren eben dieses American Dream gehören, wissen wir wahrlich nicht erst seit Mike Davis´ „Ecology of Fear“. Was Jameson allerdings nicht erwähnt und diese Nichterwähnung auch in Bemerkungen wie „man könnte Chandler als Maler des American Life bezeichnen“ (S. 13) bekräftigt, ist die bei Chandler ins Auge springende Ausblendung großer Teile der Bevölkerung – der schwarzen und asiatischen Bevölkerung, der Latinos, die allenfalls zeittypisch typologisiert als Dienstboten etc. vorkommen, wenn überhaupt. Der „Sozialforscher wider Willen“ forscht eben nur auf einem abgegrenzten Teil des gesellschaftlichen Territoriums. Sein mapping von Los Angeles weist große weiße Flecken auf, terra incognita und auch nicht von Interesse, wie auch bei Jameson nicht. Da ist ein Ansatzpunkt von Re-Lektüre verschenkt, ein Ansatzpunkt zudem, der nicht irgendwie surplus-haft wegcamoufliert werden kann, sondern zentral ist. Auch Chester Himes etwa gehörte mit seinen Los-Angeles-Romanen der 1940er Jahre zu den Demonteuren des American Dream. Dass dieser Aspekt nicht in Jamesons Theoriebildung eingeht, ist umso verwunderlicher als er sich des Problems (cf. S.155) durchaus bewusst ist, aber vermutlich unter Chandlers privaten Idiosynkrasien verbucht, statt dessen systemischen Charakter zu thematisieren. 

Das Imaginäre und das Reale

Aber wäre es nicht der Dignität der Texte unangemessen, sie auf einen sozialkritischen Realismus festzulegen, wie es Jameson an manchen Stellen, wenn auch hochvermittelt, tut? An anderen Stellen tut es das allerdings nicht: Zurecht spricht er von dem „imaginären chandlerschen Südkalifornien“ (S.52), zusammengehalten von eher episodischen Partikeln, die nur durch eine Mordgeschichte geschlossen werden, auch wenn diese „Geschlossenheit“ bei Jameson eher erzwungen erscheint, wobei er dennoch darauf insistiert, dass sie grundsätzlich existiert. Auch das ein längst erkanntes Problem: Die Plotlöcher bei Chandler, besonders deutlich bei „The Big Sleep“. Statt wie in vielen Theorien des Noir solche Un-Geschlossenheit lediglich als Merkmal des Noirs (weil eher auf Atmosphäre, Stimmung und Teleologie konzentriert) konstruktiv stehen bleiben kann, möchte Jameson letztlich doch ein „geschlossenes Kunstwerk“ (als Anti-Eco, sozusagen) und Chandler damit in die Prämoderne zurückversetzen. Das ist Jamesons Intention nach kontraproduktiv (und zutiefst hochkulturell kanonisch gedacht), aber paradoxerweise völlig richtig. Denn die hermeneutische Tätigkeit des Detektivs bei Chandler sieht Jameson nicht so sehr in der „Sublimierung des infantilen Voyeurismus“ nach Freud, der „Geheimnisse wissen will“ (S. 73), sondern in einem konnotativen Ritual, das eine hegemoniale Ideologie bestätigt. 

Die adoptierte Sprache

Das alles lässt ihn in den nächsten Widerspruch taumeln. Zurecht und bekannt ist, dass Chandler aufgrund seiner britischen Sozialisierung in einer Art „adoptierten Sprache“ (S.11) schreibt. Chandler findet „in seiner Sprache eine Art materielle … Widerständigkeit … Seine Sätze sind Collagen aus heterogenen Materialien, eigenartigen Sprachschnipseln, Redefiguren, Redensarten, lokalen Bezeichnungen und Sprüchen, alles mühevoll zusammengefügt zu einer vermeintlich zusammenhängenden Rede“ (ebd.). Das wäre in der Tat ein Konstruktionsprinzip der Moderne, und zurecht weist Jameson auf Autoren wie Nabokov oder Robbe-Grillet hin, bei denen solches „stilistisches Experimentieren“ (S.12) oft um einen Mord zentriert ist. Bei Chandler hingegen generiert diese sprachliche Eigenart „eher fragmentarische Bilder von Szenarien und Orten, bruchstückhafte Wahrnehmungen, die aufgrund irgendeiner formalen Paradoxie der ernsthaften Literatur als unzugänglich erscheinen“ (S.13). Ist das jetzt eine Kritik an der „seriösen“ Literatur oder eine Pejorisierung Chandlers? Zumal das von Jameson immer wieder thematisierte Zersplittern der Narration, hauptsächlich der „ablenkenden“ Handlung, gerade ein Merkmal der  modernen/postmodernen Kriminalliteratur wird: Die Vignetten bei Joseph Wambaugh, das nicht-lineare Erzählen bei Chester Himes, das Mäandern bei Paco Taibo II, die redundanten Schleifen bei Derek Raymond und so weiter. 

