Geschrieben am 1. September 2022 von für Crimemag, CrimeMag September 2022

TW über Giovanni Battista Piranesi (1720 – 1778)

Kerkerphantasien

Wenn der Name Giovanni Battista Piranesi (1720 – 1778) fällt, tickert, bei zumindest Nicht- (spezialisierten) Kunstgeschichtlern, die Assoziationskette los: „Carceri“, Gothic, Walpole,  Colerigde, E.T.A. Hoffmann, Poe, Kafka, Borges, M.C. Escher, Alberto Breccia, François Schuiten etc. – also: Phantastische Kunst oder Das Phantastische in der Kunst.  Walpoles Roman  „Castle of Otranto. A Gothic Story“ (1764/5), der Grundlagen-Text für alles, was man später als „Gothic Novel“ oder Schauer/Horrorroman bezeichnen sollte, rückte deswegen in die Nähe Piranesis, weil die Architektur des Schlosses von Otranto in der Phantasie Walpole die visionäre, verschachtelte, bizarre Architektur seines Landsitzes Strawberry Hill nachbildet – oder umgekehrt.

„Otranto ist Strawberry Hill“, wie Norbert Miller in seiner kapitalen Studie „Strawberry Hill. Horace Walpole und die Ästhetik der Unregelmäßigkeit“ schreibt. Wobei Strawberry Hill in der banalen Realität höchstens ein Otranto en miniature sein konnte.  Und wobei nicht ausgemacht ist, ob Walpole tatsächlich die 1761 erschienen Ausgabe der „Carceri d’invenzione“ gekannt hat, die laut Miller „die finstere Handgreiflichkeit der Mauern, Pfeiler und Treppen“ besonders unterstreicht. Ganz sicher aber hatte Walpole die „Antichità Romane“ von 1756 gekannt, die „Ansichten römischer Unermesslichkeit“, die „imaginäre Vedute der im Erdreich verborgenen Substruktionen der Engelsburg“. Piranesi, Gothic und Phantastik gehörten von da an fest zusammen, ein Beziehungs- und Verweiscluster bis heute. 

Der von Luigi Ficacci herausgegebene Band „Piranesi. The Complete Etchings“ korrigiert diese Sicht nicht wesentlich, sondern differenziert sie. Die berühmten „Carceri“, also die „erfundenen Kerker“, machen in dem gewaltigen Gesamtwerk Piranesis in der o.a. zweiten Auflage von 1761 nur einen schmalen Anteil aus: Ganze 15 Platten, die allerdings von welthistorischer Bedeutung. Gerade sieht man sehr schön en detail, wie kontrolliert durchgeknallt Piranesis Bildwelten funktionieren. Riesige Räume, die unendlich sein könnten, gewaltige Treppen, die ins Nichts führen, massive Pfeiler, Flaschenzüge, die nichts Gutes verheißen, Wachtürme, bedrohliche Maschinen, unbehagliche Ketten und menschliche (immer?) Gestalten, die vermutlich unschöne Dinge tun oder erleiden. Das Zusammenspiel von penibelster Detailgenauigkeit und im Raum verschwimmender Abstraktion öffnet unendliche Phantasieräume in einer von aller Wirklichkeit entkoppelten Welt.

Ein Kompositionsprinzip, eine ästhetische Methode indes, die alle Radierungen Piranesis bestimmt. Seine Ansichten römischer Ruinen insinuieren ein Rom, das es so nie gab, das aber durch Piranesis kreativer Rekonstruktion, die sich oberflächlich gesehen an die Maximen der Vedutenmalerei hält, eine phantastische, visionäre Dimension ex post erhält. Das gilt selbst für sein akribisches Abzeichnen „archäologischer“ Objekte, die dennoch stets neben dem Dokumentarischen ein numinoses Surplus haben. Die ästhetiktheoretischen und kulturpolitischen Implikationen sind dabei natürlich evident. Piranesis Rom in Geschichte und wünschenswerter Gegenwart stehen im Kontrast zur Marmorglätte eines Winckelmann, Piranesis Pracht und Herrlichkeit braucht das darstellbar Imaginäre um zu wirken. 

Es könnte erhellend sein, sich im Kontrast dazu die zeitgleichen Veduten von Bellotto anzuschauen. Das mag unfair erscheinen, Radierungen gegen prächtige Gemälde zu stellen, aber betrachtet man die Vorzeichnungen von Bellotto zu seinen Veduten von Dresden, Wien oder Venedig, sieht man erstaunliche Parallelen, bei Bellotto Entwirf, bei Piranesi als Ausführung. Der Unterschied jedoch liegt nicht nur in der offen zutage tretenden Funktion der Figuren, die bei Bellotto für den narrativen Anteil seiner Veduten zuständig sind, bei Piranesi stets enigmatisch bleiben bzw. einen hohen Interpretationsaufwand erfordern. Der entscheidende Unterschied liegt aber im Medium. Das Grau-Schwarz-Weiß der Radierungen schafft von vornherein eine Atmosphäre, die eine bestimmte Grundstimmung des Opaken, Unwirklichen, Bizarren vorgibt, oder zumindest einen Schein des Sublimen (Burkes „Ästhetik“ von 1757 ist in dieser Zeit fast omnipräsent, wenn nicht als direkte Bezugsquelle, so doch als zeitgeistige Denkbewegung), die sich dann in den verschiedenen Ästhetiken des Schreckens im Kanon der nicht mehr schönen Künste fortschreibt. Während bei Bellotto, bei aller Lebendigkeit der Figuren, ein zwar farbenfroher, aber dennoch als kalte Rationalität erscheinender „Realismus“ dominiert.  

Was aber beim Betrachten der 770 Seiten des sorgfältig editierten und kommentierten Piranesi-Bandes auffällt, ist die enorme Arbeitsleistung, ganz physisch gesehen, die Belastung von Fingern und Augen, abgesehen von der intellektuellen Anstrengung, muss gewaltig gewesen sein. Ob Piranesi, der sich selbst eher als Stadthistoriker und Stadtplaner sah, geahnt hat, dass er zu einem Pfeiler der „Phantastischen Kunst“ werden würde, dass von seinem riesigen Werk in letzter Konsequenz nur die „Carceri d´invezione“ übrigbleiben würden? In der Kunst, der Philosophie und der Soziologie – bei Baudelaire, Benjamin und Foucault und vielen anderen.

Thomas Wörtche 

Luigi Ficacci: Piranesi. The Complete Etchings. Mehrsprachige Ausgabe: Deutsch, Englisch, Französisch. Verlag Taschen, Köln 2022 (Erstausgabe 2000). Hardcover, 25 x 34 cm, 3,80 kg. 788 Seiten, 60 Euro. – Verlagsinformationen.

Zauber des Realen. Bellotto am sächsischen Hof„. Die Ausstellung ist leider am 22. August ausgelaufen. Der Katalog bietet viel Material, ist aber eher enttäuschend kommentiert.

Norbert Miller: Strawberry Hill. Horace Walpole und die Ästhetik der schönen Unregelmäßigkeit. Hanser Verlag, Edition Akzente, München 1986. 428 Seiten, 19,90 Euro.

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