Geschrieben am 1. Dezember 2012 von für Crimemag, Kolumnen und Themen

Thierry Cazon & Julien Dupré: Der seltsame Fall des Dr. Greene und Mister Chase – Teil 6

Wer steckt hinter James Hadley Chase?

Kein Geringerer als Graham Greene. Das sagen zumindest Les Polarophiles Tranquilles, ein französischer Verein, der sich seit zehn Jahren ambitioniert des Kriminalromans annimmt. Des klassischen Kriminalromans wohlgemerkt, der als Schmuddelgenre früher von der Literaturkritik mit spitzen Fingern angefasst oder gleich hochnäsig übersehen wurde und der heute trotz der Krimi-Woge, die uns überschwemmt, im aufgeregten Geplapper der Krimi-Neuerscheinungen erneut vergessen wird.

Zu Unrecht, wie die Polarophiles Tranquilles meinen, und die daher Werke fast vergessener Autoren aus dem Bücherregal ziehen, abstauben und sie für einen Moment ins Scheinwerferlicht halten: Zweimal im Jahr erscheint ein kostenloses Bulletin, unabhängig und ohne kommerzielle Interessen, nur gewidmet den geliebten Klassikern wie etwa James Hadley Chase, Frédéric Dard, Georges Simenon, Stanislas-André Steeman oder Dolores Hitchens.

Manchmal stoßen Sie bei ihrer gründlichen Beschäftigung mit der Kriminalliteratur auf Überraschungen:

Decken Sie hier den größten literarischen Schwindel des 20. Jahrhunderts auf, der ungeachtet der Tatsachen, bislang von der literarischen Kritik negiert wird. Der stets Nobelpreisverdächtige Graham Greene soll die grausam-schmuddeligen Chases geschrieben haben? Das, was die friedlichen Polarophilen im Laufe der Jahre ausgegraben haben, stört langsam ganz gewaltig den Frieden der etablierten Literaturwelt. (Zu Teil 1, Teil 2, Teil 3, Teil 4, Teil 5)

Der seltsame Fall des Dr. Greene und Mister Chase

Von Thierry Cazon und Julien Dupré
Übersetzung: Christiane Dreher

Zusammenfassung der vorhergehenden Ausgaben: Nach Erscheinen verschiedener Texte (Essays, Zeitungsartikel), die das Geheimnis ihrer Zusammenarbeit enthüllen, besprechen James Hadley Chase und Graham Greene deren verschiedene Aspekte. Im Laufe ihrer Diskussion zeigt sich deutlich, dass das Gesamtwerk von James Hadley Chase, mit richtigem Namen René Brabazon Raymond, ganz offensichtlich aus der Feder von Graham Greene stammt. Der Ruf Chases, ein Plagiator zu sein, sowie das Geschick Graham Greenes, undurchsichtige Operationen vorzunehmen, um sämtliche Spuren zu verwischen, haben bis heute die Entdeckung dieser Tatsache verzögert. Die beiden Männer besprechen weiterhin die Entwicklung ihrer literarischen Zusammenarbeit, sowie die Beweggründe für dieses Unternehmen: Graham Greene brauchte einen Strohmann, der die Vaterschaft der Texte auf sich nahm, die dem reinen Broterwerb dienten und die unter anderem recht sadistisch waren, eher ungewöhnlich für einen ehrenvollen Schriftsteller von Ruf, und schwierig, offiziell dazu zu stehen.

Er war ein Mann, der auf großem Fuß lebte, und sich so eine gewisse finanzielle Sicherheit außerhalb der Kontrolle des Englischen Fiskus schaffte, bis zu dem Tag, wo … Aber hören wir besser unseren Autoren zu.

III Akt: Bonjour la France, oder Rezepte zum Erfolg

Chase: Ich werde mich bemühen, Ihre schlechte Laune zu vertreiben. Ich bin auf die Geschichte mit Tom Roe nicht nur zu sprechen gekommen, um Ihnen das Messer erneut in der Wunde zu stoßen …

Greene: Sondern?

