Geschrieben am 1. Mai 2020 von für Crimemag, CrimeMag Mai 2020, News

Thomas Wörtche zu Jérôme Leroy „Der Schutzengel“

Der fallende Engel

Jérôme Leroys „Der Schutzengel“ zerlegt sarkastisch und virtuos die Mechanismen des französischen Politik-Betriebs, gerade da, wo sie sehr unappetitlich sind. Politische Kriminalliteratur der Spitzenklasse, findet Thomas Wörtche.

Wie ein Wohltäter wirkt Berthet wahrlich nicht. Er ist die Hauptfigur von Jérôme Leroys Roman „Der Schutzengel“. Er ist Killer für die „Unité“, eine dem französischen Innenministerium unterstehende Geheimorganisation, die alle „schmutzigen“ Angelegenheiten der Republik final erledigt. Sie ist der sprichwörtliche „Tiefe Staat“, so gut wie nicht zur Verantwortung zu ziehen, gottgleich in ihren unerforschlichen Entscheidungen. Die Unité sieht alles, weiß alles und tötet alles, was irgendwem nicht in den Kram passt. Sie hat sich in allen Institutionen eingenistet, hat Polizei, Geheimdienste, das Militär, die Wirtschaft und die Presse infiltriert. Sie ist auf eisig-perverse Weise „ideologiefrei“ – wenn es ihr passt, stützt sie die äußerste nationale Rechte (die bei Leroy immer „der Block“ heißt, auch schon damals – „Der Schutzengel“ stammt aus dem Jahr 2014, also aus der Zeit vor Macron), manchmal aber auch die Linke und ganz sicher die Sozialisten.

Berthet hat immer brav getan, was man von ihm verlangt hat, hat gemordet, gefoltert, betrogen. Jetzt ist er selbst an der Reihe. Warum genau, das weiß er nicht, die tiefschwarzen Rankünen der Unité versteht  schon lange niemand mehr. Was er aber weiß: Bei den Sozialisten macht gerade Kardiatou Diop Karriere. Die junge Frau mit senegalischen Wurzeln steigt kometenhaft zur Staatssekretärin im Kultusministerium auf. Deswegen ist sie in den Augen der Partei das ideale Opfer für ein Attentat, das man dem Block anhängen könnte.  Denn der Block wird den Sozialisten gerade gefährlich, und eine schwarze Frau auf dem Weg nach oben sehen auch die alteingesessen sozialistischen Eliten nicht gerne. Weil aber Berthet seit 1992 seine schützende Hand über Diop hält – das einzige Sentiment, das er sich gönnt – will er wenigstens dieses Attentat verhindern. Unterstützt wird er dabei von dem Kriminalschriftsteller Martin Joubert, den sich Berthet als Chronist seines Lebens auserkoren hat, als er merkt, dass man seinen Tod will.

Paranoid und völlig plausibel

Jérôme Leroy, der sich seit jeher mit dem Aufstieg und der Struktur des Front Nationale und dem Versagen der Sozialisten beschäftigt, erzählt diese paranoid, aber schrecklich plausibel anmutenden Geschichte aus drei Blickwinkeln: Der erste Teil dreht sich um Berthet, wobei Leroy schon fast pastiche-artig den sarkastisch-lakonischen Erzählton von Jean-Patrick Manchette anschlägt (dem Godfather des französischen Néo-Polar), der zweite Teil leuchtet die Figur des Intellektuellen Joubert aus, der vom aufrechten linken Lehrer und Verfasser gute, aber erfolgloser Kriminalromane, zum Lohnschreiberling beinahe ohne jede Prinzipien verkommen ist (aber eben nur beinahe), und der dritte Teil ist Kardiatou Diop gewidmet, an deren Aufstieg Leroy das ganze Versagen, die Heuchelei und die Korruption der französischen Politik demonstriert.  „Der Schutzengel“ ist ein hundsgemeines, in alle Richtungen tretendes Buch, das eine tiefe, historisch bedingte Verderbtheit des französischen Staates vorführt, der alle Werte schon längst dem Neoliberalismus in den Rachen geworfen hat, dessen gesellschaftspolitischen Konsequenzen nicht mehr Herr wird und deswegen ultrabrutal um sich schlägt, um wenigsten eine oberflächliche Friedhofsruhe herzustellen. Leroy tut das mit großer Meisterschaft, mit Witz und säureklarem Blick und sogar mit einem Vorschein von Utopie am Schluss.

  • Jérôme Leroy: Der Schutzengel (L’ange gardien, 2014). Deutsch von Cornelia Wend. Edition Nautilus, Hamburg 2020, 352 Seiten, 20 Euro. 

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