
Mit einem Wort: großartig
„Ich fahre nach Moers“, das hieß in den frühen 1970ern nicht, dass man die Verwandtschaft am Niederrhein besucht, sondern gemeint war das „Internationale New Jazz Festival Moers“, das nun 50 Jahre alt wird. Ein halbes Jahrhundert, mon dieu. Von 1972 bis 1976 oder 1977 oder 1978 bin ich jedes Jahr nach Moers gefahren, gepennt wurde im Auto oder im Schlafsack auf der Wiese oder eher gar nicht. Die Dope-Schwaden waren so dicht, dass man fast keinen eigenen Stoff braucht, die Bongos tuckerten ohne Unterlass durch die Nacht, und ja, der empörte Anwohner Rektor Franz F. im Ruhestand wütete, laut Rheinischer Post, völlig zurecht „gegen Lärmbelästigung, Wüstenei und Orgien im Schlosspark, bei denen Mädchen aus aller Herren Länder oben und unten als Nackedeis die Zeltstadt bevölkern“. Genau so war das, mit einem Wort: großartig.

Kerstin Eckstein und Kathrin Leneke haben jetzt, zum 50ten, eine Art „Familienalbum“ zum Moers-Festival vorgelegt. Gespickt mit vielen Fotos – dieses Buch ist von der Sorte, bei denen man die Bilder mit der Lupe studiert, man könnte ja selbst irgendwo drauf sein – und Erinnerungsschnipseln, von prominenten und weniger prominenten Festivalteilnehmer*innen, darunter auch Big Shots wie Archie Shepp, Aki Takase, Peter Brötzmann, Bill Frisell, Anthony Braxton Amina Claudine Meyers etc. etc. Die jährlichen Programme werden nicht aufgeführt, das ist okay, denn, wie die Herausgeberinnen im Vorwort schreiben, es geht dem Band auch darum „Freiraum für eigene Erinnerungsfelder“ zu schaffen. Tatsächlich sind meine Erinnerungen eher atmosphärischer Art, und nicht auf einzelne Auftritte fixiert. Das liegt nicht daran, dass ich zu zugedröhnt war, um irgendetwas mitzukriegen, sondern weil ich viele Formationen in anderen Zusammenhängen schon gesehen und gehört hatte, und nicht mehr sagen kann, ob dieses oder jenes Konzert nun in Moers stattfand oder anderswo. Unter Historikern kursiert der Spruch: „Er lügt wie ein Zeitzeuge“, und das ist schmerzhaft richtig.

Wichtig ist nur, dass „Moers“ das Festival war, wo alles, was damals als Avantgarde galt, gebündelt zu hören war: Free Jazz, Free Music, Mischformen aus Perfomance und Konzert, Improvisationen, Interaktionen. Doch, ich erinnere mich noch, dass etwa Marvin Hannibal Peterson schon als „kommerziell“ (das schlimmste Schimpfwort in diesen Kreisen, damals) galt, was man, von heute aus geschaut, schon als leicht sektiererisch bezeichnen könnte. Anyway, das Programm, das Burkhard Hennen, der Initiator und 34 Jahre lang der Festivaldirektor, jedes Jahr für die Open Air Konzerte und die anschließenden Jams in der „Röhre“ (kein Platz zum Umfallen in diesem mythischen Ort) zusammenstellte, hat sicher meinen Musik-Geschmack bis heute zumindest mit-geprägt.
Seit den späten 70ern war ich dann allerdings nicht mehr dort. Keine Ahnung, warum nicht mehr, ganz bestimmt nicht, weil mir die Musik auf den Keks gegangen wäre, anders als dem WDR, der zeitweise Konzerte übertrug, dann von hysterisch zeternden Hörer*innen unter Druck gesetzt wurde und schließlich wg. „unsendbarem Krach“ (und der Weigerung der Festivalleitung, den Sender ins Programm regieren zu lassen) die Kooperationen beendete. Tja, was nicht in Schubladen passt, hatte es in diesem Land schon immer schwer. Diese Erkenntnis zumindest hat mir Moers mit auf den Weg gegeben.
Bevor ich jetzt anfange, meine „Erinnerungsfelder“ einer Zeit, als die Welt für mich noch jung war, nostalgisch seufzend auszubreiten – das tue ich still vor mich hin, insofern haben die Herausgeberinnen ihr Ziel erreicht – sich das schön aufgemachte Album anzusehen. Man muss nicht dabei gewesen sein, um es als spannendes Stück Musik- und Kulturgeschichte zu wertschätzen.
Thomas Wörtche
Kerstin Eckstein/Kathrin Leneke (Hd.): (re) visiting Moers Festival. Texte, Fotos und Chronologie zu 50 Jahren Moers Festivla. Wolke Verlag, Hofheim am Taunus 2021. 231 Seiten, 24 Euro. – Internetseite des Festivals hier.