Chase: Sie zeigt vor allem, dass unserer Zusammenarbeit nicht nur literarisch, sondern auch finanziell war. Unserer Steuerflucht ist Tatsache, und wenn auch wenig schmeichelhaft, so doch nachprüfbar, ein nur etwas neugieriger Kenner könnte sich dessen bedienen, um langsam aber sicher die Konstruktion unserer Zusammenarbeit einstürzen zu lassen.

Greene: Na gut, was beunruhigt Sie denn diesmal?

Chase: Es handelt sich diesmal nicht nur um einfache literarische Vergleiche. Die Tatsache, dass wir den gleichen Finanzberater hatten und von den gleichen Offshore-Aktionen profitierten, zeigt doch, dass unsere Verbindungen diesmal offensichtlich und zu nah sind, um nur Zufall zu sein. Und das lüftet den Schleier für andere Praktiken.

Greene: Ich sehe Sie auf die wirtschaftliche Organisation unseres Erfolgs zurückkommen …

Chase: Ja, besonders in Frankreich. Denn, lassen wir mal die Episode mit Tom Roe außen vor, ich muss zugeben, dass Sie da gut manövriert haben, das Unvorhergesehene kam gerade so, als wäre es geplant gewesen. Chase hatte jenseits des Ärmelkanals einen wahnsinnigen Erfolg, das französische Publikum ist unser umsorgtestes Kind geworden.

Greene: Wir mussten nur noch den Erfolg auszunutzen, in dem wir ihn bombensicher untermauerten, den literarischen Plan eingeschlossen. Keine Verrücktheiten mehr, keine eigenartigen Pseudonyme, aber eine konsequente Anwendung unseres Rezeptes. Aber Sie haben recht, in dem Moment, wo ich die Chases begonnen habe, war ich weit davon entfernt, mir alle diese Möglichkeiten vorzustellen, ich war mit dem Krieg beschäftigt und hatte nur das Bedürfnis, schnell Geld zu verdienen.

Es war das Interesse von Marcel Duhamel (Direktor der gerade entstehenden Serie Noire) für „unser“ Werk, das mich daran denken ließ. Marcel Duhamel hatte in England alle Übersetzungsrechte erworben, bevor er seine Serie Noire gestartet hatte. Er kehrte nach Frankreich zurück und hatte in seinem Koffer auch die Rechte der Ermittlungen von Lemmy Caution und Keine Orchideen für Miss Blandish/Pas d’orchidées pour Miss Blandish. Chase und Peter Cheyney erobern das Land von Descartes, warum auch nicht. Dies eröffnete einen wichtigen Markt. Wissen Sie, nachdem ich so viele Jahre dagegen gekämpft habe, in Not zu geraten, hatte ich mich daran gewöhnt, Feuer zu machen, mit allem, was brennt.

Chase: Mit Keine Orchideen … brannte das Feuer ganz von alleine … übersetzt von Marcel Duhamel selbst, war das Buch ein Bombenerfolg – so sehr, dass uns der kommerzielle Erfolg, den es in England erlebt hatte, und der war weiß Gott schon groß, ab sofort ziemlich blass vorkam.

Greene: Der gute Riecher von Duhamel hatte sich bezahlt gemacht, und ich habe sofort begriffen, dass die Zusammenarbeit mit diesem Menschen wichtig ist. Mit Chase hatten wir angefangen … Keine Orchideen … ist in Frankreich das Urmaß des roman noir geworden: Wir mussten es nur noch nähren, und uns dreien gehörte der Erfolg.

Chase: Uns vieren.

Greene: Bitte?

Chase: Sie haben mich schon richtig verstanden. Sie sollten nicht den Menschen vergessen, der in Frankreich unser gemeinsamer Literaturagent war: Mme Bradley. Tja, wir hatten nicht nur den gleichen Finanzberater … Und das ist ein neues Indiz, das unsere geheime Absprache enthüllt.

