Geschrieben am 1. September 2021 von für Crimemag, CrimeMag September 2021

TW liest Carlsson, Cercas, Pavičić

Die sozialen Kosten von „Aufklärung“

Thomas Wörtche über die Romane „Terra Alta“, „Unter dem Sturm“ und „Blut und Wasser“

Drei Kriminalromane aus drei Ländern, die man getrost als klassische Whodunnits bezeichnen könnte, sehen völlig unterschiedlich aus, sind völlig unterschiedlich, weisen aber schon auf den ersten Blick gewisse Analogien auf. Aber das wirklich Entscheidende enthüllt sich erst am Ende der Lektüren. Denn die per se sehr gute Kriminalromane haben den gleichen Subtext, der weit über die Gemeinsamkeiten hinausgeht. Und über die Unterschiede auch.

Es ist die Rede von  Javier Cercas‘ „Terra Alta“, „Unter dem Sturm“ von Christoffer Carlsson und „Blut und Wasser“ von Jurica Pavičić. Drei Kleinstädte: Die eine in Katalonien, eine in Mittelschweden, eine an der kroatischen Adria-Küste, ein ziemlich weitgespanntes Dreieck. In Katalonien wird ein altes Unternehmerpaar grausamst gefoltert und getötet, in Schweden eine junge Frau erst erschlagen, dann verbrannt, und in Kroatien verschwindet eine junge Frau spurlos, man muss befürchten, dass auch sie ermordet wurde.  Motivlage in allen drei Fällen zunächst unklar. Standardsituationen der Kriminalliteratur also, drei „Fälle“, die der Aufklärung harren.  Und drei Romane, deren ästhetisches und intellektuelles Niveau alles andere als Standard ist, Cercas, Carlsson und Pavičić haben ihren je eigenen Ton: eher nüchtern protokollarisch Pavičić, bedächtig reflektierend Carlsson, und souverän auktorial Cercas. Wichtig sind in allen Texten die Schauplätze, die local knowledge der Autoren: Die Kleinstadt im katalonischen Hinterland, weit entfernt von den touristischen Zentren an der Küste, ihr Gegenstück im schwedischen middle of nowhere und die „Urlaubsdestination“ an der Adria. Die jeweils lokale Spezifik macht die Fälle erst möglich: Das Unternehmerpaar in Terra Alta repräsentiert die wirtschaftlich dominante Macht in der Gegend, in Schweden leben die wenigen Menschen eng zusammen, und in Kroatien zerfällt eine Dorfgemeinschaft, die mit den modern times (vor und nach dem Krieg) nicht mehr klarkommt. Auch das Standardkonstellationen seriöser Kriminalliteratur. Alle drei Autoren sezieren ihre Soziotope, bis sie sie auf ihre bösen Kerne reduziert haben.  

Aber die Strukturähnlichkeiten soll man nicht überdehnt konstruieren, sie reichen noch nicht aus, um aus den drei Romanen an der Stelle schon ein Sample zu machen. Die Unterschiede sind groß: Das Verbrechen an dem Unternehmerpaar wurzelt im Spanischen Bürgerkrieg, das Verschwinden der jungen Frau hat mit der Enge in Jugoslawien zu tun, und der schwedische Mord erklärt sich aus den sozialpsychologischen Umständen und der wirtschaftlichen Krise, die der Neoliberalismus auch in der Provinz ausgelöst hat.  Während in Schweden zunächst der falsche Täter verhaftet und verurteilt wird, tappen die Kroaten jahrzehntelang im Dunkeln, und in Katalonien wird der Mord zunächst zu den Akten gelegt, weil er politisch heiß werden könnte.

Krass unterschiedlich auch das Personal, die „Ermittler“: Melchor Marín in „Terra Alta“, Sohn einer Hure, deren Ermordung in seiner Kindheit er immer noch aufklären will, hat zunächst eine kriminelle Karriere hingelegt, die ihn in den Knast gebracht hat. Um den Mörder seiner Mutter zu finden, wechselt er die Seiten und wird Polizist in Barcelona. Dort tötet er eher zufällig einen Terroristen und wird zur Medienpersönlichkeit. Um ihn aus der Schusslinie zu nehmen, versetzt man ihn in die Provinz, bis sich die öffentliche Erregung gelegt hat. Aber Marín gefällt es im Windschatten des Lebens, bis er in den Mordfall hineingezogen wird. 