Voice-Over

Aufhorchen allerdings lässt eine hochinteressante Bemerkung Jamesons, die allerdings für ihn nicht zentral zu sein scheint: Er leitet Chandlers Ich-Erzählstil, also das andauernde Kommentieren der Handlung, der Situationen und der Figuren (hauptsächlich mittels origineller Metaphern) von der damals gerade aktuellen radiophonen Technik des Voice-Over (Stichwort: Radio Days) her, ein Prinzip, das viele Filme der Serie Noir übernommen haben. Das ist in der Tat ein Modernitätskriterium, eine implizite Multimedialität, die auch geeignet wäre, das Autoritäre einer Monoperspektivität (nach Bachtin) zu brechen. 

Geschlossenheit

Tatsächlich fächert Jameson noch andere Problemfelder auf – die Organisation von Raum und Zeit etwa -, die dazu dienen, eine gewisse Geschlossenheit der Romane Chandlers zu etablieren, auch wenn dazu ein erheblicher Aufwand an Meta-isierung (siehe oben) betrieben werden muss, aber das ändert nichts an dem Eindruck der Unklarheit über Raymond Chandlers Romane, die sich Jameson hier wegraisonieren möchte. Nichts Neues über Chandler, aber Jamesons Argumentation sorgt dafür, dass man sich über die Implikationen des literaturhistorischen Status von Chandler noch einmal ein paar Gedanken machen sollte

Ein zutiefst sympathisches Unternehmen also, einem Autor gegenüber, der in der Tat auf den Koordinaten von Tradition, Konvention, Reaktion, Moderne und Innovation hin und her tanzt und dessen produktionsästhetische Folgen von fatal bis verblüffend reichen.  Genauso verblüffend wie Jamesons Schlussgag, der sich, ex post gesehen, aus dem Untertitel „Ermittlungen der Totalität“ andeutet: „Indem sie (Chandlers Literatur, TW) uns mit dem rituellen, übergeordneten Ziel der Entdeckung des Verbrechers und seiner Verwandlung in ´das Andere` irreführt, vermag sie uns ohne Vorwarnung mit der Realität des Todes zu konfrontieren, des schalen Todes, der die Hand nach dem Lebendigen ausstreckt, um es an den Moder seiner eigenen Ruhestatt zu erinnern“. Chandlers Detektivromane und mithin die Kriminalliteratur als großes, klassisch barockes Memento Mori – das ist genial und banal zugleich. Jamesons Essay in a nutshell.

Coda: Weil bei Chandlers Beschreibung der Stadt Los Angeles das Urbane und die Natur nicht schematisch als „traditionelle Oppositionen wie Subjekt und Objekt oder Kultur und Natur“ begriffen wird, also einen „apriorischen Inhalt“ (S.138) ablehnt, sieht Jameson eine Analogie zu Heideggers Konzept des „Risses“ (S.140) – in „Der Ursprung des Kunstwerkes“ – eben des Umstandes, dessen „Berufung“ im Kunstwerk „im Offenhalten ebendieses skandalösen Risses (liegt) … Die Funktion des Kunstwerkes ist es dann, einen Raum zu öffnen, in dem wir selbst aufgerufen sind, in dieser Spannung zu leben und ihre Realität zu bejahen“ (S.140f). Auch dies wieder eine rezeptionsästhetische Anweisung, wie Chandler zu lesen sei. Und vielleicht eine Antwort auf die Frage, um was es in dem Essay eigentlich geht. Um Chandler oder um eine komplizierte Legitimierung von Literatur, die man als angeblich als camp rubrizieren sollte. Die Basis für diese Operation allerdings ist das als naturgesetzlich gesetzte Schisma zwischen seriöser und nicht-seriöser Literatur. Fällt diese Prämisse, fällt die Argumentation. 

©02/2022 Thomas Wörtche 

Fredric Jameson: Raymond Chandler. Ermittlungen der Totalität. (Raymond Chandler. The Detections of Totality, 2016). Essay. Dt von Horst Brühmann. Konstanz University Press 2021. 160 Seiten, 18 Euro.

Tags : , , , , ,