Geschrieben am 2. Februar 2020 von für Crimemag, CrimeMag Februar 2020

Thomas Wörtche: Bestandsaufnahme, bis heute (Teil 2)

Die Kriminalliteratur hat gesiegt – vielleicht zum Tode

Crime Fiction und das literarische Feld in Deutschland

Auch nach dem 2. Weltkrieg konnte sich die deutschsprachige Kriminalliteratur nicht aus eigener Kraft in nennenswerten Maß im literarischen Feld etablieren. Sie bedurfte dazu der tatkräftigen Hilfe von außen. Auch wenn es während der Nazi-Zeit, wie oben angedeutet, eine quantitativ erkleckliche Produktion von deutscher Kriminalliteratur gab (von einem „Krimi-Verbot“ im Nationalsozialismus kann man pauschal nicht sprechen, nur waren die Produktion und Rezeption sozusagen „gleichgeschaltet“ und streng gefiltert) war sie an den internationalen state of art nicht angeschlossen, weil die Import-Restriktionen vor allem die amerikanische und britische Reihe der sich seit den 1930er Jahren herausbildete hard-boiled-school trafen.

Diese Rezeptionsbarriere, die selbstverständlich auch produktionsästhetische Auswirkungen hatte, durchbrach der aus dem Londoner Exil zurückgekehrte Karl Anders (der u.a. über die Nürnberger Prozesse berichtet hatte und später einer der Geschäftsführer der  „Frankfurter Rundschau“ war) mit seinem Nest- resp. Krähen Verlag[14]. Dort erschienen zum ersten Mal auf Deutsch die Werke von Raymond Chandler, Dashiell Hammett, Eric Ambler und anderen wichtigen Autoren, weil Karl Anders der Meinung war, Literatur dieses Zuschnitts, Demokratie und Politik gehörten zusammen. Das kulturpolitische Klima indes hatte sich nicht wesentlich geändert. Auch im literarischen Feld machte sich die „deutsche Kontinuität“ bemerkbar, ein Paradebeispiel für dessen „agonale Struktur“. Zur Feld-Metapher passend rief der Bibliothekar und Kulturpolitiker Wilhelm Müller in der einflussreichen Bibliotheksfachzeitschrift „Bücherei und Bildung“ zum quasi bewaffneten Kampf gegen „unmoralische Kriminalromane“ auf, die an der „unteren Grenze“ des literarischen Felds angesiedelt seien. „Zur Topographie der Unteren Grenze“ nannte er seinen Aufsatz, in dem er tatsächlich dazu aufrief, „von der Waffe Gebrauch zu machen“[15], um diese Sorte Kriminalliteratur zu verhindern. Der Konter kam zwei Jahre später.

1953 erschien Fritz Woelckens Pionier-Studie „Der literarische Mord. Eine Untersuchung über die englische und amerikanische Kriminalliteratur“[16]. Das von der Deutschen Forschungsgemeinschaft subventionierte Buch (hoher Prestige-Quotient) nahm das unter erheblichem Trivialverdacht stehende Genre aus den üblichen Forschungsparametern der Volkskunde und Buchwissenschaften heraus und diskutierte es unter genuin literaturwissenschaftlich argumentierenden Aspekten. Auch wenn heute Woelckens Buch weitgehend in Vergessenheit geraten ist, hat es doch seinen erheblichen Anteil an einer Positionsveränderung von Kriminalliteratur im Feld.

Die deutschsprachige Produktion blieb aber bis in die 1960er Jahre weiterhin fragmentiert. Autoren wie Frank Arnau und andere lieferten serielle Produkte, die aufkommende Heftchen-Industrie orientierte sich, ohne je originell oder innovativ zu sein, an dem zunehmend britischen und amerikanischen Geschmack, der zunehmend alle Sektoren der Populären Kultur beeinflusste. Ein Politthriller wie „Es muss nicht immer Kaviar ein“ (1960) von Johannes Mario Simmel war eine singuläre Erscheinung. In den 1960er Jahren keimte und formierte sich allerdings die erste Strömung, die man als „eigenständige“ deutschsprachige Kriminalliteratur bezeichnen konnte. Bekannt wurde diese Strömung als deutscher „Soziokrimi“. Allerdings stand auch da ein ausländisches Konzept Pate. Der Soziokrimi, mit den bekanntesten Protagonisten wie –ky, Hansjörg Martin, Friedhelm Werremeier, Fred Breinersdorfer, Jürgen Alberts, oder Irene Rodrian (auch hier soll nicht die Stichhaltigkeit dieser Gruppenbildung diskutiert werden, die nicht immer trennscharfe öffentliche Wahrnehmung schafft ihre eigenen Sortierungen), bezog sich mehr oder weniger explizit auf das zehnbändige Projekt des schwedischen Autoren-Duos Maj Sjöwall und Per Wahlöö, die in ihrem später so genannten „Martin-Beck“-Zyklus eine Art kriminalliterarisch verarbeiteter Bestandsaufnahme der schwedischen Gesellschaft während eines Jahrzehnts (1965 – 1975) leisten wollten.

Um die Unmöglichkeit nationalliterarischer Betrachtung an dieser Stelle noch einmal zu unterstreichen: Sjöwall/Wahlöö hatten ihr Projekt an die seit 1952 regelmäßig erscheinenden Romanen um das 87th Precinct der fiktiven Stadt Isola angelehnt, in dem der Amerikaner Ed McBain eine Art comédie humaine von New York City in 55 Romanen schrieb. Die beiden Schweden modifizierten McBains Vorlage, in dem sie die soziologisch-kritische Analyse der gesellschaftlichen Verhältnisse zur Dominante ihrer Romane machten. Die deutschen Autoren des Soziokrimis transponierten dieses Prinzip auf deutsche Verhältnisse und nahmen sich die deutschen Städte und Provinzen als Schauplätze des alltäglichen Verbrechens vor. Man könnte sogar sagen, dass damit schon der Keim für die Regionalisierung der deutschen Kriminalliteratur seit den späten 1990er Jahren eingepflanzt war.

