Geschrieben am 1. März 2022 von für Crimemag, CrimeMag März 2022

TW: Ein Bildband feiert San Francisco

Stundenlang blättern

Thomas Wörtche über „San Francisco. Portrait of a City“

Die Nächte in San Francisco sind eher selten warm, der Pazifik dort ist kalt, es regnet eher viel in Northern California, es hat viel Nebel, die Straßen von San Francisco sind steil und nicht sehr fußgängerfreundlich. Trotzdem ist San Francisco einer der Sehnsuchtsorte, zumindest meiner Generation. Die nächsten Generationen sind eher auf die gesamte Bay Area fixiert, Silicon Valley inklusive. Ich habe das beste chinesische Essen meines Lebens in einer unauffälligen Holzhütte dort bekommen, fand „City Lights“, den weltberühmten Buchladen von Lawrence Ferlinghetti & Co, einen ziemlich heruntergekommenen Schuppen, aber den Genius Loci beeindruckend.  Auf SFO, dem Flughafen von San Francisco habe ich, angesichts der Frequenz der hereinkommenden Flieger aus dem asiatischen Raum, zum ersten Mal richtig kapiert, was es mit der Beziehung des Pazifischen Raums und den USA auf sich hat.

Natürlich waren und sind auch meine San-Francisco-Bilder (massen-)medial geprägt. Für mich ist San Francisco Hammett-Town, die Bilder von „Bullitt“, „What´s up, Doc” und die Atmosphäre von Jonathan Moores “The Poison Artist” haben sich tief in mein Hirn gefressen. Meine Pilgerstätten wären, wenn es sie denn noch gäbe, The Black Hawk (Thelonious Monk, Miles Davis) und das Fillmore West (Aretha Franklin, King Curtis, Don Ellis). Da sind nur meine persönlichen Impressionen. San Francisco ist weit mehr.

Das vier-Kilo-Stadtporträt bringt es fertig, viele der unterschiedlichsten Aspekte des Großraums (man kann eigentlich nie von reinen „Stadt“-Porträts sprechen, weil Städte sich ausdehnen) aufzufächern. Da sind einmal die Texte von Richie Unterberger, der in fünf chronologisch geordneten Abschnitten die Geschichte knapp, aber facettenreich erzählt – von der Auslöschung der ursprünglichen Bewohner der Gegend, den Ohlone, durch die Spanier in den 1770er Jahren, über die Gründung der Stadt 1846 bis zum heutigen Großraum, zur Bay Area inklusive San Jose und Oakland. Unterberger komprimiert geschickt Politik-, Wirtschafts- und Kulturgeschichte mit all ihren komplexen negativen und positiven Aspekten.

Gegen alle Mythen war San Francisco nie eine Hölle und nie ein Paradies. Auf dass dies auch sichtbar werde, versammelt der von Reuel Golden verantwortete Bildteil Stadtpläne, Platten-Cover, Buchumschläge, Werbung etc. quer durch die Zeiten, die ganz pragmatisch die jeweilige Alltagsoptik dokumentieren. Eine Unzahl von Fotos (darunter übrigens auch welche von Miron Zownir) zeigt sehr schön das andauernde Oszillieren von Schein und Sein. Fred Lyons „Nighttime at Sea Rock at Land´s End” von 1953 etwa, fängt perfekt die Atmosphäre des San Francisco Noir ein, die schon fast abstrakten, ultrakühlen Architekturphotos von Albert Watson aus den späten 1980ern erzählen nicht nur von einer Beeindruckungsästhetik der Gebäude, sondern auch von einem Mentalitätswandel, der inzwischen jede Hippie-Seligkeit und jeden Flower-Power-Kitsch gnadenlos ausgetrieben hat.

Überhaupt lässt sich anhand des Bildmaterials der immerwährende Wandel der Stadt, der es nie gelungen ist, sich auf ein Stichwort wie „Windy City“ oder „Big Apple“ (also wie Chicago und New York) festlegen zu lassen. Zwischen den „Pioniertagen“ und den Tagen des Wiederaufbaus nach dem Erdbeben nebst Feuersbrunst 1906, dem Eldorado der Beat-Poets, dem Summer of Love und dem ungebremsten Hightech-Kapitalismus liegen psychosoziale Welten, obwohl sie in gewisser Weise folgerichtig sind. Esoterik und Hightech gehen wundersam zusammen, „Lord of the Rings“ verbindet Hippies mit den IT-Cracks, die sich wiederum als Pioniere eine Neuen Welt fühlen. Unter den Fotos finden sich genügend Porträts und Schnappschüsse der Celebrities ihrer Tage – Allan Ginsberg, Grace Slick, Janis Joplin, Bill Graham,  Harry Newton, you name it … , aber zwischen all diesen Persönlichkeiten, Gebäuden, Moden, Trends und Entwicklungen siedelt der Alltag. Besonders die Fotografin Imogen Cullingham hat sich darum gekümmert, mit ihrer klaren Optik, ihre Schärfe, ihrem Blick für Details. Alltag bedeutet auch, die verschiedenen Communities von San Francisco genau zu betrachten. Die Chinesen, die schwarze Bevölkerung, die Latinos und andere Gruppierungen, was wiederum zu den politischen Kämpfen der jeweiligen Epochen führt. Rassismus und Xenophobie, jeweils mit Gewalt unterfüttert, stehen gegen die utopistischen und humanistischen Bewegungen in der Stadt, von den Black Panthers (denen Unterberger ein paar sehr kluge Passagen widmet), über die Schwulenbewegung und andere LGBTIQ-Aktivitäten, die oft ihre Initialzündung in San Francisco hatten. Und die Fotos zeigen auch das hässliche Gesicht der Staatsmacht, besonders bedrückend dokumentiert von Steven Shames und Jean-Antony du Lac – Black Lives Matter war schon immer ein Thema.

Aber zurück zum Alltag. Faszinierend sind dabei die Street Scenes, wobei die Cables Cars natürlich ein besonderer Blickfang bieten, auch wenn sie heute nur noch als Touristenattraktion dienen. Alltag sind auch die Amüsier- und die Elendsviertel, und unschuldige Vergnügungen wie Kaffeeklatsch, Konzerte, Friseurbesuche, deren Aussagekraft darin beruht, dass die Menschen von San Francisco eben ihre jeweiligen Leben leben, die mit den Bildern der Stadt wenig bis nichts zu tun haben – sowie Bayern nicht ständig in Bierzelten hocken oder Berliner nicht pausenlos nächtens Autos anzünden. 

Diese Weigerung, ein bestimmtes Bild von San Francisco zu verfestigen (und sei’s nur für eine einzelne Epoche) ist die große Qualität dieses Stadt-Porträts, in den man Stunden und Stunden blättern kann. Und dann wieder von vorne.

Thomas Wörtche 

Reuel Golden/ Richie Unterberger: San Francisco. Portrait of a City. Deutsch von Alexander Rüter und Marlene Mück. Taschen Verlag, Köln 2022. 480 Seiten, 50 Euro. Verlagsinformationen.

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