Greene: Das wichtigste vielleicht. Mme Bradley war bereits meine Literaturagentin in Frankreich und ich hatte ihre Diskretion und ihre Effizienz bereits außerordentlich schätzen gelernt, als ich entschied, sie ins Vertrauen zu ziehen und sie zu überzeugen, sich um „Sie“  zu kümmern. Nehmen Sie noch die geographische Nähe dazu, denn sie wohnte, wie praktisch, in Paris im Appartement über mir! Und da Sie sich ebenso in Paris niederließen, konnten wir uns  regelmäßig alle drei sehen, um über das Business Greene-Chase zu reden. Mme Bradley war eine Perle[1]: nicht nur war sie in der Lage, ein derart wichtiges Geheimnis wie das unsere für sich zu behalten, aber ihre Fähigkeit, es zu hüten, grenzte fast an ein Wunder.

Chase: Vergessen wir nicht, dass der Erfolg von Chase nicht nur wichtige Autorenrechte mit sich brachte – um die sich diese ruhige und kompetente Frau besser als jede andere kümmerte – aber er zog auch Neugierige an, als erstes die Journalisten.

Greene: Daher mussten um jeden Preis Interviews mit James Hadley Chase verhindert werden, da Ihre Unfähigkeit, von Ihrem Werk zu reden – nicht ohne Grund – dem Blindesten die Augen geöffnet hätte. Wir mussten ein Hindernis für die Neugier an Chase schaffen. Und, wenn ein Interview gar nicht abzuwenden war, mussten wir die Umstände maximal kontrollieren. Also, zunächst ihr öffentliches Bild ausfeilen: ein zurückgezogener Mann, der schlecht französisch spricht, der sich weigert, über sein Werk Auskunft zu geben und der von sich selbst sagt, den Kriminalroman zu hassen und ihn nur des Geldes wegen zu schreiben.

Chase: Und nicht greifbar, absolut ungreifbar. Erinnern Sie sich  an die Anekdote, die Robert Deleuse erzählt: „Jean Paul Kauffmann, Journalist vom Matin in Paris hatte einen Termin mit Chase, im Hause des Schriftstellers (ohne Schwierigkeit im November 1978 erhalten). Er kommt, er klingelt. Die Gattin von René Brabazon Raymond öffnet, führt ihn herein und bittet ihn, zu warten. Dann geht sie in ein anderes Zimmer, vermutlich das Büro von James Hadley Chase, und kommt nach einigen Minuten mit einem Roman des Autors zurück. Mit Widmung. An diesem Tag hat Jean Paul Kauffmann weder René Brabazon Raymond noch James Hadley Chase getroffen, aber er kann immerhin bestätigen, dass es eine Ehefrau gibt.“[2]

Greene: Man musste die Journalisten entmutigen, aber sie gleichzeitig nicht abstoßen. Ich wollte, dass man von Chase sprach, ohne sich ihm anzunähern, wie von einem frevelhaften Ereignis.

Chase: Skandalerfolg wie in England?

Greene: Skandalerfolg. Exakt. Wie die Kritik von Narcejac in La fin d’un bluff beweist.

Chase: Herrgott, es war Ihnen derart wichtig, dass ich mich auf beiden Seiten des Ärmelkanals abbürsten lassen musste. Ich weiß nicht, ob ihr heimlicher Sadismus hier befriedigt wurde, aber Sie hätten mich auf jeden Fall früher an ihrem literarischen Kritiker-Netz teilhaben lassen können: Schon nach dem Krieg war es eingerichtet! Damit hätten Sie mir viele Prügel erspart.

Greene: Die nur Ihre Selbstliebe verletzt haben. Davon erholt man sich schnell, wenn man eine dicke Haut hat. Aber wenn Sie sagen, dass ich nur an mich gedacht habe, sind Sie ungerecht: Ich hatte die Hoffnung, die literarische Kritik für mich zu gewinnen, für meine Werke als erstes, aber langfristig auch für „Ihre“. Ich hab’s Ihnen immer wieder gesagt: mir war wichtig, dass man von „Ihnen“ in Frankreich spricht, weil die Chases dort so wahnsinnig gut liefen. Aber ohne unangenehme Folgen. Ohne Journalisten, die Sie aufscheuchen können, ohne Literaten, die Ihr Werk untersuchten; ein Erfolg kann abflauen, und wenn ich heute alle Möglichkeiten unserer Zusammenarbeit überblicke, hielt ich an denen fest, die dauerhaft sind.

