Geschrieben am 1. September 2019 von für Crimemag, CrimeMag September 2019

Textauszug: Stephen Hunter „Nacht des Donners“

Graue Haare und Humpeln sind kein Zeichen für Ungefährlichkeit

Textauszug aus Stephen Hunter „Nacht des Donners“

Bob Lee Swagger hat gerade seine Wunden aus Japan ausgeheilt („Der 47. Samurai“ – CrimeMag-Kritik hier: „Werde Stahl oder du wirst geschnitten“), da wird seine Tochter, eine Investigativ-Reporterin, auf einer Bergstrecke in Tennessee von der Straße gedrängt und schwer verletzt. Aber sie haben sich mit der Tochter des falsches Mannes angelegt: Bob Lee Swagger, Ex-Marine und Scharfschütze, sucht die Verantwortlichen und nimmt es mit einem kriminellen Clan auf. Dabei kommt er einem Coup in die Quere, bei dem mitten im NASCAR-Rennen auf dem Bristol Motor Speedway ein prallvoller Geldtruck ausgeraubt werden soll.
Für Stephen Hunter begann das Buch, als er den Speedway bei Nacht sah, voller Fans, Verrückheit und Fröhlichkeit. Er dachte sich: Was die brauchen, ist eine gute Schießerei! Die National Association for Stock Car Auto Racing ist ein amerikanischer Motorsportverband, bei dessen Rennen nur streng reglementierte Rennfahrzeuge mit Tourenwagen-Silhouetten über Gitterrohrrahmen zum Einsatz kommen. Das Antriebskonzept, ein 5,7 Liter großer V8-Motor mit zentraler Nockenwelle und Hinterradantrieb, spiegelt den technischen Stand der frühen 1970er-Jahre wieder. Die Geschichte der NASCAR begann in der Zeit der Prohibition in den Vereinigten Staaten. Große Schmugglerringe transportierten nachts selbsthergestellten Alkohol quer durch die USA. Um den Streifenwagen der Polizei entkommen zu können, frisierten die Schmuggler – auch „Bootlegger“ genannt – ihre Autos und entwickelten auch gewagte Fahrmanöver. Zum Beispiel den Bootleg-Turn, eine 180° Wendung mit Vollgas, der verhinderte, dass die Fahrer an Straßensperren geschnappt wurden. Auch begannen die Bootlegger, an Wochenenden Autorennen abzuhalten, so Wikipedia.

Pünktlich zum 60. Jubiläum der NASCAR legte Stephen Hunter 2008 dann „Night of Thunder“ vor, seinen fünften Roman mit Bob Lee Swagger. In den USA ist gerade Swagger Nr. 11 erschienen, „Game of Snipers“. Some way to go also, aber wenn es den Verleger Frank Festa nicht gäbe, wäre Stephen Hunter bei uns überhaupt nicht mehr zugänglich. Ein zweiteiliges Stephen-Hunter-Porträt von Alf Mayer, das sich dann zu einer achtteiligen „Kulturgeschichte des Scharfschützen“ entwickelte hier, hier und hier: „You gotta think ahead of your gun!“

Nun aber mit Vollgas in die „Nacht des Donners“. Mit freundlicher Genehmigung des Verlages – und mit Grüßen von Stephen Hunter, den es freut, in Deutschland wieder verlegt zu werden – präsentieren wir Ihnen ein Kapitel.

Kapitel 12

Die Grumleys waren die Special Forces der Südstaatenkriminalität. Der Reverend zog sie auf, erteilte ihnen Hausunterricht, brachte ihnen das A und O des Verbrechens bei: Gewalt, Gaunereien, Schwindel, Diebstahl und Mord, genau wie die älteren Generationen es an ihn weitergegeben hatten. Er hielt sie in der Abgeschiedenheit des Grundstücks auf dem Berg, auf halber Strecke zwischen Hot Springs und Polk County in Arkansas. Sonntags predigte er von Höllenfeuer und Verdammnis, um seine Zulassung als Religionslehrer und die exzellente Tarnung, die diese bot, zu behalten. Die Familie war das Einzige, dem er vertraute; sie war das magische Band, das die Grumleys unbesiegbar machte. Kein Grumley hatte je ein Familienmitglied oder einen Auftraggeber verraten, das war wohlbekannt und machte die Grumley-Magie aus.

