Geschrieben am 1. November 2022 von für Crimemag, CrimeMag November 2022, News

Thomas Wörtche zu Ray Lorigas Roman

Der Terror der Transparenz

Angesichts leicht dystopischer Zustände, die zurzeit realiter herrschen, sind dystopische Romane weniger warnende Schreckensvisionen als Gedankenexperimente über eine als kontingent gedachte Zukunft. So auch “Kapitulation“ des spanischen Schriftstellers und Drehbuchautors (für u. a. Carlos Saura und Pedro Almodóvar) Ray Loriga. Erschienen 2017 in Spanien, also vor Pandemie und Krieg, sieht sein Szenario so aus: Irgendwo auf der Welt herrscht seit zehn Jahren Krieg. Wer gegen wen warum kämpft, bleibt völlig unklar. Das gilt auch für die Bevölkerung auf dem Lande, die unter den üblichen Kriegsfolgen leidet – Bombardierungen und andere Verwüstungen, Wasser- und Lebensmittelknappheit.

Die Menschen, so wie der namenlose Ich-Erzähler, seine Ehefrau und sein Pflegesohn Julio, die einzige Figur des Romans, die einen Namen hat, sollen vom Land in die Stadt evakuiert werden. Dort, so hoffen die Eheleute, könnten sie vielleicht etwas über das Schicksal ihrer beiden leiblichen Söhne erfahren, die irgendwo im Krieg verschwunden sind. Der Weg in die Stadt, ein Trip into the badlands, war schon schwierig genug, strapaziös und geprägt von Betrug und Verrat. Umso verlockender dann die Stadt, die unter einer gigantischen, durchsichtigen Glaskuppel liegt. Alle Bedürfnisse, so scheint es, werden befriedigt, alle Menschen haben Arbeit, alles gibt es gratis. Die Stadt ist tag und nacht erleuchtet und völlig transparent – alle sehen immer alles, selbst die intimsten Verrichtungen sind jederzeit einsehbar.

Die Familie richtet sich ein – der Ich-Erzähler arbeitet in der Fäkalienentsorgung, die Ehefrau in der Bibliothek und der bislang stumme Pflegesohn kommt in eine Schule für Hochbegabte. Aber das Dauerglück ist rissig. Als der Erzähler, bis dahin ein unangenehmer Konformist, der sich vom Knecht zum Gutsbesitzerinnen-Gatte hochgearbeitet hatte, leicht abweichendes Verhalten zeigt, wird er mit Psychopharmaka behandelt, die ihn auch glücklich stimmen, als die Gattin sich einen Lover ins Haus holt. Und auch das Trinkwasser, so scheint es, trägt zur Dauereuphorie der Bevölkerung bei, wobei allmählich klar wird, dass Euphorie mit totaler Gleichgültigkeit und Indolenz der Menschen einhergeht. Das ist der Punkt, wo Utopia in Dystopia umschlägt. Das Licht, das „lumen naturale“ der Aufklärung wird zum Unterdrückungsmittel, zum benevolent sozialtechnischen Terrorinstrument eines Systems, das keine Ideologie braucht, noch nicht einmal Profiteure, aber eben auch keine Abweichler. Die werden „Verräter“ genannt und sind zur Abschreckung am Tor zu Stadt aufgehängt. Schließlich gelingt es unserer Hautfigur der Stadt zu entkommen, aber … naja, es handelt sich bei „Kapitulation“ eben um eine Dystopie, mit einer üblen Pointe am Ende.

Während George Orwell, dessen „1984“ in „Kapitulation“ durch die Zeilen schimmert wie auch Erzählungen von Philip K. Dick, die totalitären Regimes seiner Zeit vor Augen hatte, richtet sich Lorigas Roman eher gegen die Glücksversprechungen etwa des chinesischen Systems, das Glück und Wohlstand verspricht, dafür aber Freiheit cancelt. Ein System, das durchaus von vielen Menschen für attraktiv gehalten wird und auch in der europäischen Politik zu einer Option zu werden droht. Die völlig transparente, dauerüberwachte Bevölkerung ist sowieso schon lange der Traum autoritären Denkens, wirtschaftlich und politisch gesehen. „Kapitulation“ mit seinen anonymen Protagonist:innen kann überall spielen, die sozialtechnologischen Folgen einer radikal-rationalistischen „Vernunft“ (Stichworte: KI, Algorithmen usw) sind ein brandaktuelles Thema. Lorigas Roman denkt ein Potential zu Ende, das realpolitisch beklagenswerterweise keine reine Science Fiction mehr ist. 

Thomas Wörtche

Ray Loriga: Kapitulation (Rendicíon, 2017). Aus dem Spanischen von Alexander Dobler. Culturbooks, Hamburg 2022. 200 Seiten, 24 Euro.

Tags :