Chase: Wie ist Ihnen das gelungen?

Greene: Es ist mit der Pariser Kritik wie mit allen Berufsgruppen in Frankreich: sehr zentralisiert, ein Netz, das von einigen Schlüsselfiguren gehalten wird. Deren Unterstützung  zu erhalten, sollte dem Werk von Chase einen guten Erfolg in der Kritik und gleichzeitig einen Schutz durch das System ermöglichen, falls jemals ein Verdacht auf unsere Aktivitäten fallen sollte. Aber „unsere“ Chases kamen ja gerade erst in Frankreich an, und obwohl der Kriminalroman in Frankreich einen großen Erfolg hatte, war die Kritik noch etwas wählerisch. Sie zu erobern, brauchte Zeit, um zu verstehen, wie das Pariser Netz gestrickt war, die verschiedenen Einflussbereiche zu entdecken – kurz, sich mit dem „Gesetz des Milieus“ vertraut zu machen.

Chase: Der Grund, warum Sie nicht sofort auf beiden Seiten spielen wollten, war, dass Sie erst Ihren Erfolg Ihrer „offiziellen“ Bücher sichern wollten, indem Sie sich mit einigen einflussreichen Kritikern dort zusammengetan haben, an erster Stelle François Mauriac. Mit ihm teilten Sie neben dem katholischen Glauben und einer Faszination für das Problem des Bösen, diesen zweischneidigen Wunsch, ein „Netzwerker“ zu sein. Mauriac machte den Eindruck eines provinzieller Bordelais, der es in der Hauptstadt zu etwas gebracht hat, aber in Wirklichkeit war er der brillanteste Geist des Pariser Lebens. Er hatte überall Zugang, wie der bissige André Ribaud bestätigte: „Zwar machte er den Eindruck eines Asketen, fehlte jedoch bei keinem Essen, keiner Theateraufführung, keiner Ehrung“.[3] Er schrieb in den angesehensten Zeitungen seiner Zeit: La table Ronde, L’Express, Le Figaro, und seine „bloc-notes“ [„Notizblock“, eine regelmäßige literarische Kolumne. Anm. der Übers.] wurden regelmäßig von Hunderttausenden gelesen. Mit der Unterstützung von Mauriac konnten Sie also die Kontrolle über das Pariser Kritikernetz  erhalten bis hin zu den verschlossensten Ecken. Aber Sie haben seine Persönlichkeit genauestens durchschaut, um zu wissen, dass er, trotz der Bewunderung für Sie, nichts ohne Gegenzug machen würde.

Greene: Deshalb hatte ich ihm angeboten, als ich noch von meiner Stellung als Verleger bei Eyre and Spottiswoode profitieren konnte, seine Bücher in England zu verlegen. Der Verlag „übernahm“ alle Romane von Mauriac, und ich bediente mich aller literarischen und journalistischen Kontakte, damit seine Bücher einen Erfolg hatten, den er mir schuldete. Ich konnte sogar Mauriac nach London holen und ihm dort einen festlichen Empfang ermöglichen, was in der Zeit des Mangels an ein Wunder grenzte.

Chase: Sie gaben Mauriac in England neuen Glanz: Er fand in einem anderen Land einen kommerziellen Erfolg und die Kritik seiner Jugend wieder …

Greene: Danach konnte er mir seine Unterstützung nicht verwehren. Er schrieb ein Vorwort für die Kraft und die Herrlichkeit/La Puissance et la Gloiret nach 1945, und dank dieser machtvollen Einleitung wurde der Roman mein erster Bestseller in Frankreich. Vor allem stellte er mich vielen seiner Bekannten vor und ließ mich von seinen Verleger- und Kritikerkontakten profitieren: sie waren mir wertvolle Türöffner, denn ich wollte nicht nur meine Bücher in Frankreich veröffentlichen, sondern auch anderen Autoren, die mir wichtig waren, eine Wertschätzung zukommen lassen …

Chase: Darunter ein gewisser James Hadley Chase.

