Geschrieben am 20. März 2010 von für Crimemag, Kolumnen und Themen

Truman Capote: Kaltblütig

Mord ohne offenkundiges Motiv

Ein Klassiker wie Kaltblütig hat eigentlich keine Rezension nötig, niemanden, der ihm seinen literaturgeschichtlichen Wert und seine exzellente Qualität bescheinigt. Was aber jeder Klassiker nötig hat, ist seine stetige Aktualisierung durch neue Lesergenerationen. Deswegen heute wieder – wie regelmäßig beim SiK – ein Klassiker-Check von Doris Wieser.

„Ich hatte nicht vor, ihm irgendwas anzutun. Ich fand, dass er ein sehr netter und gebildeter Mann war. Ein stiller Mann. Das glaubte ich, bis zu dem Moment, wo ich ihm die Kehle durchschnitt.“

Wer über vierzig Jahre nach dem Erscheinen diese non-fiction-novel zum ersten Mal liest, tut dies, nachdem er ausgiebig in den Blutströmen der Buch- und besonders der Filmindustrie gebadet hat. Kaltblütig wurde zwar deutlich nach den meisten Hitchcock-Filmen und den Romanen von Patricia Highsmith und auch nach dem ersten Jack-the-Ripper-Film veröffentlicht, aber vor den Metzeleien von Bonnie & Clyde, Dirty Harry und lange vor American Psycho, Pulp Fiction oder Natural Born Killers. Die in den 1970ern aufkommende Figur des Serienmörders – mit der die Täter aus Kaltblütig ihre Brutalität teilen – gehörte noch nicht zum kulturellen Background der ersten Lesergeneration. Aber was kann uns Konsumbrutalos von heute noch schocken?

Truman Capote ist derjenige Autor, der den investigativen Journalismus ab Mitte der 1960er populär gemacht hat – obgleich es in Argentinien schon 1957 einen dort nicht minder berühmten Vorläufer gab: Rodolfo Walsh mit Operación masacre (erscheint übrigens im Juli 2010 bei Rotpunkt auf Deutsch!). Kaltblütig schildert eine wahre Geschichte, die sich 1959 in West-Kansas, in einem kleinen Ort namens Holcomb, zugetragen hat. Eine wohlhabende Farmerfamilie (Eltern und zwei Kinder) wird des Nachts ermordet. Es gibt keine stichhaltigen Spuren, kein erkennbares Mordmotiv, keine Verdächtigen. Die Familie hatte kaum vierzig Dollar Bargeld im Haus.

Kaltblütig tickt irgendwie anders

Im Zusammenhang mit diesem Ereignis erzählt Capote genau genommen drei Geschichten: erstens die des Lebens der Clutters, eine rundum beliebte, großherzige Familie; zweitens die Geschichte von Perry Smith und Dick Hickock, den beiden Mördern, die sich im Gefängnis von Lansing kennenlernen, danach gemeinsam bei den Clutters einbrechen und schließlich nach Mexiko und zurück in die USA fliehen; und drittens die Geschichte der Ermittlung, Festnahme, Verurteilung und Hinrichtung der Täter. Die Kombination dieser drei Stränge sowie der tiefe Einblick in die amerikanische Gesellschaft (bezüglich Religiosität, Rassismus, Todesstrafe) besitzt eine so große Glaubwürdigkeit, dass sie auch heute noch entsetzt, konsterniert und sogar schockiert, weil sie eben KEINE Fiktion ist, sondern bestätigt, dass die (gelungenen wie misslungenen) Massen- und Serienmörderfiktionen von heute, knallharte reale Pendants besitzen. Nach Kaltblütig konsumiert man dann auch Fiktionen wieder anders, nämlich im Hinblick darauf, mit welchen impact derartige Verbrechen die realen Welt erschüttern. Dieser nichtfiktionale Roman bringt uns damit zurück auf den Boden der Tatsachen und durchbohrt unsere kugelsichere Haut – die es uns normalerweise ermöglicht, nach dem neusten Splatter-Film vergnügt und entspannt ein Bier trinken zu gehen – an genau der Stelle, die die Eintrittskarte beim Baden im Filmblut bedeckt hatte.

