Geschrieben am 3. November 2019 von für Crimemag, CrimeMag November 2019

Thomas Wörtche über Antony Beevor „Arnheim“

Pfusch

Sir Antony Beevor hat ein neues, großes Buch vorgelegt: „Arnheim“ – über eine verheerende Niederlage der West-Allierten im 2. Weltkrieg. Das kann auch für Nicht-Militärhistoriker spannend sein. – Eine Besprechung von Thomas Wörtche.

Vermutlich gehört die Operation „Market Garden“ zu den bekanntesten Einzeloperationen des 2. Weltkriegs. Im September 1944 erlitten die West-Alliierten eine verheerende Niederlage, als sie versuchten, mit dieser gewaltigen Boden-Luftlande-Operation den Übergang über den Niederrhein bei Arnheim zu erzwingen, und damit den sogenannten „Westwall“ im Süden zu umgehen.  Die Dramaturgie der Schlacht passte, auf einem gewissen Abstraktionslevel, auf bizarre Weise zu einem einfachen, aber wirkungsmächtigen Narrativ: Nördlich von und in Arnheim, aber ohne die Brücke zu kontrollieren, saßen ungefähr 10.000 hauptsächliche britische Luftlandetruppen fest (Garden) und warteten verzweifelt und zunehmend von deutschen Einheiten eingekreist und dezimiert, auf Entsatz. Der musste von Bodentruppen kommen (Market), die einen fast siebzig Kilometer langen Korridor und ein paar andere Brücken (über die Maas und die Waal) auf einer einzigen Straße zu überwinden hatten. Das ist die klassische Western-Konstellation: Im Fort (oder im Alamo) sitzen die Verteidiger und warten auf die Kavallerie.  Die Kavallerie wiederum wird pausenlos in unwegsamen, für sie ungeeignetem Gelände angegriffen und muss blutige Opfer bringen. Daraus hatte der Journalist Cornelius Ryan 1974 ein enorm erfolgreiches Sachbuch gemacht, das Richard Attenborough 1977 als stargespickten Blockbuster verfilmte: „A Bridge too far“. Gerade der Film bot ein krachendes Schlachtenspektakel, gehört aber dennoch zu den eher klügeren Kriegsfilmen, in dem kaum Hurra-Patriotismus zu finden ist. Die Frage nach der Verantwortlichkeit für das Desaster stellte er, wie Ryans Vorlage, allerdings eher leise.

Nicht so Antony Beevor. Der britische Militärhistoriker, dessen u.a. große Geschichte des Spanischen Bürgerkriegs Maßstäbe gesetzt hat, geht harsch mit den Alliierten um. Genauer: Mit der Führung – insbesondere mit Montgomery. Nach Beevors Lesart, die er mit Bergen von Quellen und Materialien begründet, hätte es „Market Garden“ nie geben dürfen. „Von Anfang an und von der Spitze her war dies einfach ein sehr schlechter Plan. Alle weiteren Probleme ergaben sich daraus.“ Und die präpariert Beevor präzise heraus: Pfusch, Eitelkeiten, Ignoranz, Indolenz, Fahrlässigkeit und Uneinigkeit im alliierten Lager, vor allem, weil die Briten nicht einsehen wollten, dass sie nur noch die „Juniorpartner“ und von den amerikanischen Nachschubkapazitäten abhängig waren. Zudem war die Aufklärung schlecht, man unterschätzte die Schlagkraft der Deutschen allzu siegesgewiss falsch ein und war auch über die Dislozierung der feindlichen Verbände nicht gut informiert. Ex post, als es um die große Selbstexkulpation der militärischen und politischen Führung ging, war dann das schlechte Wetter schuld (das Verstärkungen nicht rechtzeitig landen ließ), unglückliche Zufälle oder, besonders infam, die schlechte Kampfmoral der Polnischen Brigade, die man aber sehenden Auges regelrecht verheizt hatte.  Mit all diesen beschwichtigenden Mythen und Legenden räumt Beevor auf. 

Und fokussiert sich, eine große Qualität des Buches, auf die Folgen der Schlacht für die holländische Zivilbevölkerung, die unter der Besetzung durch die Deutschen sowieso schon genug zu leiden hatte. Arnheim, immerhin eine Großstadt mit über 100.000 Einwohnern wurde fast völlig zerstört. Nach der Niederlage übten die Deutschen Rache an der Zivilbevölkerung, die teilweise todesmutig die Alliierten unterstützt hatte, wo es nur ging. Hinrichtungen, Plünderungen, Vergewaltigungen und Vandalismus waren die bitteren Folgen, am Ende sollte ganz Holland dem Hungertod ausgeliefert werden, was glücklicherweise scheiterte.  

Beevor montiert sein strikt chronologisch aufgebautes Buch aus seiner Materialfülle: Augenzeugenberichte aller beteiligten Parteien, egal ob Militärs oder Zivilisten (die damit nicht nur Objekte übergeordneter Entscheidungen sind). Er wechselt die ständig die Ebenen – von politisch-strategisch-taktischen Aspekten zu den direkt in die Kampfhandlungen und deren Folgen involvierten Individuen. Dadurch löst sich auch das „Hauptnarrativ“ – Belagerung und Entsatz – auf. Die Komplexität dieser, im Rahmen des gesamten 2. Weltkriegs, eher begrenzten Operation, die nicht kriegsentscheidend war, sondern höchsten das Kriegsende noch ein bisschen verzögert hat, ist dennoch gewaltig, wenn man wie Beevor versucht, alle Faktoren angemessen zu berücksichtigen.

In Zeiten der allgemeinen Geschichtsvergessenheit bin ich immer ein wenig unsicher, auf welche Wissensstandards man sich getrost verlassen kann. Wer sich kein bisschen für Militärgeschichte interessiert, wird möglicherweise Probleme mit den strikt fachlichen Teilen haben, wer aber für Psychologie, Politik und auch (Gewalt-) Soziologie unter extremen Umständen und deren Implikationen für das menschliche Handeln  im Allgemeinen einen Sinn hat, der kann Beevors Buch nur mit großem Gewinn lesen. Klar, Krieg ist schlimm, aber das sollte nicht daran hindern, sich mit dessen Feinmechanik zu beschäftigen. 

Thomas Wörtche

  • Antony Beevor: Arnheim. Der Kampf um die Brücken über den Rhein 1944 (Arnhem. The Battle for the Bridges, 1944. 2018). Deutsch von Helmut Ettinger. C. Bertelsmann, München 2019. 544 Seiten, 28 Euro.

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