Greene: Genau! Übrigens in der Biographie, die mir William J. West widmet, kommt er auf den Beginn dieser guten Zusammenarbeit zu sprechen.[4] … Und so sind wir beide, Hand in Hand, in den Pariser Erfolg marschiert. Aber Mauriac war nur einer von vielen in meinem Verführungskunststückchen im französischen literarischen Milieu. Vergessen Sie nicht, dass wir einen anderen Trumpf hatten in Marcel Duhamel: auch er war Kopf eines Netzes von Autoren und interessanter Kritiker …

Chase: Und es ist dieser Duhamel, der die geniale Idee hatte: Man müsse die Theaterszene nutzen – was damals sehr modern war –, um von mir zu sprechen. Das Werk von Chase fürs Theater zu arrangieren war einfach, aber man musste erst mal die Idee haben.

Greene: Und Duhamel kannte die ideale Person für diese Art Arbeit. Und durch ihn lernten wir einen der größten Chase-Liebhaber kennen, ich spreche von Frédéric Dard.

Chase: Ein netter Junge. Er hat uns viel geholfen.

Greene: Er war vor allem begierig zu lernen – und für ihn, einen Anfänger, noch ein bisschen schüchtern und voller Komplexe, spielte Chase die erste Rolle. Dard war zu diesem Zeitpunkt noch dabei sich einzuspielen, er wollte sich im literarischen Milieu von Paris einen Namen machen. Nach einer eher wechselhaften Karriere als Autor und Verleger hatte er begriffen, dass man nicht in der Provinz erfolgreich sein kann, und hatte Lyon verlassen. Er hatte sich mit Frau und Kind am Rande von Paris niedergelassen und versuchte, sich maximal in die Literaturszene einzubringen.

Chase: Exzellente Wahl: Sein Ehrgeiz war genau so groß wie unserer, von seinem Talent ganz zu schweigen. Marcel Duhamel übernahm es, mit seinem Verleger zu verhandeln, und so ganz nebenbei reservierte er sich ein großes Stück des Kuchens, indem er Mitherausgeber des ersten Stückes Keine Orchideen für Miss Blandish wurde. Das Stück spielte im Januar 1950 und erneuerte den Erfolg des berühmten Guignol [Theater in Paris, wo ausschließlich „blutige“ Horror-Theaterstücke gezeigt werden. Anm. d. Übers.]

Greene: Dard hatte sich als Eliane Charles ausgegeben. Gott weiß warum, er glaubte sich verstecken zu müssen, denn er zeigt sich vorsichtig erst im April 1955, bei seiner zweiten Bearbeitung von Chase: La chair de l’orchidée: wieder als Mitautor von Marcel Duhamel, diesmal aber unter seinem richtigen Namen.

Chase: Natürlich blieb er in Kontakt mit mir. Und sehr schnell hat sich unser Einfluss bei ihm bemerkbar gemacht …

Greene: Wissen Sie, wann ich es verstanden hatte? Als er die Idee hatte, seinem ehemaligen Idol Simenon (mit dem er sich zerstritten hatte)[5] eine Falle zu stellen, indem er ihm eine Bearbeitung für Maigret in der Liberty-Bar/Liberty Bar vom Schauspieler Frédéric Valmain vorschlug. Während der ganzen Zeit blieb Dard hinter den Kulissen und soufflierte seinem Strohmann zu, wie er sich verhalten sollte.

Chase: Genauso, wie Sie sich hinter mir verbargen! Er hat eine Menge gelernt während unserer Zusammenarbeit, der „kleine“ Dard.

Greene: Und so, hinter dem Namen von Frédéric Valmain, hat er Geschmack daran bekommen, als Strohmann „uns“ eine dritte Bearbeitung zu liefern: für Traquenards [keine dt. Übers. ermittelt], das 1956 im Theater Charles de Rochefort aufgeführt wurde. Aber mit ihm konnten wir noch weiter gehen, denn für diese Doppelnummer mit Valmain musste Dard sein Küken erst öffentlich etablieren, bevor dieses eine gewisse Glaubwürdigkeit hatte. Zu wem hätte er sagen sollen, „Gib mir Deckung“ [6], wenn nicht zu Ihnen, Chase, um Valmain als großen Schriftsteller auszugeben.