Vidar Jörgensson hingegen ist tief in seiner Heimat verwurzelt, er ist gerne Landpolizist, hier kennt er sich aus (meint er). Nach dem Mord an der jungen Frau ist er an der Verhaftung des mutmaßlichen Täters beteiligt, es schien sich um eine eindeutige Beziehungstat zu handeln.  Gorki Šain ist ein eher biederer Polizeibeamter, dem Tito-Regime zunächst loyal verbunden, nach dem Krieg politisch isoliert. Er wechselt desillusioniert den Beruf und arbeitet für eine obskure irische Immobilien-Firma, die schicke Urlaubslocations an der Adria entwickelt und dafür vor allem günstig Immobilien zusammenrafft. Erst als er nach Jahrzehnten nach Misto – so heißt das Städtchen – zurückkommt, um es endgültig zu ruinieren, kann er sein traumatisches Versagen im Fall der verschwundenen Silva korrigieren. 

Diese drei völlig unterschiedlichen Ermittlerfiguren also bilden die Klammer, die ich meine, wenn es um einen gemeinsamen Subtext der Romane geht. Alle drei Romane thematisieren schmerzhaft und erbarmungslos die sozialen und psychologischen Kosten für „Aufklärung“. Natürlich wimmelt es in der Kriminalliteratur von ausgebrannten, zynischen, durchgedrehten, dekonstruierten Ermittlerfiguren, die an ihrem Job und ihrem Dasein verzweifeln. Sie waten meist knietief im Dreck ihrer Gesellschaften, Gewalt und Verbrechen erscheinen als blutig-ekelhaftes Kontinuum, als Höllenkreis, aus dem es kein Entrinnen gibt – denken Sie an Derek Raymonds namenlosen Sergeant aus der „Factory“-Serie, an Joseph Wambaughs psychopathische Monster-Cops oder an Stephen Greenalls  Mick Rawson, um nur ein paar unter sehr vielen zu nennen. Für sie ist Verbrechen kein singuläres Skandalon, sondern der Normalzustand ihrer Gesellschaften. Dass dies eben so nicht sei, das ist die anti-moderne Botschaft des „klassischen“ Whodunnits, dessen Persistenz sich allerspätestens seit Agatha Christies Zeiten vermutlich der hartnäckigen Realitätsverweigerung verdankt, die besonders in Krisenzeiten immer wieder den Balsam für verunsicherte Kleinbürgerseelen feilbietet.

„Who cares who killed Roger Ackroyd“, fragte schon 1945 der Literaturkritiker Edmund Wilson in der New York Times. Natürlich niemand (und heute schon gar nicht), aber es ging nie um Roger Ackroyd, sondern um das alberne, „leere“ Vergnügen, das die schale Freizeitbeschäftigung mit Leichen anscheinend bietet. Oder eben um den Trost einer Erzählkonvention, die die finale Aufklärung von papiernen Verbrechen (Stichwort: Wiederherstellung der „Ordnung“, auch wenn die die „Ordnung“ einer Klassen- oder einer neoliberalen Ausbeutergesellschaft oder dergleichen ist) propagiert: Dem Whodunnit.  Der „Fall“ ist geklärt, die Ermittlerfigur hat am Ende vielleicht ein paar Beulen, aber ansonsten zieht sich das Muster gnadenlos noch immer bis zum peinlichsten TV-Krimi durch. Seine literarischen Kosten wurden oft genug aufgezählt (wobei man mit Argumenten keine Fans überzeugen kann – da ist in literaricis in nuce schon angelegt, was uns zurzeit in politicis Kopfschmerzen bereitet): knarzende Konstruktionen, Realitätsferne, mechanistische Plots, an den Haaren herbei gezogene Konflikte usw ad infinitum, ich erspare uns den ganzen Gruselkatalog hier.

