Florian Kniffka entführt uns in Eingebildetes und Undechiffrierbares, Wankelmütiges und Wahnsinniges. Es sind eben Texte voller Schall und Rauch, denen er sich nähert. Ein unbedingtes Eintauchen in das Phantastische.
Eine unheimlich wunderbare Annäherung an phantastisches Erzählen
Das Geräusch war am Anfang! Ein Knacken oder Knuspern. Nein, eher ein Klopfen, Pochen. Ein feiner Laut, zu schnell vorüber, um ihn treffend einzuordnen – und doch ist er da. In der kommenden Nacht dann verwandelt sich das Geräusch. Erst beginnt es wieder mit einzelnen Schlägen, die immer schneller aufeinander folgen, sich im Stakkato steigern bis sie einem langen Ächzen weichen. In diesem Geräusch ist der Wurm drin – der fantastische Wurm!
Unsere Lebenswelt besteht zu einem großen Teil aus Fantasie. Der Sinn, den wir in den Dingen und Ereignissen, die uns umgeben, wahrnehmen, liegt nicht (nur) in ihnen. Wir schreiben ihn ihnen (auch) zu und verformen die Welt mithilfe unserer Vorstellungskraft – die in ihrer freien, kreativen Form „Phantasie“ genannt wird. Diese Verformung der Realität ist, was zur Erzeugung einer als sinnvoll erfahrenen Lebenswelt führt. Für Denken mit Sprache heißt das, es werden Wahrnehmungen in gleichartige und verschiedene Gruppen geordnet und mit Worten zu Begriffen gebündelt. Fiktionale Künste arbeiten mit dieser mentalen Gestalt unserer Lebenswelt, indem sie nicht-reale, eben fiktive Welten entwerfen. Egal, wie stark ein solches Universum die Ähnlichkeit zur realen Welt herzustellen versucht, es bleibt ein Gedankenspiel. So hinterfragt Literatur die Konzepte unseres Alltags, bezweifelt oder affirmiert sie. Phantastisch nun ist eine Literatur des Sonderfalls, denn sie fragt danach, wie und unter welchen Umständen die Phantasie in unserem sinnbildenden Kontakt mit der Welt wirkt.
Aktuelle Theorien fassen Phantastische Literatur als ein Realitätssystem auf, das Gesetzmäßigkeiten unabhängig von der außerliterarischen Wirklichkeit festlegt. Dabei kann es sowohl eine größtmögliche Nähe zu einer historischen Wirklichkeit suchen, als auch bewusst von ihr abweichen, um Ereignisse und Entitäten auf den Plan zu rufen, die außerhalb der Fiktion unmöglich sind – oder es zu sein scheinen! In seiner wegweisenden, obgleich nicht unkritisch aufgenommenen Konzeption der Phantastik als literarische Gattung definierte der Strukturalist Tzetan Todorov sie als Grenzphänomen. Sie sei tatsächlich die stets ausweichende Trennlinie zwischen dem „Unheimlichen“, welches ein rätselhaftes Ereignis – wie im Krimi – nach einer realistischen Erklärung auflöst, und dem „Wunderbaren“. Dieses bestimmt eine fiktionale Welt, von der angenommen wird, die Leserschaft halte sie für inkompatible mit der eigenen, außerliterarischen Realität. Das Verschwinden eines Paars Socken wird realistisch erklärt, indem ein Mäusenest aufgedeckt wird, worin die Socken als Polster dienen. Wunderbar wiederum erklärt sich ein solches Geschehnis, wenn die lästigen Sockenkobolde „mal wieder“ ihr Unwesen getrieben haben und eine Anzeige aufgebrummt bekommen. „Harry Potter“ ist wunderbar, weil Hogwarts, die Winkelgasse sowie die magische Welt als ganze den Muggeln für gewöhnlich zwar unzugänglich sind. Unbestreitbar bildet sie jedoch die fiktionale Realität von Roman- und Filmzyklus. „Sherlock“ ist unheimlich, weil