Chase: Im Gegenzug arbeitete Dard an unserem eigenen Image, indem er sich Arm in Arm mit mir zeigte, mein Talent rühmte, mich als unvergleichlichen Freund darstellte, und er ging so weit in seiner Güte, dass er mich in einigen seiner San Antonios ehrte![7] Während Valmain sich etwas diskreter zufrieden gab und mir einige seiner Werke wie La Mort en travestis[8] widmete. Als Zeichen der guten Zusammenarbeit.

Greene: Was Frédéric Dard betrifft, hätte ich für meinen Teil dort aufgehört. Aber Sie hatten Lust, auch ein bisschen dieser Geheimnistuerei aufzubauen, nicht?

Chase: Was wollen Sie damit sagen?

Greene: Sehen Sie, ich schätze es nicht so, wenn der Schüler versucht, den Lehrer zu spielen und beginnt, die Initiative zu ergreifen …

Chase: Sie werfen mir vor, dass ich vor langer Zeit meinem Freund George Langelaan geholfen habe, der versuchte, sich mit seiner Spionage-Reihe Agent Secret an die Welle des Spionageromans zu hängen. Robert Laffont hatte diese Reihe 1964 ins Leben gerufen, sie wurde von George Langelaan geführt, der dort auch schrieb.

Greene: Sagen wir besser: Er hätte dort schreiben sollen …

Chase: Okay, ich erkenne die Tatsachen an. Aber wenn man ein Wunderkind wie Frédéric Dard an der Hand hat, das müssen Sie zugeben, hätte man Unrecht, nicht von seinem Talent zu profitieren!

Greene: Ihre Freundschaft mit Langelaan stammt noch aus der Zeit des Krieges, da Sie beide durch meine Vermittlung Ihre ersten Texte veröffentlicht haben.[9] Wenn Langelaan in der Folge auch eine nette Karriere in der Spionage gelungen ist, seine Talente als Schrifsteller waren zumindest limitiert![10] Wieso diese Versuchung „Goldesel Dard“ für Ihren alten Kameraden …

Chase: Alle sind dabei auf ihre Kosten gekommen: Langelaan lieferte die Themen fein gesponnen und aktuell, Dard sein Talent und die unnachahmliche Schnelligkeit der Ausführung. Während ich mich mit der bescheidenen Rolle des Vermittlers zufrieden gab, die beiden in Kontakt gebracht zu haben. Es gab einen schnellen ersten Versuch in Form der Nouvelles de l’Anti-Monde 1962, dann kam eine Nachahmung von Simenon, L’indice à l’envers; und dann, na ja, kam der Erfolg unmittelbar.

Greene: Ich habe gehört, dass von den 34 veröffentlichten Titeln der Reihe Agent Secret die zwischen März 1964 und Juni 1965 herausgegeben wurde, allein 20 Titel aus der Feder von Dard stammten! Er schrieb nicht nur unter dem Namen von Langelaan (sieben Romane), sondern auch hinter Strohmännern und Pseudonymen.[11] Unser Freund war ganz klar ein verrückter Schreiber – der einzige, der so eine höllische Kadenz durchhalten konnte. Und Langelaan war ein Glückspilz.

Chase: Beschweren Sie sich nicht: Die Serie wurde leider beendet, da uns der wichtigste Autor verloren gegangen ist, ein Verlust für uns alle, außer für: Fleuve Noir.

Greene: Glückliches Land, wo wir solche literarischen Betrügereien direkt vor den Augen und der Nase des Finanzamts und der Kritik haben aufbauen können!

Zusammenfassung

Chase: Ich glaube, diesmal haben wir endgültig alles besprochen. Wenn ich an all das denke, verblüfft mich doch eins: die Solidität unserer Verbindung, trotz der harten Schläge und unserer kleinen Rivalitäten. Auch die Diskretion bei unseren geheimen Absprachen, das grenzt an ein Wunder.

