Grenzverläufe des Nordic Noir, Teil 2 – „The Killing“
– Nach „The Bridge“ (Nordic Noir, Teil 1) analysiert Sonja Hartl heute die amerikanische Adaption von „Kommissarin Lund“.
Es war ein unerwarteter Erfolg. Als im Frühjahr 2011 die dänische Serie „Forbrydelsen“ auf BBC4 ausgestrahlt wurde, waren die Konzeptrechte zwar bereits in die USA verkauft, dennoch rechnete kaum einer mit Zuschauerzahlen von im Schnitt einer halben Million und der Welle skandinavischer Krimidramen, die diese Serie auslöste. Aber die Briten wurden süchtig nach „Forbrydelsen“, obwohl sie untertitelt ausgestrahlt wurde, der Strickpullover von Hauptfigur Kommissarin Lund wurde zum Kult, drei Staffeln und drei Romane folgten (hier bei CM). „Forbrydelsen“ war der Auftakt des Fernsehphänomens „Nordic Noir“, zu dem nachfolgende Serien wie „Borgen“ („Borgen – Gefährliche Seilschaften“) (Borgen bei CM) und „Bron/Broen“ („Die Brücke – Transit in den Tod“) ( siehe hier bei CM) gehören. Alle Serien vereint ein trostloses, meist urbanes Setting, eine düstere, realistische Handlung, das multiperspektivische Erzählen – und dass sie für das amerikanische Fernsehen adaptiert wurden bzw. werden sollen.
Damit ein Serienkonzept exportiert werden kann, muss es universell sein, die Handlung muss sich ohne große Widerstände in eine andere Umgebung übertragen lassen. Bei „The Bridge“ sorgte die Verlagerung an die mexikanisch-amerikanische Grenze für weitreichende Änderungen, die Beschreibung des Konzepts von „Forbrydelsen“ klingt hingegen schon nach einer typisch amerikanischen Serie: eine scheinbar unschuldige Schülerin wird ermordet aufgefunden, für die Tat gibt es viele Verdächtige innerhalb verschiedener gesellschaftlicher Kreise und eine Kommissarin ermittelt unter Aufgabe ihres Privatlebens unbeirrt, bis sie die Wahrheit herausgefunden hat. Von vorneherein gab es bei „Forbrydelsen“ Hinweise auf „Twin Peaks“, das amerikanische Remake „The Killing“ wurde schließlich sogar mit der Tagline „Who killed Rosie Larsen?“ (in Anlehnung an „Who killed Laura Palmer?“) beworben.
Allerdings führt der Vergleich mit „Twin Peaks“ in die Irre. Weder in „Forbrydelsen“ noch „The Killing“ gibt es Traumsequenzen und wahrheitserkennende Eulen, sondern eine starke Verankerung in der Gegenwart, zermürbende Ermittlungsarbeit, falsche Spuren und Verdächtige. Dabei werden die steuernden Verdachtsmomente zumindest in „Forbrydelsen“ so gut eingearbeitet, dass sie sich als Teile des Tatpuzzles präsentieren, das in der Staffel zusammengesetzt werden muss. Darüber hinaus erinnert „Forbrydelsen“ an den sozialen Realismus von „The Wire“, in dem das Verbrechen ein Teil der Gesellschaft ist; jedoch fehlt „Forbrydelsen“ die soziologische Perspektive auf die Entstehungsbedingungen des Verbrechens. Vielmehr zeigt die Serie, dass nicht eine einzelne Tat die Gesellschaft erschüttern kann, wohl aber die Institutionen, die ihre Beteiligung und die Auswirkungen vertuschen wollen.
„Forbrydelsen“ bietet somit die für ein Remake notwendige konzeptuelle Universalität, zugleich wirkt die Serie aufgrund der düsteren Farbgebung, der stoischen Hauptfigur, des langsamen Erzähltempos und der linksliberalen, gesellschaftskritischen Ausrichtung sehr skandinavisch, so dass sie zu dem Prototyp des Nordic Noir wurde. Diese Elemente finden sich auch in den anderen erfolgreichen Serien wieder.
It always rains in Seattle – „The Killing“
Von den ersten Bildern an ist die Nähe von „The Killing“ zu „Forbrydelsen“ evident: „Forbrydelsen“ beginnt mit einer jungen Frau, die durch einen Wald in panischer Angst vor einem Verfolger flieht, sich kurz an einem Baumstamm ausruht, ehe sie weiterläuft, erfasst vom Licht einer Taschenlampe. Dann erfolgt ein Schnitt – Sarah Lund (Sofie Gråbøl) erwacht aus einem Traum, und im ersten Moment weiß der Zuschauer nicht, ob sie die zuvor gesehenen Bilder nur geträumt hat. In „The Killing“ läuft Sarah Linden (Mireille Enos) tagsüber durch einen Wald, dann erfolgt ein Schnitt und ein junges Mädchen ist zu sehen, das ebenfalls durch ein Waldstück läuft, allerdings joggt es nicht, sondern flieht in panischer Angst vor einem Verfolger. Auch hier ist anfangs nicht klar, ob diese Ereignisse stattgefunden haben oder Linden sich erinnert, beide Serien verweisen aber unmissverständlich auf die enge Verbindung, die zwischen diesen Frauen entstehen wird.
