Geschrieben am 1. November 2023 von für Crimemag, CrimeMag November 2023

Thomas Wörtche: Die Sinnfrage

Dinge in Bewegung, alte Zuschreibungen funktionieren nicht mehr – Eine Glosse

Manchmal taucht sie völlig unverhofft auf: Die Sinnfrage. Diesmal auf der Frankfurter Buchmesse, als ein geschätzter Kollege eines geschätzten Verlages nach dem üblichen Business-Talk leicht umwölkten Blicks fragte: „Sagen Sie mal, stellt sich Ihnen in letzter Zeit auch manchmal die Sinnfrage?“ 

Ummpffff. Auf Transzendenz und Metaphysik war ich jetzt an dieser Stelle nicht so recht eingestellt, aber darum ging es dann doch letztendlich nicht. Naja, meinte er sinngemäß, wir haben ca. 85 Millionen Einwohner, und für richtig gute Bücher reicht es gerade mal für 10.000 verkaufte Exemplare, wenn wir Glück haben. Äh, stotterte ich, die USA haben 333 Millionen und im Durchschnitt ungefähr die gleichen sales pro Buch wie wir.  Aber das ist natürlich kein Trost. Es ist schon richtig – Bücher verkaufen fällt im Moment eher schwerer als vor ein paar Jahren, die Ökonomie vieler Verlag ist unter Druck – Papierkosten, Energie, mit allen Folgen etc., Sie wissen schon. Und da ist dann noch das Leseverhalten des Publikums. Das verändert sich natürlich, so wie es sich schon immer verändert hat. Überraschen darf das nicht, auch wenn bestimmte Marktsegmente wie „Schweden-Krimis“ womöglich seit 30 Jahren konstant bleiben. 

Auf Kriminalliteratur heruntergebrochen, heißt das …. Und da liegt schon ein Problem: Der Begriff „Krimi“ gaukelt die Konsistenz einer Textgruppe vor, die es schon lange nicht mehr gibt, die es womöglich noch nie so richtig gegeben hat. Ein Schmöker aus dem Cliffhanger-Baukasten wie Sebastian Fitzeks „Die Einladung“ (Droemer) und ein komplexer Essay in Romanform wie Gianrico Carofiglios „Groll“ (Folio) sind bei aller schwachen Motivanalogie (Mord und Verbrechen) nicht mehr sinnvoll einer Textgruppe zuzuordnen, auch wenn man der Kategorie „Kriminalroman“ eine möglichst breite Diversität zubilligen möchte.

Auch der Begriff des „Facettenreichtums“ hilft da nicht weiter, weil auch er auf unterschiedliche Rezeptionshaltungen stößt, die kaum noch auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen sind. Wir beobachten es immer wieder: Wer etwa „Groll“ gut findet, kann mit Fitzek nichts anfangen, und umgekehrt. Dass eine Autorin wie Regina Nössler (aktuell: „Kellerassel“, Konkursbuch), die zu den Top-Ten der deutschsprachigen „Kriminalliteratur“ gehört, weitgehend unterm Schirm bleibt, und die Leute lieber Nostalgie-Krimis wie Nicola Upsons „Mit dem Schnee kommt der Tod“ (Ü: Anna-Christin Krame; Kein & Aber) wegschnurpseln, liegt nicht an der Blödigkeit des Lesepublikums. Sondern an einem Instinkt, der notfalls auch vorbegrifflich wittert, dass auf Nösslers Büchern einfach „Roman“ stehen könnte, auf denen von Upson aber keinesfalls. Auch Frank Göhres „Harter Fall“ (CulturBooks) ist deutlich ein Roman, während Karin Smirnoffs Millenium-Roman „Verderben“ (Leena Flegler; Heyne) sich deutlich „Thriller“ nennen dürfte, auch wenn der Verlag „Roman“ auf’s Cover schreibt. Auf Andreas Pflügers neuem Buch „Wie sterben geht“ (Suhrkamp) hingegen steht „Thriller“, weil der Roman ein glasklarer Polit-Thriller ist, ausgestattet allerdings mit allen Merkmalen eines erwachsenen Romans. 

Und an dieser Stelle werden alle schönen theoretischen Konstrukte brüchig. Wobei es schon bemerkenswert ist: Es scheint verlockend zu sein, siehe Smirnoff, ein deutlich auf Kommerzialität angelegtes Produkt (und das sind die Millenium-Romane, die auch ohne den Urheber, Stieg Larsson als „Marke“ funktionieren sollen) mit dem Label „Roman“ zu adeln, so wie man Supermarktfood gerne mit dem Aufkleber „Gourmet“ veredeln möchte. Die schöne Ironie dabei ist, dass dem Publikumsverlag Heyne es anscheinend lieber ist, ein reines Genre-Produkt wie „Verderben“ mit dem bildungsbürgerlichen Nobilitierungstool „Roman“ aufzuwerten, als eine zum Massenkonsum angeblich geeignetere Bezeichnung wie „Thriller“ zu wählen. 

Interessant dabei ist, dass in beiden Fällen, Smirnoff und Pflüger, Texte, die traditionell eindeutig sind, also „Thriller“, in Bezug auf´s Lesepublikum unterschiedlich gepitcht werden (eine Gattungsbezeichnung auf dem Cover ist ein Paratext, die knappeste Form eines Pitchs). Wäre ich Buchmarkt- oder Literaturseismograph würde ich vermuten, dass da die Dinge in Bewegung geraten, zumal sich sicher auch noch andere Beispiele für das beschriebene Phänomen finden lassen. Das Hinundherschieben von Kategorien, die nicht mehr eindeutige Bewertung von althergebrachten Konventionen und das zunehmende Vorhandensein nicht mehr eindeutig bewertbarer Texte (nichts spricht dagegen, Pflügers Buch einfach als epische Erzählung zu lesen) zeigt, dass in der Tat neue Lesegewohnheiten einziehen. Und deswegen lassen wir die „Sinnfrage“ dann doch lieber im Bereich von Metaphysik und Transzendenz.

© 10/2023 Thomas Wörtche