bei den Morden nicht immer alles mit rechten Dingen zuzugehen scheint. Dennoch entschlüsselt die scharfe Rationalität des Titelhelden die realistischen Tathergänge. Zwischen beiden Erklärungsangeboten fügt Todorov nun das „Phantastische“ als eine dem Erzähltext eingeschriebene „Unschlüssigkeit“ darüber ein, welche der beiden Erklärungen nun Anwendung zu finden habe. Letztlich wirft phantastisches Erzählen dann die unklärbare Frage auf, ob wir uns in einer realistischen oder einer wunderbaren Fiktionswelt bewegen. Unsere Phantasie wird herausgefordert, jedoch nie an einen Schlusspunkt geführt. Inwiefern dürfen wir ihr Vertrauen schenken und wo leitet sie uns in die Irre? Woher wissen wir, dass es sich nicht um einen Holzweg handelt, auf dem das Klopfzeichen hallt? Sagt uns die Logik, wann unsere Phantasie nichts als ein irrlichternder Trugschluss bleibt? Oder führt uns gerade die Logik in die Irre, weil auch sie eine Funktion des menschlichen Geistes ist?
Die Geräusche, welche den Anfang dieses Essays machen, könnten auch den Anlass zu phantastischem Erzählen ausmachen. Wie ist mit diesen seltsamen Geräusch-Erscheinungen umzugehen? Wo liegt ihr Ursprung? Wer oder was bringt sie hervor? Menschen von naturwissenschaftlicher Nüchternheit werden womöglich annehmen, es handle sich um einen Holzwurm. Anschließend werden sie nach weiteren Indizien für den Schädling Ausschau halten. Finden sie keine Sägemehl-Häufchen und können keine Ausfluglöcher der gereiften Käfer entdecken, werden sie womöglich annehmen, das Holz habe sich witterungsbedingt verzogen. Damit hat es sich – sollte zur Einsturzgefahr keine Sorge bestehen. Der Fall scheint geklärt. Auch die tags darauf vermisste Lesebrille und die eigentümliche, von keinem Leck verursachte Wasserlache unter der Waschmaschine erregen keinen Verdacht. Ganz anders hingegen bei Menschen, die sensibel für Zeichen dessen sind, was außerhalb des Gewohnten liegt. Sie suchen und finden die Spur des Okkulten, welche vom Klopfen und Stöhnen, über die vermisste Brille und die Pfütze zur Großtante führt. Diese selbst kinderlose Verwandte war vor 12 Jahren unter mysteriösen Umständen ums Leben gekommen. Das immer wieder auftretende Klopfen dekodieren die Hinterbliebenen nun als Morse-Botschaft aus dem Jenseits – und fördern eine grausame Wahrheit zutage. Diese zwei Arten, eine sinnvolle Vorstellung von einem erzählten Ereignis zu erzeugen, balanciert phantastisches Erzählen zu einer perfekten Unentschlossenheit. Niemand weiß, was genau geschehen ist. Nur DASS etwas geschah, davon legt die sich in wildesten Mutmaßungen oder nüchterner Beschränktheit äußernde Phantasie Zeugnis ab. Das Ereignis selbst aber tritt niemals klar hervor, bleibt unfassbar. Auf die Spitze treibt es die klassische Phantastik, wenn sie beide Positionen in ein und dasselbe Erzählsubjekt zwängt. Die junge Gouvernante, die in Jenry James „The Turn of the Screw“ ihre Stelle frisch auf den Landgut Bly antritt, oder das namenlose und von einem beinahe ebensolchen Grauen heimgesuchte Tagebuchsubjekt in Guy de Maupassants „Le Horla“ werden schon seit langem als fiktionale Fälle von Schizophrenie behandelt. Doch konnte bislang niemand die fiktionale Inexistenz von wiedergängerischen Geistern auf Bly oder eines unsichtbaren Vampirs in den Gefilden von Rouen beweisen.
