Geschrieben am 1. Dezember 2022 von für Crimemag, CrimeMag Dezember 2022

TW: Ein Retro-Krimi, ganz und gar nicht unschuldig

Thomas Wörtche über „Die rätselhaften Hojin-Morde“ von Seishi Yokomizu

Natürlich könnte es sein, dass die Retro-Welle lichte Momente hat, und wirklich interessante, originelle und wichtige, bisher bei uns übersehene Bücher zu Tage fördert. Das Werk von Seishi Yokomizu (1902-1981), den ich nur von einem nach ihm benannten hochdotierten japanischen Preis für Kriminalromane kannte, könnte so ein Fall sein, dachte ich.

„Die rätselhaften Hojin-Morde“ von 1946 (nicht von 1973, wie das Impressum des Aufbau-Verlages behauptet, und was die Frankfurter Rundschau nachbetet, ohne sich zu wundern, wie jemand, der 1981 fast hundertjährig gestorben ist, in der Spanne von acht Jahren 77 Romane schreiben kann) war der erste Auftritt des Privatdetektivs Kosuke Kindaichi, der als Serienheld eben in den genannten 77 Büchern seine Fälle aufklärt.

Zu dieser Zeit ist Kindaichi ein etwas schlampig gekleideter junger Mann, der ein wenig stottert, pausenlos lacht oder grinst und überhaupt angesichts anfallender Leichen bemerkenswert gutlaunig ist. Im November 1937, da spielt der Roman, passieren in der japanischen Provinz Morde, die man gerne als „Familientragödie“ bezeichnet. Ein frisch verheiratetes Paar wird erstochen aufgefunden – in dem Anbau eines herrschaftlichen Anwesens, der von innen derart verschlossen ist, dass sich die Frage nach irgendeiner Realitätshaltigkeit schon gar nicht stellt. Wir haben es mit einem klassischen Locked Room Mystery zu tun, also mit der kriminalliterarischen Subkategorie, deren Rätselhaftigkeit rein akademisch ist und deren Tradition fest in der prä- und antimodernen Strömung der Kriminalliteratur wurzelt.

Auch ohne dass Yokomizu dies thematisieren müsste, wüssten wir sofort, dass die Inspiration von John Dickson Carr, Agatha Christie oder Arthur Conan Doyle etc. stammt. Aber wir müssen das gar nicht wissen, weil uns Yokomizu diesen Zusammenhang andauernd erklärt und ihn sogar zum Meta-Thema des Romans macht. Dazu passt, dass der Text mehrfach künstlich „fiktionalisiert“ ist: Ein als Autor verkleideter Erzähler beruft sich auf eigene Anschauung des Tatorts, den er Jahre später, also vermutlich zur Entstehungszeit des Buches, 1946, bereist haben, und auf die Aufzeichnungen eines „Dr. F“, der Augenzeuge wichtiger Momente der genialen Aufklärung des Falles gewesen sein will –   also ein schlichter Fall von Authentizitätsfiktion, die gerade  deswegen die totale Artifizialität des Textes unterstreicht.

So artifiziell wie die Todesfälle, die komplizierte Mechanismen nötig haben – ein Schwert, das mittels einer Wassermühle und Koto-Saiten, aufgebohrten Bambusröhren und anderen Gadgets bewegt wird (es würde mich interessieren, was ein Physiker dazu sagt) -, Zufälle (ein armer verwirrter Landstreicher, der gerade zur Hand ist) und die Assistenz eines begeisterten Lesers von Kriminalromanen. Eine Art von Verrätselung also, die immer wieder Kaninchen aus dem Hut zaubert, die am Ende nicht wegen der Genialität des Detektivs aufgeht, sondern nur, weil sie vom Autor so gesetzt ist, dessen Erzähler so tut, als ob das Lesepublikum, wenn nur scharfsinnig genug, von selbst auf die Lösung kommen könnte, was natürlich, wie bei allen Texten dieser Machart, der reine Unfug ist. Und nur dazu dient, irgendeine Genialität des Detektivs zu behaupten, was die Leserschaft letztendlich auf das Niveau der als leicht beschränkt dargestellten Landbevölkerung stellt, die, so wird deutlich betont, den Detektiv ob seines Rufs als Genie genauso ehrfürchtig betrachtet wie die Polizei, die der Tradition des Golden Age entsprechend auch nicht die hellsten Geister beschäftigt. Bis dahin könnten wir „Die rätselhaften Hojin-Morde“ als einfachen Fall des Rewritings westlicher Muster abschreiben, mit allen Malaisen und aller Altzopfigkeit (von Ursula Gräfe brillant übersetzt) des Locked Room Mysteries, dessen intellektuelle Brisanz sich mir nie erschlossen hat (aber das mag mein Problem sein). 