Aber vornehmlich stand am Anfang der Gedanke im Vordergrund, dass ein populäres Genre kombiniert mit Gesellschaftskritik ein ausgezeichnetes, womöglich breitenwirksames Organon in aufklärerischer Absicht sei. Bei den (damals noch) meinungsbildenden Feuilletons der großen Zeitungen und anderen Multiplikatoren, also gewichtige Vektoren im literarischen Feld, allerdings schien diese Neuausrichtung der deutschen Kriminalliteratur wenig zu beeindrucken. Man kann dies als Konsequenz der oft vorhandenen Lücke zwischen gutgemeinter Intention und deren ästhetischer Ausfaltung verstehen. Man kann aber auch darin antagonistische Aspekte sehen, einen beginnenden Abwehrkampf überkommener bildungsbürgerlicher Vorstellungen von „Kultur“, denen die zunehmende Popularität eines allgemein noch als trivial eingeschätzten Genres suspekt war. Eine gewichtige Rolle dabei spielten zunehmend die Fernseh-Krimis, deren Siegeszug bis heute anhält.

Frühe Konzepte wie „Stahlnetz“ versuchten schon deutsche Realitäten „authentisch“ in die wesentlich polizeifromme Handlung einzubeziehen, die berühmten Dreiteiler („Das Halstuch“ usw.) nach Vorlagen des Engländers Francis Durbridge waren die „Straßenfeger“ ihrer Zeit. „Der Kommissar“ aus der Feder des Ex-SS-Kriegsberichterstatters Herbert Reinecker versicherte auf dem prominentesten Sendeplatz (ZDF, freitags um 20:15h), dass Verbrechen von tüchtigen Polizisten grundsätzlich aufklärbar waren und dass der modernen Gesellschaft der moralische Kompass bedauerlicherweise abhandengekommen sei. Crime fiction, zunehmend auch als Hörspiel und im Kino als „Edgar-Wallace“-Filme beliebt, formierte sich zu einem auch wirtschaftlich interessanten Faktor. Es war aber vor allem das Flaggschiff-Projekt der ARD, der „Tatort“, der seit 1970 schon die Regionalisierung der deutschen crime fiction präformierte und zudem Konzept-Elemente des „Sozio-Krimis“ übernahm, was programmatisch an der Personalie des allerersten „Tatorts“ sichtbar wurde – er wurde vom oben genannten Friedhelm Werremeier geschrieben, dessen gesellschaftskritischen Intentionen schon am Stoff seiner Romane ablesbar sind: White-Collar-Kriminalität, Deutsch-Deutsche Verhältnisse, Medienmacht, die deutsche Nachkriegs-Justiz. Die Medien-Kritik, traditionellerweise via Kino näher an populärer Kultur, nahm sich des Fernsehkrimis zügiger   an, die Literaturkritik blieb zögerlich. 

Obwohl wieder nobilitierende Kräfte aufs literarische Feld einwirkten. 1968 erschien in der „Zeit“ der zweiteilige Aufsatz des renommierten Germanisten Richard Alewyn, der fünfzehn Jahre nach Woelckens Buch, erneut einen genuin literaturwissenschaftlichen Ansatz zur Behandlung von Kriminalliteratur forcierte. Seine „Anatomie des Detektivromans“[17] schrieb die oft zitierte Differenz zwischen „Detektivroman“ und „Kriminalroman“ fest (um die gattungstheoretische Driftigkeit dieser Unterscheidung geht es hier nicht), beschränkte sich dabei aber wesentlich auf ausländische Beispiele. Aber Kriminalliteratur erscheint bei ihm manifest als eigenständige, mit den Werkzeugen der Ästhetik zu analysierende Spielart von Literatur. Vor allem der Druckort, die „Zeit“, verbesserte die Position der Kriminalliteratur im Feld erheblich. 1971 erschien dann in dem damals führenden geisteswissenschaftlichen Verlag, dem Wilhelm Fink Verlag, Jochen Vogts bis heute unverzichtbare Sekundärtextsammlung „Der Kriminalroman“[18] in zwei wohlfeilen Bänden der UTB-Reihe. Vogt öffnete damit den Wahrnehmungsrahmen, in dem er dezidiert auf den internationalen Diskurs über Kriminalliteratur hinwies und zeigte, dass es vom Russischen Formalismus bis zu damals neuen kultursemiotischen Ansätzen (bei Umberto Eco, zum Beispiel) eine breite Beschäftigung mit Kriminalliteratur in allen ihren Aspekten schon  längst gab. 

Helmuth Heißenbüttel schlug eine andere Bresche. In seinen Aufsätzen zur Kriminalliteratur[19] zeigte er weitere Ansatzmöglichkeiten zum Umgang mit dem Genre auf, indem er zum Beispiel die Anschlussmöglichkeiten des Genres an den französischen nouveau roman und andere Formen der Pop Art betonte.  

Aber die Achillesferse blieb vorerst: Weder der Soziokrimi noch die sekundärliterarischen/essayistischen Bemühungen halfen, den deutschen Kriminalroman mit genügend symbolischen Kapital auszustatten, das ihm mehr als eine randständige Position im literarischen Feld garantiert hätte. Einzelwerke, die außerhalb des Soziokrimis und der üblichen run-of-the-mill-Produktion gleichzeitiger, aber unzeitgemäßer Krimis standen, also namentlich die von Ulf Miehe und Jörg Fauser, die sich an die französische Tradition des roman noir, bzw. der amerikanischen hard-boiled novel anschlossen, konnten zwar als Einzelstücke ein gewisses Renommee gewinnen (was sich im Fall Ulf Miehe in seinem großen Erfolg auf dem amerikanischen Markt, damals eine Sensation, niederschlug), standen aber zurecht nie paradigmatisch für einen irgendwie korporierten „deutschen Kriminalroman“.  