Aus Kommissarin Sarah Lund wurde in „The Killing“ somit Detective Sarah Linden, sie haben beide zu Beginn ihren letzten Arbeitstag, da sie mit ihren Verlobten nach Schweden resp. Kalifornien ziehen wollen. Ihre Kollegen bereiten ihnen den gleichen Abschiedsscherz, dann geraten sie in den Fall, der sie 20 bzw. 26 Folgen lang beschäftigen wird. Von Anfang an sind die Schicksale zwischen Lund und Nanna Birk Larssen ebenso verknüpft wie die zwischen Linden und Rosie Larsen. Die Ermittlungen führen sie in hohe politische Kreise, die Liste der Verdächtigen reicht von einem Lokalpolitiker bis hin zum polnischen Verbrecherkönig. Dabei folgt „The Killing“ erzählerisch der Struktur der dänischen Serie und ist ebenfalls multiperspektivisch angelegt, so dass auch die Auswirkungen der Tat auf die Familie und auf den politischen Alltag geschildert werden. Bei den Ermittlungen folgt auf die Be- eine zumindest temporäre Entlastung, jede Folge endet zudem mit einem Cliffhanger, bei dem es zu einem kurzen Blick in die aktuellen drei Handlungsstränge kommt – und der mit nahezu identischer Musik wie das dänische Original unterlegt ist. (Bei beiden Serien stammt die Musik von Frans Bak.)
Das in grauen Farbtönen präsentierte Seattle ist dabei ein sehr guter Ersatz für Kopenhagen – ohnehin ist alles in dieser Serie kühl und regnerisch –, die Verlagerung des Handlungsorts sorgt anders als in „The Bridge“ indes nicht für eine Umdeutung der Figuren, sondern hat dramaturgische Auswirkungen. So führen die Ermittlungen zu einem Casino, das auf dem Land der Native Americans liegt und somit unter andere Jurisdiktion fällt. Dadurch ergeben sich mehrfach Verzögerungen in den Ermittlungen, die zum einen der Einführung neuer Verdächtiger und zum anderen der Charakterisierung der Hauptfiguren dienen. Beispielsweise hängt die Folge „Off the reservation“ aus Staffel 2 nicht mit dem Hauptfall zusammen, sondern baut das Verhältnis zwischen Linden und Holder aus.
Dennoch sollten die vordergründigen Ähnlichkeiten und Lindens Wollpullover nicht über die Unterschiede der Serien und insbesondere der Hauptfiguren hinwegtäuschen. Linden ist ebenso wie Lund alleinerziehend und Ermittlerin durch und durch, aber im Gegensatz zu Lund hat sie keine gute Beziehung zu ihrer Mutter, sondern ist im Fürsorgesystem großgeworden, und ihre einzige Vertraute ist ihre ehemalige Sozialarbeitern. Somit stellt Lund ihre Arbeit über ihre Familie, obwohl sie Mutter und Tochter ist, Lindens unstetes Verhalten und ihre Vertrauensprobleme werden hingegen biographisch erklärt. Da sie selbst keine intakte Familie hatte, so suggeriert es die Serie, habe sie mit der Mutterrolle Schwierigkeiten. Im Grunde genommen machen Lund und Linden nichts anderes als zahllose männliche Hauptfiguren, zumindest in „The Killing“ bedarf ihr Verhalten aber einer Erklärung, in der dritten und vierten Staffel wird diese Erfahrung sogar explizit zum Vorteil. Damit schwächt „The Killing“ ein weiteres wichtiges Merkmal der Nordic-Noir-Serien ab: die starke weibliche Hauptfigur.
In anderen Aspekten des Falls wird den amerikanischen Zuschauern nicht die gesamte Düsterheit der dänischen Serie zugemutet. Während bei „Forbrydelsen“ der Vater den wahren Täter erschießt und letztlich der einzige ist, der ins Gefängnis kommt, bleibt Rosies Vater bei seiner Familie. Auch ist Nana insgesamt weniger ‚unschuldig‘ als Rosie: Sie wollte mit ihrem Freund abhauen, der von ihrer Familie abgelehnt wurde, und nicht auf Weltreise gehen, außerdem hat sie tatsächlich bei einem Escort-Service gearbeitet und sich mit älteren Männern eingelassen. Dagegen setzt „The Killing“ auf eine größere Tragik bei den Umständen von Rosies Ermordung.