Um das Unternehmen am Laufen zu halten, musste der Reverend sich jedoch in heroischem Ausmaß vermehren. Sein eigentliches Produkt waren seine Nachkommen. Glücklicherweise war er ein Mann, der seine wahre Berufung gefunden hatte, und auf Frauen hatte er eine besondere Anziehungskraft. Er war sieben Mal verheiratet gewesen, und keine von ihnen hatte ihn verlassen. Die Scheidungen waren eine reine Formalität, um nicht mit dem Gesetz in Konflikt zu geraten – manche der Mädchen wussten vielleicht nicht einmal, dass sie geschieden waren. Er hatte mit ihnen allen Kinder gezeugt, außerdem mit dem Großteil ihrer Schwestern und auch der einen oder anderen Mutter. Einmal hatte er sogar für eine Weile eine Affäre mit Ida Pye aus Polk County gehabt, und aus dieser Verbindung war sein Wunderknabe Vern hervorgegangen. Bei all seinen Fähigkeiten hatte Vern jedoch einen Fehler: seinen Stolz, der sich in seiner Weigerung gezeigt hatte, den Namen Grumley anzunehmen. Altons Brüder steuerten ebenfalls ihren Samen bei, und das Ergebnis all dieser genetischen Kreuzungen und der endlosen Nächte der Fickerei war ein Verbrecherstamm, der alles andere als Abschaum war, viel disziplinierter als das übliche Gesindel. Und vielleicht das Beste von allem: Sie waren nicht die hellsten Kerzen auf der Torte. Ein Zuchtprinzip der Grumleys bestand darin, Intelligenz zu meiden. Wenn ein Junge oder Mädchen mit einer ungewöhnlichen geistigen Begabung zur Welt kam, wurde er oder sie weit weg zu einer Privatschule geschickt, dann zum College, dann ins Exil. Diese Kinder führten ein begütertes, wenn auch einsames und entwurzeltes Leben, ohne je zu erfahren, dass ihr IQ sie zu diesem Dasein verdammt hatte. Ihre überlegene Intelligenz führte bekannterweise zu einer Unterlegenheit in kriminellen Dingen, denn sie verfügten über Einbildungskraft, Selbstreflexion, Neugier und manchmal auch über die für einen Verbrecher schlimmste Eigenschaft: einen Sinn für Ironie. Sie waren das reinste Gift. 

Unter den Gangsterbossen der Südstaaten war bekannt, dass ein Grumley im Team Erfolg bedeutete. Die Grumleys waren harte, abgebrühte, loyale Söldner. Sie konnten töten, rauben, betrügen, verprügeln und einschüchtern, wen sie wollten. Wenn eine Mafiafamilie aus Atlanta wollte, dass ein Informant aufgespürt und eliminiert wurde, war ein Grumley der richtige Mann für den Job. Wenn eine Bank in Birmingham ausgeraubt werden musste, kümmerte sich ein Grumley-Team darum. Wenn in New Orleans ein Gerangel um die Macht entstand, legte eine Grumley-Faust den Konflikt bei. Wenn in Grambling, Louisiana, ein Kredit überzogen wurde, schickte man einen weißen Grumley, und es war allseits bekannt, dass dieser bei der Anwendung von Gewalt fair und sauber vorgehen, niemals das Wort »Nigger« benutzen und somit keinen Unmut erregen würde. Er würde kommen, zuschlagen, das Geld einsammeln und wieder gehen. Es war nur ein Geschäft, und dieser hohe Grad von Professionalität wurde von allen respektiert. 

Bekannt war auch, dass ein Grumley nicht leicht zu töten war – auch das machte ihren Ruf aus. Wenn er musste, lieferte er sich eine Schießerei mit dem kom- pletten FBI. Er starb mit einer Pistole in jeder Hand, mit rauchenden Colts, wie im goldenen Zeitalter der Desperados. Es machte ihm nichts aus, zu schießen; es machte ihm nichts aus, unter Beschuss zu geraten, und es war ihm gleichgültig, ob er 1000 zu eins in der Unterzahl war. An Verhandlungen war er nicht interessiert. Das bedeutete natürlich, dass die Cops sich, wenn irgend möglich, von ihm fernhielten. Wenn das nicht möglich war, fassten sie die Grumleys hart an, weil sie sie zutiefst fürchteten. Hier gab es keine Liebe, keine Sentimentalität oder Nostalgie. Die Cops hassten – hassten – die Grumleys, und diese erwiderten ihren Hass mit aller Härte und Gemeinheit. 