Mit „deutscher Kriminalroman“, um diesen Aspekt wenigstens ganz kurz zu streifen, ist hauptsächlich der bundesrepublikanische Kriminalroman mit Seitenblicken nach Österreich und in die Schweiz gemeint. Um den Kriminalroman der DDR zu behandeln, der bis zur „Wende“ mit der westdeutschen Szene ähnlichen transmedialen Interdependenzen („Polizeiruf“, „Blaulicht“ u.ä.) ein breites Publikum hatte, müsste eine spezialisierte Diskussion[20]geführt werden, die sich vor allem mit einem schwerwiegenden methodischen Problem zu befassen hätte: Mit der Frage, ob man angesichts der zentral gesteuerten Kultur- und Literaturpolitik der DDR, überhaupt von einem „literarischen Feld“ reden kann, auf das verschiedene Vektoren frei einwirken können. Umso problematischer, als es eine Art Samisdat-Kriminalliteratur mit radikal-subversiven Zügen in der DDR nicht gab. Auch nach dem Ende der DDR tauchten kaum schon geschriebene, aber von der Zensur unterdrückte oder verheimlichte kriminalliterarische Texte auf, wie dies zum Beispiel im franquistischen Spanien war, nach dessen Ende, in der transición, die Blütezeit der novela negra ausbrach, deren Dynamik sich der Opposition zur Diktatur verdankte, rezeptiv und produktiv. Im Falle der DDR integrierten sich viele Autoren ohne Probleme in den gesamtdeutschen Markt, auch wenn eine gewisse Ost-West-Trennung, die sich auch von den Standorten der Verlage und aus allgemeinen wirtschaftlichen Verwerfungen herleitet, zu beobachten ist. Aus allen diesen komplizierten Gründen muss ich hier diesen Aspekt Spezialstudien überlassen.

Man könnte, cum grano salis, sagen, dass eine erfolgreiche und zentrale Positionierung eines Genres im literarischen Feld in dem Moment erfolgt, wenn mehrere starke Vektoren sozusagen gleichgerichtet ihre Wirkung entfalten. Leseöffentlichkeit, Publizistik und Wissenschaft sind solche Vektoren. Ende der 1980er, Anfang und Mitte der 1990er Jahre war es dann soweit. Deutsche Kriminalliteratur, repräsentiert von Autoren wie Jakob Arjouni und Pieke Biermann[21] erzielten nicht nur für das Genre ungewöhnliche Verkaufszahlen im sechsstelligen Bereich (außerhalb der üblichen Bestsellerformate), wurden von den Feuilletons der „Leitmedien“ beachtet, wurden Gegenstand wissenschaftlicher Arbeiten und wurden, auch das ein nicht zu unterschätzender Faktor bei der Akkumulation symbolischen Kapitals, in verschiedene Sprachen übersetzt. Flankiert wurden in jenen Jahren – eine Periodisierung ist schwierig, weil sich diese Zeitachse bis in die 2000er fortsetzt –   diese Neuorientierung durch eine Menge internationaler Romane, die zunehmend die formalen Korsette des Genres (auch da stellt sich die hier abermals nicht zu diskutierende Frage, ob die Rede von „formalen Korsetten“ der Kriminalliteratur seit Hammett wirklich sinnvoll ist) ist.

Zu nennen wären in diesem Zusammenhang Namen wie Joseph Wambaugh, Jerome Charyn, Paco Ignacio Taibo II, William Marshall, Walter Mosley, Jerry Oster, Derek Raymond, Liza Cody, Jean-Patrick Manchette, Helen Zahavi, Jean-Claude Izzo, Rubem Fonseca, Patricía Melo und viele andere, deren Werke, wenn auch, wie im Fall Manchettes, manchmal mit erheblicher Verspätung, in Deutschland ankamen. Sie alle waren mehr oder weniger Solitäre mit sehr eigenen poetologischen und ästhetischen Konzeptionen, nicht traditionslos, aber eher im dialogisch-kritischen Verhältnis zu ihren jeweiligen Genre-Traditionen stehend. Gemeinsam ist ihnen aber auch, dass sie die Verfahren modernen und postmodernen Erzählens – Polyphonie, Fraktalisierung, Vermischung von Textsorten, Verzicht auf den psychologischen Realismus des 19. Jahrhunderts, um nur ein paar zu nennen -, mit den Plots und Themen kombinierten, um die es in der Kriminalliteratur per definitionem geht. Zusammengedacht mit ihren deutschen Kollegen, zu denen sich im Laufe der Zeit noch Autoren mit ebenfalls singulären Konzepten wie Frank Göhre, Friedrich Ani, Heinrich Steinfest, Wolf Haas und andere gesellt haben, entsteht so ein zwar in sich disparates Textkorpus, das aber gerade – paradoxerweise – durch diese Disparität seine Konsistenz erhält.  Ob es die geballte Kraft dieser nationalen und internationalen „New Wave“ der crime fiction war oder ob die einen als Zugpferd für die anderen dienten, ist vermutlich nicht auseinander zu differenzieren. Wohl aber besetzte die Kriminalliteratur nunmehr eine zentralere Position im literarischen Feld, als sie jemals vorher innehatte. Mit anderen Worten: Sie war, obwohl immer noch Genre (ungeachtet hilfloser Konstruktionen wie „…mehr als ein Krimi“ oder „literarischer Kriminalroman“) zum state of art geworden. Und damit zu einem ernsthaften Konkurrenten der „seriösen“ Literatur. Sie mit ästhetischen Argumenten zu marginalisieren, war nicht mehr möglich. 

Wo Konkurrenz aufkommt, regen sich Abwehrkräfte. Die aber können in völlig unterschiedlicher Form auftreten und müssen auch nicht auf den ersten Blick als solche erkennbar sein. Gerade bei den folgenden Überlegungen zum kriminalliterarischen Status quo im literarischen Feld, kann man die „unterschiedlichen Kräfte“ und ihre unterschiedlichen Gerichtetheiten gut beobachten.