Greene: Na also! Sind Sie fürs erste beruhigt? Konnte ich Sie überzeugen, dass unser Geheimnis gut geschützt ist?

Chase: Es wird, wie alle Geheimnisse, nicht bis in alle Ewigkeit vor dem Scharfblick eines Forschers geschützt sein …

Greene: Vergessen Sie’s. Er müsste ja all das, was wir hier nur skizziert haben, gründlich erarbeiten: die Ähnlichkeiten in Thematik und im Stil unserer beiden Werke aufdecken (das was wir gefunden haben, ist ja nur ein Anfang!), unsere Biographien durchforsten, um zu sehen, an welchen Punkten sie sich treffen, und wie wir beide den Erfolg der Chases organisiert haben.

Chase: Und wer sollte das schon glauben? Wer wäre denn so verrückt, seinen Kopf für eine These außerhalb der eingeschlagenen literarischen Wege zu riskieren? Das würde einen heftigen Widerstand aller verursachen, die von diesem „intellektuellen Komfort“ leben …

Greene: Na endlich! Wir haben uns verstanden! Trinken wir auf die Gegenwart!

Chase: Auf was?

Greene: Auf die Scheuklappen, die die Welt regieren, wovon wir den größten Profit rausschlagen konnten.

Chase: Und auf das Wunder unseres Hierseins … das wir bei einem Brandy diskutieren – obwohl wir doch schon so lange tot sind …

[Es wird Abend; der Nebel des Sees umwallt langsam die beiden Männer. Als der Nebel sich wieder lichtet, sind sie verschwunden]

Vorhang

Thierry Cazon, beheimatet in Cannes an der Côte d’Azur, ist nicht nur leidenschaftlicher Krimi-Leser und -Sammler, sondern auch der Vorsitzende des Vereins Les Polarophiles Tranquilles. Auf der Homepage finden Sie sämtliche Veröffentlichungen des Vereins inklusive mancher Übersetzung (englisch, deutsch, italienisch …).

[1] Tatsächlich war Mme Bradley ein derart wichtiger Teil der Unternehmung Greene/Chase geworden, dass Chase nach ihrem Tod 1983 keinen einzigen Roman mehr veröffentlichte, weder in Frankreich noch anderswo: dieses wichtige Kettenglied ihrer Zusammenarbeit dürfte nicht leicht zu ersetzen gewesen zu sein …

[2] Robert DELEUSE, A la recherche de James Hadley Chase, Presse de la Renaissance,  Les Essais 1992, S. 33.

[3] André RIBAUD, Le Roi, chronique de la Cour, Julliard, 1962, S. 83. Es handelt sich um eine Darstellung des Generals de Gaulle und dessen Mitarbeitern, im Stil von Saint-Simon, der sich mit parodistischen Blick über den Sonnenkönig und seinen „Hofstaat“ ausließ (diese Kolumne im Canard enchainé war während der sechziger Jahre sehr beliebt)

[4] „Greene konnte Francois Mauriac überzeugen, dass er seine Werke in England in englischer Übersetzung bei Eyre and Spottiswoode verlegen ließ. Im Gegenzug lernte Paris viele der modernen englischen Kriminalschriftsteller kennen, für die Greene sich mit Enthusiasmus einsetzte. Er stand Chase sehr nah und brachte ihn mit seinem Pariser Literaturagenten in Kontakt, der sich schnellstens um die Veröffentlichung von Chases Büchern bemühte. Diese Verbindung wurde sehr solide und setzte sich bis in die siebziger Jahre fort. Chase wurde so in Frankreich genauso berühmt wie Greene.“ Aus: William J. WEST, The Quest for Graham Greene, New York, St. Martins Press, 1998, S. 120. [deutscher Text von der Übers.] „Diese Atmosphäre von Polizei und Kriminalität, diese Unterwelt, wo sich wilde Tiere zerfleischen, wo der Jäger schnell zum Gejagten wird, alles, was die Welt von Greene ausmacht, hat für mich wenig mit der Realität zu tun: Es ist eine filmische Übertragung des Lebens, die mich wenig berührte, wenn sie nicht eine religiöse Komponente hätte. Was ich wahrhaftig finde in den Romanen Greenes, ist die Gnade. Das ist aktuell, weil zeitlos. Graham Greene hat mit dem Kriminalfilm und den Romanen der Serie Noire eine Wahrheit gezeigt, die die Welt nicht kannte. Darin liegt seine Größe.“ Sagt Francois Mauriac in seinem Vorwort Studie über G. Greene in den Classiques du XX siècle (1967).