Cercas, Carlsson und Pavičić, die jeweils zur ersten Schriftsteller-Garnitur ihrer Länder gehören (Carlsson als Genre-Autor, die anderen beiden genre-mäßig eher free wheeling), geben dem Whodunnit einen sehr eigen Spin. Sie nehmen die Erzählkonvention ernst – alle drei erzählen von einem Geheimnis, das am Ende aufgeklärt ist, aber sie weisen gnadenlos auf die sozialen Kosten einer radikalen Aufklärung hin. Javies Cercas´ Hauptfigur trifft ein furchtbarer persönlicher Verlust, weil er nicht aufhört zu wühlen, zudem erschüttert die Lösung des Rätsels seinen Glauben an den Wert von Freundschaft und echter Loyalität. Vidar kostet die Hartnäckigkeit, mit der er weiter ermittelt, obwohl doch alle den Täter für dingfest gemacht hielten (so wie er selbst, am Anfang des Buches), seine Karriere und seine Familie. Bei Pavičić schließlich stößt der Fall alle beteiligten Figuren ins Unglück – die Familie der verschwundenen Silva, die Dorfgemeinschaft und den vom schlechten Gewissen zerfressenen Polizisten Šain, der am Ende zwar die richtige Lösung findet, aber damit womöglich noch mehr Unglück anrichtet. Natürlich plädiert keiner der Autoren dafür, Verbrechen dann doch lieber ungesühnt zu lassen (diese Radikalität finden wir etwa bei Louisa Lunas „Tote ohne Namen“, aber da handelt es sich um eine andere Textsorte), aber die Erzählkonvention Whodunnit wird in dem Moment selbst „schuldig“, wenn sie mit Realitäten kollidiert. Zumindest kann sie keine narrative Unschuld als reines Rätsel-Spiel mehr behaupten. Die „Dialektik der Aufklärung“ schlägt erbarmungslos zu. 

Bemerkenswert erscheint mir dabei, dass drei Autoren unterschiedlichster Provenienz zu dem gleichen Schluss kommen – und ganz sicher sind sie nicht die einzigen (auch Matthias Wittekindts „Vor Gericht“ tendiert in diese Richtung, um noch ein aktuelles Beispiel zu nennen). Die Gegenwartstauglichkeit und der Gegenwartsbezug von Kriminalliteratur, also auch die von vermeintlich überholten Erzählkonventionen, erweisen sich weniger an den aufgerufenen Themen und behaupteter politischer Einmischung in Diskurse, sondern an ihrer Ästhetik, an dem im Text, und sei´s implizit, ablesbaren Bewusstsein dafür, welche Semantik eine Autorin, ein Autor wählt, und wo die neuralgischen Punkte einer obsoleten literarischen Strategie liegen: Die Erzählkonvention wird toxisch, das ist gut so und es ist ein Qualitätskriterium, das weiterführt als zu verlogener Bespaßung oder Pamphletismus, weil die Intoxination auf literarischem Weg erfolgt. Dann entfällt auch der Kuschelfaktor, der auch durch labeling („Schwedenkrimi“, „sozialkritischer Krimi“ etc) nicht mehr zu haben ist. Und natürlich stellt sich dabei die Frage, ob „die Wahrheit“ immer und ohne jeden Kontext das höchste Gut ist. Oder eher, so gesehen, eine Fiktion, die lebensweltlich schwer zu ertragen wäre? Und was bedeutet das, wenn die Fiktion diesen Punkt ignoriert?

© 08.2021 Thomas Wörtche 

Javier Cercas: Terra Alta. Geschichte einer Rache (Terra Alta, 2019). Aus dem Spanischen von Susanne Lange. S. Fischer, Frankfurt am Main 2021. 440 Seiten, 24 Euro.

Christoffer Carlsson: Unter dem Sturm (Järtecken, 2019). Aus dem Schwedischen von Susanne Dahmann. Rowohlt, Hamburg 2021. 461 Seiten, 22 Euro.

Jurica Pavičić: Blut und Wasser (Crvena voda, 2017). Aus dem Kroatischen von Blanka Stipetić. Schruf & Stipetić, Berlin 2020.  274 Seiten, 12,90 Euro.

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