In den 2000er und 2010er Jahren ändert sich das Bild radikal. Manche Entwicklungen, die in den 1990er Jahren schon angelegt waren, reichen bis in die Gegenwart. Die Öffnung der Feuilletons zum Beispiel, die sich mehr oder weniger regelmäßige „Krimi Specials“ leisten oder wie die „Zeit“ sogar eine „Krimi-Bestenliste“, die vielgesehene „Kultur Zeit“ auf 3Sat hat Krimi-Tipps als feste Rubrik im Sendeschema, Akademia produziert Magisterarbeiten und Dissertationen zum Thema zuhauf. Verlage mit hohem literarischem Prestige wie Suhrkamp oder Hanser/Zsolnay sind im kriminalliterarischen Geschäft aktiv geworden. So etwas stärkt zunächst die Position der Kriminalliteratur im Feld erheblich. Aber bei genauerem Hinsehen und abseits der unbehaglichen Frage, wie es denn um die fachliche Kompetenz solcher Unternehmungen steht, kann man jedoch die Separierung von „Krimi“ in knappe Kolumnen und Specials auch als notfalls contre-cœur-Reaktionen auf den wirtschaftlichen Boom der Kriminalliteratur verstehen, der gerade für das Anzeigengeschäft der Printmedien nicht zu ignorieren ist. Im universitären Bereich sind Habilitationsschriften zum Thema immer noch eher selten, die Beschäftigung mit Kriminalliteratur ist karriere- und forschungsstrategisch (Stichwort: Drittmittel) gesehen immer noch „exzentrisch“. Institutionalisierte Forschungseinrichtungen (wie zum Beispiel Lehrstühle) zur Kriminalliteratur gibt es (zurzeit noch) nicht. 

Anders sieht es in der Leseöffentlichkeit und damit im ökonomischen Bereich aus. Im Moment ist beinahe jedes dritte verkaufte Buch (aktuell ist die Zahl leicht rückläufig) als „Kriminalroman“ oder „Thriller“ gelabelt. Täglich sind im Fernsehen weit über 30 Krimi-Serien zu sehen, der DVD- und Neue-Medien-Serien-Markt verzeichnet einen erheblichen Ausstoß an krimi-affinen Stoffen. Krimi-Hörspiele (darunter die ARD-Reihe „Radio Tatort“) sind epidemisch. Krimi-Events wie das „Münchner Krimifestival“ oder die Veranstaltungsreihe „Mord am Hellweg“ gehören zu den größten literarischen Veranstaltungen überhaupt. „Krimi-Dinners“ und Krimi-Rollenspiele sind überall ausgebucht. Pro Monat erscheinen ca. 200 neue Kriminalromane und Anthologien in deutschsprachigen Verlagen.  Auf den Bestseller-Listen tummeln sich seit Jahren regelmäßig „Kriminalromane“ von Nele Neuhaus, Klaus-Peter Wolf, Charlotte Link, Bernhard Aichner und anderen deutschsprachigen Autoren, aber nur noch sehr selten die Autoren, die wir oben für die 1990er Jahre genannt haben. Ein kurzer historischer Rückblick kann das vielleicht plausibel machen: Die mit avancierteren literarischen Verfahren arbeitenden Texte hatten für erhebliches kulturelles Prestige im Feld gesorgt. Auch wenn sie zeitweise erfolgreich waren, wandte sich das breite Lesepublikum doch lieber wieder eher schlichten, ästhetisch eher der Prämoderne verpflichteten Ausprägungen zu. Die Einfallswinkel dafür waren die Bücher von Donna Leon und die Wallander-Romane von Henning Mankell.

Am Fall Donna Leon lässt sich prototypisch ein ökonomisch gelungener Image-Transfer beobachten: Der Zürcher Diogenes Verlag, in dem ihre Werke im deutschsprachigen Raum (nur dort ist sie eine wirkliche Größe) erscheinen, hatte jahrzehntelang mit der Edition von Autoren wie Georges Simenon, Patricia Highsmith, Eric Ambler, Raymond Chandler oder Dashiell Hammett und Newcomern wie Jakob Arjouni das Prestige erworben, ein hochkompetenter Verlag für qualitativ ausgezeichnete Kriminalliteratur zu sein. Auf der Basis dieses hohen Glaubwürdigkeitsquotienten konnte man die ästhetisch und konzeptionell wesentlich schlichteren Werke von Donna Leon (und, in a way, Ingrid Noll) auf dem Markt lancieren, die natürlich wesentlich höhere Verkaufszahlen generierten. Dass mittlerweile einer der Garanten des Qualitätsimages, Eric Ambler, aus dem Verlagsprogramm genommen wurde, ist eine der vielen Ironien des Geschäfts, aber das nur am Rande. Man soll nicht spekulieren, aber die Vermutung, dass zumindest am Anfang ein im Vergleich zu den ästhetischen und epistemologischen Möglichkeiten des Kriminalromans im Grunde regressives Konzept wie das von Donna Leon an einem anderen Erscheinungsort nicht so einfach hätte passieren können. Ähnliches gilt für Henning Mankell, dessen erste Wallander-Romane in Deutschland in einem obskuren Fachverlag für Medizin-Themen erschienen. Erst die Nobilitierung durch den Verlagsort Hanser/Zsolnay stattete diese Romane mit dem Prestige des Literarischen aus, das durch die schlichte Prosa kaum gedeckt ist. Mankell, der seinerseits wieder als Qualitätsgarant für die ganze Welle der nordischen Krimis gilt (dass die unter anderem auch durch die clevere Subventionspolitik der nordischen Staaten am Leben gehalten wurde, indem sie sie verlagskalkulatorisch als „Schweden-Krimis“ – ob wirklich aus Schweden oder nicht – attraktiv machten, ist in der Öffentlichkeit nicht sichtbar). Auch Bestseller-Phänomene wie Stieg Larsson oder Jussi Adler-Olson profitieren noch heute vom „Wallander“-Faktor. Für unsere Überlegungen wichtig ist dabei der Umstand, dass solche gelungenen Image-Transfers wesentlich zu einer Popularisierung des Genres beigetragen haben, die gleichzeitig einen Rückschritt zu einfacheren Formen des Erzählens und damit auch der epistemologischen Implikationen hatte. Für unser Sub-Thema der antagonistischen Vektoren im Feld heißt das: Die auf einfachen Ausprägungen basierte Popularität des Genres bedeutet ein erhebliches Plus an „Aufmerksamkeit“, gleichzeitig aber ein Minus an ästhetischem Prestige. So lässt sich etwa die Dialektik erklären, warum Kriminalliteratur gleichzeitig hohe mediale Aufmerksamkeit bekommt und im selben Medium mit kalter Verachtung gestraft wird. Einzelanalysen von FAZ, SZDie Zeit oder sogar taz – die sich allerdings auf Qualitäts- und Kompetenzkriterien im Umgang mit Kriminalliteratur stützen müssten -, könnten diesen Verdacht vermutlich leicht belegen.