Am Anfang war ein Wort. Eine Metapher oder ein Missverständnis? Schwindel oder Zauberformel? Zeugnis oder Blendwerk? Prophezeiung oder Delirium? Ob wir erzählenden Worten oder den Aussagen fiktiver Personen Glauben schenken dürfen, bleibt unentscheidbar. Damit zielt die Phantastik gewissermaßen ins Herz der Fiktion und verweist auf die Phantasie, das Organ zur Konstruktion einer Lebens- als Sinnwelt. Wie jedes andere Zeichen auch hat ein Wort einen eigenen physischen Körper, dessen Schatten über seiner Bedeutung liegt. Diese Dichte durchdringen wir nur mit der Phantasie. Worte und Texte daher sind ein besonders beliebter Gegenstand phantastischen Erzählens: sie sind Produkte des menschlichen Geistes, Ausgeburten der Einbildungskraft. Sie sind Spuren einer Sinnsuche und Zeugnisse menschlichen Erlebens. Doch wie verlässlich sind sie? Sind die Autor*innen vertrauenswürdig? Schwanken sie gar selbst im Urteil über ihre Erfahrungen? Wollten sie einen höheren Sinn in ein allegorisches Gewandt kleiden? Oder hat sich alles buchstäblich so zugetragen, wie es die zum Text verschränkten Worte behaupten? Löst sich der Text in eine rationale Erklärung auf oder bestreitet er eine konventionelle Realitätsauffassung? Und hier liegt ein Eigenart phantastischen Erzählens: Nicht nur Ereignisse einer Fiktionswelt, sondern die Worte, durch die sie erzeugt werden, sind undurchsichtig. Umso mehr solche Worte, die innerhalb der Fiktion gesprochen, gelesen und gehört werden. Sie bilden eine okkulte Spur, deren Ziel, deren Bedeutung immer ungewiss bleibt. Machen wir einen kleinen Umweg:
Für eine in literarischen und cineastischen Zusammenhängen beliebte Erzähltechnik hat der Narratologe Gérard Genette den Namen „Metalepse“ geprägt. Gemeint ist damit der Übertritt einer Figur aus einer Rahmenerzählung in eine Binnenerzählung – oder umgekehrt. Woody Allen hat sich der Metalepse gern bedient: im Film „Purple Rose of Cairo“ (1985) etwa, wo sich die Kellnerin Cecilia mit ihrem von der Kinoleinwand gestiegenen Traummann aus einem tristen Alltag zu retten wähnt. Bekannt aus der Kinder- und Jugendfantasy sind die Metalepsen von Bastian Balthasar Bux in „Die unendliche Geschichte“ oder das Herauslesen von fiktionalen Charakteren aus der „Tintenwelt“. Dem Todorovschen Kriterium nach, können sie allerdings nicht als Fälle phantastischen Erzählens angesehen werden. Vielmehr sind sie „wunderbar“, weil die Metalepse unbezweifelt bleibt. Oder nicht? Ist Fantasien nicht eher das Psychorama eines halb verwaisten Außenseiters? Und auch bei Woody Allen bleibt ein Hauch der Ungewissheit. Ein populäres Beispiel für eine dezidiert phantastische Metalepse gibt „Life of Pi“ ab, denn die Existenz des Tigers wird am Ende in Zweifel gezogen. Ob er womöglich ein Produkt der mildernden Einbildungskraft in der Konfrontation mit einer lebensbedrohlichen Situation war? Ob es als solches hat Realität gewinnen können? Oder bleibt es bei einer psychonanalytisch zu befragenden Projektion einer Schutzphantasie? Hier scheint alles denkbar.