Die Amerikanisierung von „Forbrydelsen“
Bereits durch diese Änderungen wird die Ausgestaltung des Serienkonzepts dem amerikanischen Markt angepasst, am deutlichsten zeigt sich dieses indes an der Figur von Lindens Partner Stephen Holder (Joel Kinneman). Während die einzige Konstante in Lunds Leben ihr Chef Lennart Brix (Morten Suurballe) ist und ihre Partner wie Jan Meyer (der stets unterschätzte Søren Malling) meist ein dramatisches Ende nehmen, behält Linden über alle vier Staffeln hinweg Stephen Holder (Joel Kinneman) als Partner. In der ersten Staffel ist er neu im Morddezernat und soll eigentlich Lindens Nachfolger werden, jedoch ermitteln sie dann gemeinsam. Sie durchleben die obligatorische schwierige Anfangszeit und einige Vertrauenskrisen, dann entwickelt sich insbesondere in der zweiten Staffel eine größere Vertrautheit, die sehr früh darauf hindeutet, dass die Serienmacher dem „die zwei gehören zusammen“ nicht gänzlich widerstehen konnten.
Stephen Holder ist eine interessante Figur: Jahrelang hat er undercover für das Drogendezernat gearbeitet, hatte selbst ein Suchtproblem und sorgt nun mit seinen Sprüchen sowie großzügig geteilten Lebensweisheiten für Unterhaltung und Abwechslung. Vor allem aber durchbricht er Lindens sprödes Verhalten und sorgt dafür, dass ihr Charakter zugänglicher ist.
Die Veränderungen sorgen dafür, dass „The Killing“ sich besser in die amerikanischen Sehgewohnheiten fügt, obwohl bereits die grundlegende Konzeption – ein Fall wird über eine Staffel hinweg aufgeklärt – dem Aufbau der meisten amerikanischen Serien widerspricht. Dennoch war die erste Staffel dank des spannenden Falls, der professionellen visuellen Inszenierung, der hervorragenden Schauspieler und des ‚anderen‘ Erzählmusters erfolgreich, dann wollte Serienmacherin Veena Sud zu viel: Die erste Staffel von „The Killing“ endet mit einem weiteren Cliffhanger, der Wut und Enttäuschung bei Zuschauern und Kritikern hervorrief. Zu diesen Reaktionen führte zum einen eine fehlgeleitete Marketing-Kampagne, die mit „Who killed Rosie Larson?“ nicht nur Nähe zu „Twin Peaks“ andeutete, sondern eine Auflösung gleichsam versprach. Und es war „The Killing“ im Gegensatz zu „Twin Peaks“ nicht gelungen, ausreichend interessante Subplots und Charaktere zu etablieren, so dass die Auflösung des Verbrechens in den Hintergrund rückt (bei „Twin Peaks“ ist die Entlarvung des Mörders gänzlich nebensächlich, nahezu enttäuschend). Zum anderen wurde das Staffelfinale äußerst schlecht eingeleitet. Nachdem in der vorletzten Folge Stephen Holder noch überrascht auf ein Bild des geheimnisvollen „Orpheus“ blickt, soll er eine Folge später an einer Vertuschung beteiligt sein, die im völligen Widerspruch zu allem bisher Gezeigten stehen würde. Dass Veena Sud dann versprach, den Täter am Ende der zweiten Staffel zu überführen, konnte die Gemüter nur wenig beruhigen – vielmehr gab sie damit preis, dass weitere 13 Folgen voller falscher Fährten zu erwarten sind, und die Einschaltquoten fielen entsprechend niedrig aus.
Ein vorläufiges Fazit
Insgesamt zeigt sich bei „The Bridge“ und „The Killing“ die Universalität der Konzepte der Nordic-Noir-Serien, die fraglos einer ihrer Erfolgsfaktoren ist. Diese Serien erzählen Geschichten, die in vielen anderen Ländern mit wenigen Abweichungen stattfinden können. Zumindest für die Adaptionen in die USA muss jedoch die Düsterheit des Falls gemildert werden, außerdem wird die weibliche Hauptfigur geschwächt, indem sie einen verständnisvollen Mann an die Seite und vor allem einen „erklärenden“ biographischen Hintergrund bekommen. Hier bleibt abzuwarten, welchen Weg ein Remake von „Borgen“ geht. Immerhin erzählt die Serie von der ersten weiblichen Ministerpräsidenten Dänemarks, bei einer Anpassung an die USA wäre eine Senatorin oder Gouverneurin weitaus weniger spektakulär – hier müssten die Amerikaner schon auf das höchste Amt des Staates setzen. Reizvoll ist diese Vorstellung allemal.
Sonja Hartl
The Killing: Hier mehr.
Sonja Hartl betreibt das Blog Zeilenkino (www.zeilenkino.de) und betreut die Seite Polar Noir (www.polar-noir.de).