Die aktuelle massenhafte (Über-)Produktion von Kriminalromanen – vermutlich hat es eine solche Aufheizung eines Marktsegmentes noch nie zuvor gegeben – , die auch eine große Menge Werke deutscher Autoren beinhaltet (im „Syndikat“, der berufsständischen Vereinigung bei weitem nicht aller deutscher Kriminalschriftstellerinnen und –schriftsteller, sind allein ca. 800 Mitglieder registriert), lässt sich grob in folgende Spielarten einteilen:

Der „Regio-Krimi“ oder als „Regio-Krimi“ vermarktete Bücher. Angesiedelt in einer genauen, kleinteilig definierten Region („Mosel“, „Eifel“, „Usedom“ etc.) sind diese Produkte formal schwer zu beschreiben. Diese Regionen sind meistens von den marktführenden Verlagen (Emons, Gmeiner, KBV, Grafit, Leda) nach deren touristischer Attraktivität ausgewählt und werden im Zuge lokaler Events („Krimifestival Vogtland“) auch schwerpunktmäßig vermarktet. Sie unterscheiden sich vor allem in ihren Para- und Epitexten, in ihrem production design und ihrem Erscheinungsort von Kriminalromanen mit topographischem Bezug (Ian Rankin und Edinburgh, Chandler und Los Angeles, Jerome Charyn und New York City), der selbstverständlich schon immer für Kriminalliteratur essentiell war. Auch hier wieder ein, wenn auch banaler, Imagetransfer: Wenn Raymond Chandler „Los Angeles“ schreibt, warum soll nicht eine Gabriele Wollenhaupt den „Ruhrpott“ schreiben? Man kann natürlich versucht sein, selbst aus solchen formatierten Produkten eine in der Tat sehr kleinteilige und sehr limitierte „Ethnographie“ des deutschsprachigen Raums abzuleiten. 

Der im Verlagsjargon so genannte „Schenkelklopfer“. Dabei handelt es sich meistens um in ländlichen Gegenden (Allgäu etc.) angesiedelte Romane, deren Brachialhumor die kriminalliterarischen Elemente bewusst überwölben. Rita Falk oder das Duo Kobr/Klüpfel sind mit Millionen verkaufter Titel die Marktführer in diesem Bereich. Ableitungen davon sind „lustige Krimis“, mit Anthologie-Titel wie „Mördchen fürs Örtchen“ oder „Mörderische Mandelhörnchen“ oder noch absurdere Varianten wie Tier-Detektiv-Krimis (mit Schaf-, Schwein-, Kakerlak- oder Schildkröt-Detektiven), die erstaunlicherweise nicht als „Kinder-Krimis“ rubrizierbar sind, nebst anderen verkaufsträchtigen Formeln wie „Garten“- oder „Gemüse“-Krimis. 

Der „Thriller“. Obwohl es keinen literaturwissenschaftlich konsensfähigen Begriff dafür gibt, was ein Thriller sei, hat dennoch eine umgangssprachliche Verschiebung stattgefunden. Besonders deutlich wird das am Kompositum des „Psycho-Thrillers“.  Lange Zeit verstand man darunter ansonsten schwer rubrizierbare Romane, die zwar deutlich der Spannungsliteratur zuzuordnen waren, aber keinen bestimmten narrativen Konventionen folgen mussten, dabei aber deutliche mörderische Dispositionen ihrer Hauptfiguren und deren narrative Zergliederung zum Thema hatten. Paradigmatisch dafür sollen einfach die Namen Patricia Highsmith, Margaret Millar oder Masako Togawa stehen. Heute reicht die Anwesenheit eines „Psychopathen“, eines irren Serial-Killers, um eine schnelle Verständigung über den gemeinten Typus von Buch zu erzielen. So gedachte „Thriller“ können auch Forensiker, Gerichtsmediziner oder andere Kriminologen als Hauptfiguren haben, die sich mit den Resultaten des Wirkens von Serienmördern befassen. Meistens mischen sich solche Texte nicht in aktuelle Diskurse, sondern begnügen sich mit der einlässlichen Schilderung „autotelischer“ Gewalt (nach Jan Philip Reemtsma[22]). Patricia Cornwell, Thomas Harris, Mo Hayder oder Karin Slaughter liefern solche Ware am Fließband, deutsche Autoren wie Sebastian Fitzek, Wulf Dorn oder Veit Etzold bedienen den nationalen Markt mit großem, bis sehr großem Erfolg. Bis auf ein paar Ausnahmen (Thomas Harris und seine Hannibal-Lecter-Romane etwa) spielen solche Texte kaum eine Rolle im Diskurs über Kriminalroman, haben dafür aber einen hohen Aufmerksamkeitsquotienten in der ganz breiten Leseöffentlichkeit.