Übrigens ist die Metalepse ursprünglich eine rhetorische Figur und mit der Metapher verwandt. Sie betrifft das Wahrwerden dichterischer Phantasien und das Eintreten von Dichter*innen und Leser*innen in diesen Ideenkosmos. Und wie eine Metapher besteht auch sie aus einer Überlagerung zweier Bedeutungen: der eigentlichen und der übertragenen. Diese Spannung im Interpretationsangebot löst ein phantastischer Text nicht auf. Gerade das Spiel mit der Einbildungskraft in der Konfrontation mit mehrdeutiger Sprache gehört zu den Eigenarten des Phantastischen. Sie erhöht die Deutungsungewissheit, indem sie widersprüchliche Spuren auslegt, in denen die eindeutige Fährte versickert.
Eine solche okkulte Fährte legt auch „Tlön, Uqbar, Orbis Tertius“ von Jorge Luis Borges aus. Ein namentlich nicht festgelegtes Erzähl-Ich stolpert über einen rosenkreuzerähnlichen Geheimbund und dessen phantastische Ideologie. In einer eigentümlichen Enzyklopädie hat dieser Geheimbund die Kulturen auf einem von seinen Gründern ersonnenen, fiktiven Planeten beschrieben. Gegen Ende seiner Berichterstattung lässt das Erzähl-Ich durchblicken, diese Gedankenwelt sei im Begriff – mit welchen Mitteln auch immer – die Grenzen der Buchdeckel zu überschreiten: „Hier brach die phantastische Welt zum ersten Mal in die reale Welt ein.“ Die phantastische Metalepse fragt danach, wie das Wahrwerden von Produkten der Einbildungskraft gelingt: Sprung aus einer fiktionalen Metaphysik oder Nachahmung eines allegorischen Modells?
Die Worte selbst sind für uns Leser*innen ungewisse Ereignisse, deren Sinn sich nicht eindeutig bestimmen lässt. Phantastik spielt auch auf dieser Ebene mit Ambiguitäten und lässt uns die Unsicherheiten der erzählten Figuren in der Auseinandersetzung mit dem Erzähltext selbst miterleben. Mit einem Extremfall von Zeichenundurchsichtigkeit hat es der Student Anselmus in E.T.A. Hoffmanns „Der goldene Topf“ zu tun, der sich beim wunderlichen Archivarius Lindhorst als Kopist verdingt. Die abzuschreibenden Dokumente sind in einem Alphabet aus Moos und Flechten verfasst. Anselmus kann sie nicht dechiffrieren. Als phantasiebegabter Mensch deutet er sie als Spuren des Zauberreichs Atlantis. Dieses undurchsichtige Alphabet ähnelt dem vagen Geräusch, welches in diesem Essay den Anfang machte. Literatur, zumal die phantastische, sieht in ihrer Welt einen Text, in dem Ereignisse und Dinge Worte sind, die einen verborgenen Sinn enthalten. Wie in „Tlön, Uqbar, Orbis Tertius“ deuten sie ungewisse, zögerliche Metalepsen aus einer einfallsreichen Metaphysik an: wie aus der tlön’schen Enzyklopädie könnten Ideen eines phantastischen Reichs in die Realität eingefallen sein. Phantastische Literatur legt ihre Fiktionswelt und die Produkte der in sie eingeschriebenen Einbildungskraft aus, so wie wir ihre Worte mit Phantasie deuten. In der phantastisch erzählten Welt befähigt die Einbildungskraft sogar zu Interpretationen in Fleisch und Blut. Ihre Realisierung jedoch – so kehren wir zu Todorov zurück – bleibt stets ungewiss.
Florian Kniffka
Nachweise über die verwendete Fachliteratur in der Reihenfolge ihrer Erwähnung:
Todorov, Tzvetan: Einführung in die fantastische Literatur, aus dem Französischen von K.
Kersten, S. Metz und C. Neubaur. Erschienen bei Wagenbach: Berlin 2013.
Genette, Gérard: Métalepse. Erschienen bei Éditions du Seuil: Paris 2004.
Florian Kniffka ist Absolvent der Allgemeinen und Vergleichenden Literaturwissenschaft sowie der Philosophie an der Goethe-Universität zu Frankfurt a.M..