[5] In der Folge der Bühnenbearbeitung die Dard für Der Schnee war schmutzig/La Neige était sale gemacht hatte, zeigte sich Simenon verwirrend und verletzend für seinen jungen Bewunderer; er profitierte ebenso von dessen Unerfahrenheit, um ihn um die Rechte für die Kinobearbeitung zu bringen! Danach war das Zerwürfnis der beiden Männer besiegelt.

[6] Im französischen Text „File-moi la couverture“, Anspielung auf einen gleichnamigen Titel von Chase, der 1980 direkt in Frankreich veröffentlicht wurde.

[7] Siehe hierzu Remets ton slip, gondolier! (1976), wo San Antonio einen Moment seine Handlung verlässt, um eine Anekdote aus dem Leben von James Hadley Chase zu erzählen (Fleuve Noir, 1976, S. 23-24): „Das letzte Mal, als ich mit ihm gegessen habe, schwang er drohend das Messer und rief mit einem grauenhaftem Akzent „leu caotuao!“ [in etwa „der Mässähr“ für „das Messer“]. Er war sehr glücklich, dass er sich endlich in dieser für ihn so umständlichen Sprache ausdrücken konnte […]!“

[8] „Für James Hadley Chase, in Bewunderung und Freundschaft.“ Widmung von Valmain auf Seite 7 von La Mort en travestis, Fayard, 1962

[9] Vgl. Slipstream: A Royal Air Force Anthology, Sammlung von Texten und Geschichten aus dem Krieg, 1946 bei Eyre and Spottiswoode veröffentlicht, zur Zeit als Graham Greene dort tätig war. Die Zusammenstellung hatten René Raymond (alias James Hadley Chase) und David Langdon (alias Georges Langelaan) besorgt. In dieser Anthologie findet sich die einzige Veröffentlichung von René Raymond, die es  außerhalb der Chases gibt: Die Novelle The Mirror in Room 22.

[10] Um sich das vorzustellen, genügt es, sich seine Autobiographie Un nommé Langdon (1950, Robert Laffont) vorzunehmen, die Langelaan lange vor seiner Zusammenarbeit mit Dard veröffentlicht hatte. Ein unscheinbares Büchlein, verfasst in einem langatmigen Stil, ohne die geringste literarische Qualität und ohne die überraschende Lebendigkeit, die man später in Les Nouvelles des l’Anti-Monde, L’Indice à l’envers und in der Spionageserie Agent Secret fand.

[11] Einer davon, Alain Moury, wurde Objekt eines erschöpfenden Artikels von Alexandre Clément: Alain Moury, scénariste et écrivain. (Bulletin Nr. 13 der Polarophiles Tranquilles). Der Fall  Michael Maltravers wurde zu Teilen von Thierry Cazon untersucht (Encore Frederic Dard! Bulletin Nr. 5 der Polarophiles Tranquilles), aber man müsste auch die Arbeit von Maltravers in der Reihe Agent Secret berücksichtigen : Allo … la bombe!, Merry Pontus trouve un cheveu, und On a bonne mine. Ebenso gälte es über Yvan Noé (La guepe prend la mouche), Eddy Ghilain (Silence, clinique!), Paul Brauca (Elomire se marre, Elomire la cafteuse) und Michel Vall (Trahison on the Roch) zu forschen, deren Texte zahlreiche Dard’sche Charakteristiken aufweisen.

Foto Chase: Arfaz

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