„Bestseller in Krimi-Aufmachung“.  Gemeint sind damit Texte der schon erwähnten Charlotte Link oder Nele Neuhaus. Die Krimi-Affinität dieser Sorte ist eher gering, das Label „Kriminalroman“ oder „Thriller“ richtet sich nach der Hauptströmung eines vermuteten Publikumsgeschmacks. Ansonsten finden sich dort, bei Nele Neuhaus ganz deutlich, Elemente des Liebesromans oder ähnlicher serieller Produkte: Pferde, Adel, High Society in nicht kritischer Absicht. Pointiert gesagt sind sie das Resultat einer grundsätzlichen Verschiebung auf dem Buchmarkt. Die Aufwertung dessen, was früher „Heftchenromane“ gewesen wären, durch bessere Aufmachung (Hardcover) und Marketing-Etats. Die Zielgruppe ihrer Aufmerksamkeitsstrategie ist vor allem die breite Öffentlichkeit, wobei man darunter in diesem Fall vornehmlich eine weibliche Leserschaft vermuten darf. Ihre Position im Feld wäre ganz deutlich im Sektor „kommerziell“ anzusiedeln.

Die hier aufgezählte Art von Texten (natürlich sind sie nur ganz flüchtig skizziert) decken geschätzt zirka 70% der aktuellen kriminalliterarischen Produktion ab; präzisere, nach Sparten aufgeschlüsselte Statistiken gibt es nicht.

Die restlichen ca. 30% bestehen aus Ermittlerkrimi, politischem Kriminalroman, Polit-Thriller, Privatdetektivroman, hard-boiled novel, roman noir, legal thriller, Gangsterroman und anderen Sub-Sortierungen. Im Falle der Ermittlerkrimis – ein Behelfsbegriff, um die Mischung aus cop novel und police procedural mit zu denken, zwei Kategorien, die nicht immer reinlich zu unterscheiden sind – entsprechen sie dem traditionellen vorbegrifflichen Verständnis dessen, was ein Kriminalroman zu sein hat. Oder ein Krimi. Sie sind durch das „Genre-Wissen“ (besser: „gefühltes Genre-Wissen“) des Publikums vorgeprägt. Und nur transmedial zu verstehen. Besonders die deutschen Ermittlerromane folgen gerne den populären Fernsehserien. Deswegen ermitteln ein Team von Polizisten, oft auch ein Duo aus Chef und Assistent(in), hilfreich unterstützt von Gerichtsmedizinern, Forensikern oder Kriminalpsychologen. Diese personelle Konstellation, die sich durch den deutschen Fernsehkrimi seit dem „Kommissar“ zieht und mit dem riesigen Erfolg des „Tatort“ schon fast kanonisch festgeschrieben ist, dominiert viele Prosa-Narrative. Tatsächlich muss man inzwischen vermuten, dass das Publikum und viele Autoren diese fiktive Fernsehrealität (gerade der „Tatort“ legt behauptetermaßen auf seinen „Realismus“ großen Wert, obwohl die dort geschilderte Polizeiarbeit an der Wirklichkeit gemessen, extrem „unrealistisch“ ist und fast alle Figuren im echten Leben nach zwei Minuten aus dem Beamtenverhältnis entlassen würden) mit der Realität von Ermittlungsarbeit verwechseln. Als Argument der Produzenten wird immer wieder ins Feld geführt, dass „die Wirklichkeit“ mit ihren gesetzlich geregelten Verfahren für die Fernseh- und Filmdramaturgie ungeeignet und deswegen langweilig sei. Natürlich haben ausländische Serien wie „Homicide“ oder „The Wire“ längst brillante dramaturgische Alternativen im Umgang mit polizeilichen Verfahrensweisen demonstriert, aber das Paradigma in Deutschland hält eisern (auch hier bestätigen Ausnahmen die Regel). Für uns an dieser Stelle interessant ist die Kraft dieser Art  transmedialer Kriminalnarrative, durch die Massivität ihrer Dauerpräsenz und die immer wieder repetierten Grundmuster eine Art fiktionale Gegenwelt zu entwerfen, die für realistischer als die Realität gehalten wird. Für Narratologen wie Albrecht Koschorke[23], die an der grundsätzlichen Durchdringung fiktionaler und nichtfiktionaler Narrative interessiert sind, ein ideales Feld, um die Mechanismen unserer Realitätswahrnehmung zu untersuchen. Denn diese Ermittlernarrative prägen, eben weil sie sich realistisch gebärden, nicht nur das Verständnis dessen, was ein Kriminalroman ist, sondern auch Verständnisse von Polizei (die Ermittler sind grundsätzlich gut, wenn auch manchmal problematische Charaktere), von dem, was Polizei darf und nicht darf und vor allem auch das Bild von Verbrechen, das man narrativ in der Klammer von „Fall“ und „Aufklärung“ bekämpfen kann. Wenn der Verdacht nicht ganz falsch ist, dass die simulierte Realität, weit über die Grenzen dessen, was man noch als „Genre-Wissen“ bezeichnen kann, die Wirklichkeit und die Handlungsoptionen in dieser Wirklichkeit zumindest modellieren kann, dann wären diese Narrative aus dem literarischen Feld herausge- und hätten das „gesellschaftliche Feld“ betreten.