Spannender, wenn ich überhaupt irgendetwas spannend an der Schwarte finden kann, sind die Implikationen des Romans. Yokomizu lässt seine Handlung in einem von der Moderne nur gestreiften ländlichen Japan spielen, in dem „traditionelle Werte“ noch eine große Rolle spielen: Kenzo, der vom Schwert durchbohrte Bräutigam, hat es nicht ertragen, dass seine Frau nicht als Jungfrau in die Ehe getreten war. Deshalb musste sie sterben – ein klassischer Femizid -, und aus Gründen der Ehre und versicherungsrechtlich pragmatisch konnte er mit dieser Schande auch nicht mehr leben. Und natürlich wird der euphemistische Begriff „Familientragödie“ aufgerufen, eine üble Tradition, die bekanntlich auch heute für Morde an Frauen noch beliebt ist. 

Sein Bruder Saburo, der nachgerade enthusiastisch die Bluttat seines Bruders mit Hilfe seiner exzessiven Lektüre von Kriminalromanen manieristisch bizarr in Szene zu setzen hilft, ohne an der moralischen Dimension des Mordens irgendetwas auszusetzen zu haben, darf dann immerhin später im chinesisch-japanischen Krieg sterben.  Und das führt zu einem Kontext, der zumindest unbehaglich ist. Unser Roman spielt im späten November 1937, also ein paar Tage vor einem der bis dato grausamsten Kriegsverbrechen:  Dem Nanjing-Massaker, bei dem die japanische Armee im Dezember 1937 200000 bis 300000 Chinesinnen und Chinesen unter Begehung exzessivster Gräuel ermordet hatte, und das 1946 u.a. Gegenstand der Tokioter Kriegsverbrecherprozesse war. Das konnte einem Roman, der 1946 von 1937 handelt nicht verborgen bleiben. (Und wäre der Roman tatsächlich von 1973, wäre alles fast noch schlimmer, denn 1972 begann im Gefolge des Buches von Honda Katsuichi, „Chinareise“ eine breite kritische Aufarbeitung des Massakers.) Saburo, der intellektuelle Supporter der Morde, „widmete sich in bester Stimmung und unter Einsatz seines umfassenden kriminalistischen Wissens der Planung des Verbrechens“, heißt es am Ende des Romans, bevor sich die „politische Lage verschlechterte“ und er in die Armee eingezogen wurde. Eine weitere, eher nicht sehr sympathische Figur des Romans, stirbt 1945 beim Atombombenabwurf in Hiroshima. Weil aber schon einer ihrer Vorfahren in Hiroshima ums Leben gekommen war, wird dieser Tod einer Schicksalsfügung, einem Familienfluch zugeschrieben.

An solchen Stellen mischt sich die zeitgenössische Realität in das rein papierne Konzept. Damit verliert der Roman auch den allerletzten Rest von Unschuld – und das sollte eigentlich auch  für die Rezeption gelten. Konnte man die idyllischen Mord-Geschichten des westlichen Golden Ages nach dem Massenschlachten des Ersten Weltkriegs schon als Abwehr und Verdrängung der Moderne verstehen, erscheint Yokomizus Japan während eines imperialistischen Krieges, in dem Verbrechen wohlgemut nach literarischen Maßstäben geplant und gutlaunig aufgeklärt werden können, als reiner Zynismus – und keinesfalls als Parabel. Und kann als weiteres Indiz dafür stehen, dass diese Sorte Kriminalliteratur in der Tat eine meaning of structure hat, die dem bildungsbürgerlichen Vergnügen daran anscheinend immer noch keinen Abbruch tut. Das ist ziemlich finster. 

Seishi Yokomizo: Die rätselhaften Hojin-Morde (Honjin sastusijn jiken, 1946). Deutsch von Ursula Gräfe. Aufbau Verlag/Blumenbar, Berlin 2022. 206 Seiten, 20 Euro.

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