Sie wurden für ihre Arbeit gut bezahlt. Deshalb war es umso erstaunlicher, dass nun zwölf der Jüngsten und Vielversprechendsten unter ihnen von ihren einträglichen Unternehmungen in dieser Kleinstadt oder jener Großstadt abgezogen worden waren und sich unter dem wachsamen Blick des Reverends in diesem abgelegenen Gebiet des baptistisch geprägten Tennessee versammelt hatten. Sie waren hier, um einen Coup durchzuführen, den sie selbst nicht ganz begriffen, und das unter der Aufsicht eines merkwürdigen Kerls, der sich Bruder Richard nannte – genau genommen nannten sie ihn so; er selbst gab sich überhaupt keinen Namen. Er brachte ihnen nicht bei, Safes zu knacken, Alarmanlagen kurzzuschließen oder sich in Datenbanken zu hacken, sondern wie man mit hoher Geschwindigkeit Truck-Reifen wechselte. Das war eigentlich alles – abgesehen von den ganzen Schießübungen, und Junge, Junge, die versprachen eine Menge Spaß! Aber solche körperliche Arbeit, noch dazu unter einem so arroganten und grausamen Anführer, war unter ihrer Würde. Der Reverend bestand jedoch darauf, und in der Welt der Grumleys war sein Wort Gesetz. Er verkaufte Gehorsam und Loyalität, und ihre Aufgabe war es, Gehorsam und Loyalität zu bieten. 

Und so kam es, dass zwei Grumleys, harte Kerle namens B.J. und Carmody, zur Beobachtung des Daddys dieses verfluchten Mädchens abgestellt wurden, der sich in Mountain City herumtrieb. Was sie dort sahen, war ein alter Knacker mit kurz geschorenem, weißgrauem Haar und stark hinkendem Gang. Bei der Frage, was er wirklich darstellte, waren sie geteilter Meinung. 

B. J.s Standpunkt war ganz klar. 

»Herrgott, der ist nichts weiter als’n alter Mann. Das hier ist Zeitverschwendung. Der Opa da kriegt doch nichts auf die Reihe. Wenn man dem ins Ohr pustet, fällt er um.«

Aber Carmody, seines Zeichens bewaffneter Räuber und gelegentlich auch Auftragskiller, war anderer Auffassung. 

»Ich weiß nicht, Bruder. Er sieht alt aus, er bewegt sich wie’n Alter. Aber mir gefällt nicht, wie braun gebrannt er ist. Wenn er braun gebrannt ist, heißt das, dass er viel draußen ist, und wenn er viel draußen ist, dann ist er vielleicht rüstig und zäh. Ich würd mir sein Gesicht gerne mal aus der Nähe anschauen und sehen, wie alt er wirkt. Vielleicht hat er gar nicht so viele Falten. Ich weiß nur, dass graue Haare und ein Humpeln jemanden alt und schwach aussehen lassen, aber die Dinge sind nicht immer so, wie sie aussehen. Der hat vielleicht Sachen drauf, die uns überraschen könnten.« 

»Du bist’n Trottel, Carmody. Ich sage, wir gehen da rein, knöpfen ihn uns vor und sagen ihm, dass das hier nicht die richtige Gegend für ihn ist und dass er mal besser zurückgeht in sein Altersheim. Und dann schauen wir zu, wie er abhaut. Der wird rennen wie ein Karnickel, das garantier ich dir.« 

»Der Kerl ist gerissen, das sag ich dir. Manche Männer sind das von Natur aus. Die durchschauen die Lage, kriegen, was sie wollen, und haben’s nicht nötig, sich aufzublasen wie irgendwelche abgewrackten, weißen Schlägertypen – diese Typen mit den Stiernacken, die die Italiener für so hart halten. Mann, ich wünschte, ich hätte ’nen Dollar für jeden von denen, den ich umfallen und nicht wieder aufstehen gesehen hab …« 

»Du hast einen Dollar für jeden von denen.« 

»Weißt du was, du hast recht. Jedenfalls bin ich mir alles andere als sicher, ob der Kerl da nicht von Natur aus gerissen ist.«

  • Stephen Hunter: Nacht des Donners (Night of Thunder, 2008). Aus dem Amerikanischen von Patrick Baumann. Festa Verlag, Leipzig 2019. 412 Seiten, 14,99 Euro.

Exklusiv bei CrimeMag und übersetzt von Susanna Mende: Wie Stephen Hunter zu Bob Lee Swagger fand.
Alf Mayer über Bob Lee Swagger Nr. 10: G-Man: Ballistische Zelebration.

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