Zurück zum literarischen Feld. Kriminalromane jeder Couleur, die auf das Konzept des Verbrechens als lösbaren Einzelfall verzichten und es als ein für alle Gesellschaften konstitutives Kontinuum begreifen und sich eher an Fritz Breithaupts Überlegung orientieren, dass die „Welt, die sich den Menschen nach der Vertreibung aus dem Paradies auftut, (..) eine Welt der narrativen Mehrdeutigkeit“[24] ist, als dass sie affirmative ordnungspolitische Positionen und offizielle Sichtweisen einnehmen, haben es schwerer. Der Verzicht auf Sinnstiftung, wozu auch der Topos des „Alles-wird-gut“ gehört, also viele romans noirs der internationalen Reihe (Derek Raymond, Jean-Patrick Manchette), viele Polit-Thriller der subversiven Klasse (Ross Thomas, Robert Littell, Eric Ambler) und viele politische Kriminalromane (D.B. Blettenberg, Merle Kröger, Zoë Beck, Lena Blaudez, Martin Burckhardt) stehen in der Gunst eines breiten Publikums, dass sich eher evasive Literatur wünscht, in bedeutend geringerem Ansehen. Dafür ist ihr literarisches und intellektuelles Prestige entschieden höher. Im literarischen Feld müsste man sich ihre Position zweigeteilt oder zwischen diesen beiden Polen oszillierend vorstellen. Das aber sagt noch nichts über die Position der einzelnen Autoren. So hat zum Beispiel Zoë Beck, wie man an ihrer literarischen Karriere verfolgen kann, den Weg aus dem „kommerziellen“ Sektor in den Sektor hohen literarischen Prestiges geschafft – ablesbar an ihren Stationen Bastei-Lübbe (geringes literarisches Prestige) über Heyne (mittleres Prestige) zu Suhrkamp (hohes Prestige)[25].

Aktuell lässt sich auch folgendes beobachten: Ungeachtet der genauer fixierbaren  Position „der Kriminalliteratur“  (was „die deutsche Kriminalliteratur“ impliziert) im Feld, hat sie sich als fester Mitspieler dort etabliert. Der Kampf um ihre Position dort ist kein grundsätzlicher Kampf mehr, sondern hauptsächlich ein Kampf um ihren Prestigewert. Auf den Markt übertragen, könnte man das als „freundliches Klima“ für das Genre übersetzen, wobei man umgekehrt das „Klima“ als einen Vektor im literarischen Feld ergänzen könnte. Dieses Klima erlaubt auch, kleinen und kleinsten Verlagen mit hohem Prestigewert, aber ohne ökonomische Kraft, Aufmerksamkeit zu gewinnen, wie man das bei Pulp Master, dem Alexander Verlag, dem Ariadne Verlag oder dem Polar Verlag feststellen kann. Dass dabei auch deutsche Autoren wie Miron Zownir oder Merle Kröger profitieren können, darf man zumindest vermuten.

Dies ist die eine Seite der kriminalliterarischen Konjunktur der 2010er Jahre. Die andere Seite droht das Prestige von „Kriminalliteratur“ zu verspielen. Die Produktion von einschlägigen Texten droht immer mehr unter das Diktat des „betriebswirtschaftlichen  Paradigmas“ zu geraten. Zumindest dort, wo das ökomische Interesse alle anderen Überlegungen dominiert. Es ist nicht neu, dass „Erfolgsmodelle“ nachgebaut werden, auf jeden Bestseller folgten dessen Klone, in der Verlagsbranche ein altes Spiel und beileibe nicht auf Genre-Literatur beschränkt.  Aber die Rede vom „Kriminalroman“ als „Form“ (ein großes Missverständnis der Literaturwissenschaften, die Erzählkonventionen mit „Form“ verwechseln, und ein Forschungsdesiderat, nebenbei bemerkt) legte es nahe, die „Form“ durch möglichst kleinteiliges Formatieren präziser auf den vermuteten oder unterstellten Geschmack eines möglichst breiten Lesepublikums hin zu „optimieren“. Solange IT-Programme, gestützt auf big data, die sich aus analysierbaren E-Book-Lesegewohnheiten speisen, noch nicht ausgereift sind (was in letzter Konsequenz heißt, dass man für jeden Kunden ein auf sein persönliches Leseverhalten zugeschnittenes Buch generieren kann), übernehmen die Marketing-Abteilungen diese Kleinstrukturierungen. Nicht mehr ein Erfolgstitel wird kloniert (Dan Brown ist dafür ein gutes Beispiel oder die Welle der „Öko“-Thriller im Gefolge von Frank Schätzings „Der Schwarm“), sondern einzelne, als besonders verkaufsträchtig eingeschätzte Elemente werden kombiniert, als störend oder verstörend eingeschätzte Elemente schon vor dem Produktionsprozess ausgeschlossen. Den Konzernverlagen (und dem Kettenbuchhandel, der mit der Forderung nach immer mehr „optimierten“ Produkten in die Verlagsprogramme hineinregiert) arbeiten „Schreibschulen“ und ähnliche Unternehmungen zu, die ein Regelwerk von „geht“ in einem Kriminalroman oder „geht nicht“ erstellen, das nicht mehr von ästhetischen, poetologischen oder erkenntnistheoretischen Erwägungen geleitet wird, sondern von rein betriebswirtschaftlichen. Ob solche Dynamiken mit Beschreibungen, die sich auf die (dann reichlich naive) Annahme eines „literarischen Feldes“ stützen, überhaupt in den Griff zu bekommen sind, darf man durchaus skeptisch sehen.