Die Clutter-Familie wirkt durch den ausführlichen Bericht über ihre Freundschaften, die Entwicklung und Hobbys der Kinder und die depressive Erkrankung der Mutter sehr nah, äußerst real. Anders als in einer Fiktion wird hier nicht jedem Detail eine Funktion für den Plot aufgebürdet, sondern sie erhält schlicht und ergreifend den Wert einer Information über die Realität. Dass Nancy Clutter gern auf ihrem alten Pferd Babe reitet, wird beispielsweise nicht zur Metapher für ihre aufkeimende Sexualität oder Ähnliches mehr. Es war eben so. Irgendwie tickt dieser Tatsachenbericht also anders als ein fiktionales Werk, obwohl er sich in seinen narrativen Techniken sehr stark an literarische Texte annähert. Der Autor verwendet häufig aus dem Gedächtnis rekonstruierte Dialoge, Gedankenberichte sowie die Form der erlebten Rede. Wie viel von diesen Passagen den Tatsachen entspricht und wie viel davon Interpretation (und somit Fiktion) des Autor ist, kann schwerlich bestimmt werden und spielt auch keine größere Rolle. Der reale Hintergrund verleiht dem Werk so oder so eine ungeheure Brisanz und Durchschlagskraft.

Ein psychologischer Unfall

Truman Capote

Trotz der Brutalität des Verbrechens fällt Capote kein moralisches Urteil über die Mörder – ganz im Gegensatz zu durchschnittlichen Massen- und Serienmörderfilmen, in denen die Täter als das Böse schlechthin verteufelt werden. Er zieht vielmehr alle Register, um die Ereignisse verständlich und begreifbar zu machen, indem er detailgenau herausarbeitet, welche Umstände und Zufälle dazu geführt haben, dass die beiden jungen Männern diese Tat gemeinsam begehen konnten. Und genau davon geht die große Faszination des Werks aus. Ohne in die Psychoanalytiker-Trickkiste greifen zu müssen, schildert Capote viele Einzelheiten aus der Kindheit und Jugend der Täter, vor allem Perrys, der verwahrlost, orientierungslos und ohne Liebe aufgewachsen ist, und – so erklärt ein Psychiater am Ende – durch extreme Gewalterfahrungen in der Kindheit, keine verlässlichen Kontrollmechanismen über seine impulsiven, instinktiven Aggressionen ausbilden konnte. Perry, der als Bettnässer in einem Heim allmorgendlich von Nonnen geschlagen wurde, begeht die Bluttat ohne emotionale Beteiligung, beinahe in einem traumähnlichen Trancezustand, was für den Ermittler Al Dewey eine äußerst ernüchternde Erkenntnis ist:

„Aber die beiden Geständnisse, wenn sie auch das Wie und Warum erklärten, ließen ihn doch unbefriedigt, weil kein eigentlicher Sinn in dem Ganzen zu erkennen war. Das Verbrechen war ein psychologischer Unfall, es war ein Akt, der im Grunde genommen mit den Personen selbst nichts zu tun hatte; die Opfer hätten ebenso gut durch einen Blitzschlag getötet worden sein können“ (343).

Perry und Dick verunglücken jedoch nicht nur psychologisch, sondern auch praktisch, was die Tat für die Hinterbliebenen noch absurder, noch sinnloser, noch schmerzhafter macht. Dick hatte von einem Mitgefangenen, der zehn Jahre zuvor bei den Clutters auf der Farm gearbeitet hatte, gehört, dass die Familie immer größere Bargeldmengen in einem Safe aufbewahre. Zumindest glaubte oder vermutete der Häftling dies und lieferte damit Dick unwillentlich ein Tatmotiv, das jeglicher Grundlage entbehrte. In Al Deweys obiger Reflexion klingt außerdem das an, was Capote erzählerisch brillant umsetzt: Die Spannung entsteht nicht aus der Frage nach der Identität der Mörder oder nach ihrem Motiv (das in der Hälfte des Romans bekannt wird), sondern danach, wie der Mord genau vonstatten gegangen ist und welche psychologischen Vorgänge letztendlich dazu geführt haben, nachdem die Täter festgestellt hatten, dass es keinen Safe im Haus gab.

Fazit: Kaltblütig hat alles, was ein erstklassiger Kriminalroman braucht: psychologische Tiefe, gesellschaftskritische Breite und ästhetische Höhe, und dazu noch die Fähigkeit, Seite für Seite zu irritieren, da alles so schrecklich real ist.

Doris Wieser

Truman Capote: Kaltblütig. Wahrheitsgemäßer Bericht über einen mehrfachen Mord und seine Folgen. (In Cold Blood, 1965).
Aus dem Amerikanischen von Kurt Heinrich Hansen.
Rowohlt Taschenbuch 2008. 9,95 Euro.

Biography of Truman Capote