Überhaupt darf man vermuten, dass sich in den Zeiten der Gärung, die im Moment sowohl auf der Produktions- als auch auf der Rezeptionsseite stattfindet, sich die ganze kriminalliterarische Landschaft verändern wird. Einen großen Anteil daran hat die Rolle des Internets, mit seinen Fan-Foren und spezialisierten Krimi-Portalen. An sich schreibt sich dort etwas fort, was es gerade im kriminalliterarischen Bereich schon immer gab. In den Jahrzehnten, als Kriminalliteratur von Publizistik und universitärer Forschung marginalisiert wurde (was man auch daran sehen kann, dass es nie ein verlässliches Nachschlagewerk zur Kriminalliteratur gab und noch immer nicht gibt und angesichts der neuen online-Verfügbarkeit von Information auch nie mehr geben wird, geschweige denn einen konsensfähigen Begriff, was denn das Genre genau sei), hatten mehr oder weniger nicht- oder semiprofessionelle Aficionados die philologischen Grundarbeiten erledigt, die Archivierung besorgt, das Genre-Gedächtnis am Leben gehalten – also alle die unspektakulären und kleinteilig mühsamen Arbeiten gemacht, für die im mainstream-Bereich die entsprechenden öffentlichen Institutionen zuständig waren. So entstand ein „disparates Archiv“[26], das zu größeren Teilen ins Internet umgezogen ist. Ein paar ernstzunehmende Internet-Feuilletons führen diese inzwischen mehr professionalisierte Tradition fort, eine Handvoll kompetente Blogs auf Niveau flankieren. Ihre Anzahl ist dennoch erstaunlich gering. Viel geringer als zum Beispiel die von Portalen und Communities (hauptsächlich auf Facebook), an denen gut zu beobachten ist, inwieweit das Marketing und die Werbeanstrengungen der Konzern-Verlage neue Leserschaften für ihre Produkte generiert resp. sichtbar werden lässt. Solche Communities und Portale, wenn sie nicht direkt und nicht unbedingt sichtbar von professionellen Agenturen für Virales Marketing im Auftrag zahlungskräftiger Verlage betrieben werden, werden inzwischen von vielen Verlagen prompter und reichhaltiger mit Material – Spiele, Verlosungen etc. – versehen als die klassischen Printmedien, denen Anzeigen entzogen werden. Im Gegenzug reagiert dieses Publikum mit dankbarer Lektüre noch der fragwürdigsten Produkte und der Ausblendung aller Texte, die nicht den vorgegebenen Formaten entsprechen. Literaturferne Texte für ein literaturfernes Publikum, könnte man polemisch sagen. Zumal sich dieses Publikum oft in Opposition zu dem angeblich herrschenden Geschmack der „Eliten“ (was immer damit gemeint sein mag) versteht. Es zeigt sich ein vermutlich schon immer existierendes, aber bis dato nicht sichtbares Publikum, das etwa Nele Neuhaus´ Trivialromane con Mord als „demokratisch/subversive“ Alternative zu komplexeren Texten mit höheren Kontextanforderungen, unbehaglichen „Weltbildern“ und ohne Identifikationspotential hält. Neu ist dabei, dass solche Positionen lautstark und mit scharfer Polemik (ein bisschen analog zu den post-truth-politics) vertreten werden.  Bemerkenswert auch die Ironie, dass eine solche kulturpolitische Demokratisierung (wir haben, wie Sie sehen, abermals das Feld gewechselt) ausgerechnet aus dem Geist und dem Interesse der guten, alten Kulturindustrie entstanden ist. Die „Dialektik der Aufklärung“ ist noch längst nicht obsolet geworden, au contraire.

Noch eine letzte Bemerkung: Die in den letzten Jahren entstehende Bewegung der „Selfpublisher“ überschwemmt vornehmlich den E-Book-Markt mit einer Flut von oft kriminalliterarischen Texten, die die Formatvorgaben in vorauseilendem Gehorsam (weil große Verlage in seltenen Fällen Selfpublisher rekrutieren und nach Wegen suchen, um auch diese Strömung profitorientiert zu integrieren) überschwemmen, denen der letzte Rest von Literarizität fehlt. Was aber macht man mit solchen Texten im „literarischen Feld“? Neue Kriterien für Literarizität erfinden? Oder das Feld selbst für obsolet erklären?

Die Kriminalliteratur hat auf dem antagonistisch bestimmten Feld nach fast zweihundert Jahren in gewisser Weise gesiegt.  Ob sie sich dabei zu Tode gesiegt hat oder sich neu formieren kann, wird die Zukunft zeigen.

Thomas Wörtche © 2020

Siehe auch den ersten Teil dieses Textes – in dieser Ausgabe.


[14] Dazu siehe Patrick Rössler: anders denken. Krähen-Krimis und Zeitprobleme: der Nest-Verlag von Karl Anders. Erfurt 2007.

[15] Wilhelm Müller: Zur Topographie der Unteren Grenze. In: Bücherei und Bildung 3/1951, S. 665 – 669.

[16] Fritz Woelcken: Der literarische Mord. Eine Untersuchung über die englische und amerikanische Kriminalliteratur“. Frankfurt am Main 1953 (E-Book-Neuausgabe Hamburg 2015).

[17] Richard Alewyn: Anatomie des Detektivromans. In: Die Zeit Nr. 47 und 48, 1968.

[18] Jochen Vogt (Hg): Der Kriminalroman I und II. Zur Theorie und Geschichte einer Gattung. München 1971. 

Eine neue, veränderte einbändige Fassung mit dem Untertitel: Poetik-Geschichte-Theorie erschien ebenda 1998.

[19] Etwa Helmut Heißenbüttel: Spielregeln des Kriminalromans. In: H.H.: Über Literatur. Olten und Freiburg/Breisgau 1966, S. 96 – 110.

[20] Siehe etwa Brigitte Kehrberg: Der Kriminalroman der DDR 1970 – 1990. Hamburg 1998.

[21] Besonders zu Pieke Biermann siehe Hoffmann, 2012, S. 168 – 204.

[22] Jan Philip Reemtsma: Vertrauen und Gewalt. Versuch über eine besondere Konstellation der Moderne. Hamburg, 2009, bes. S. 106ff.

[23 Albrecht Koschorke: Wahrheit und Erfindung. Grundzüge einer Allgemeinen Erzähltheorie. Frankfurt am Main 2012, besonders etwa S. 16 -19.

[24] Fritz Breithaupt: Kultur der Ausrede. Berlin  2012, S. 8.

[25] Ähnliche „Verlagskarrieren“ kann man für Friedrich Ani oder Heinrich Steinfest nachzeichnen.

[26] Hoffmann 2012, S. 82.

Editorische Notiz, TW: Habent fata sua … Entstanden ist dieser Text ca. 2014/2015 für den englischsprachigen Sammelband: Contemporary German Crime Fiction. A Companion. Ed. Thomas W. Kniesche (de Gryuter, 2019). Diese deutsche Fassung weicht von der englischen leicht ab, wurde aber nicht nennenswert aktualisiert. Der Bezug auf Bourdieus Feld-Konzept verdankt sich der Konzeption des Sammelbands.