Geschrieben am 1. August 2020 von für Crimemag, CrimeMag August 2020

Textauszug Maria Lazar „Leben verboten!“

Hingeweht wie ein Blatt im Wind

Ein Auszug aus dem ersten Kapitel

Maria Lazar: Leben verboten! Mit einem Nachwort herausgegeben von Johann Sonnleitner. Das vergessene Buch, DVB Verlag, Wien 2020. 384 Seiten, 26 Euro. –Erstmals 1934 im englischen Exil erschienen als „No right to live“.

Ein Identitätsthriller, den es bisher nur in einer gekürzten englischen Exilausgabe aus dem Jahr 1934 gab. Eine Autorin, die es an Eleganz mit Walter Serner aufnehmen kann und die es wieder- oder besser: überhaupt erst zu entdecken gilt. Ein Textauszug aus dem ersten Kapitel möge Ihnen einen ersten Eindruck geben. In den nächsten Tagen finden Sie hier auch eine Rezension. Nun aber O-Ton Maria Lazar:

Er muß nur um die nächste Ecke biegen durch Wind und Regen, da schreien schon die Kolporteure auf der Straße: Furchtbares Unglück bei Höflingen! Das Flugzeug Berlin–Frankfurt abgestürzt! Acht Passagiere verbrannt! Furchtbares Unglück –

Ufermann reißt dem nächsten Verkäufer beinahe das Blatt aus der Hand. – Furchtbares Unglück bei Höflingen! Zehn Pfennig, mein Herr! Das Flugzeug Berlin-Frankfurt abgestürzt! Acht Passagiere –

Die Stimme des jungen Burschen schnappt ab. Aber von der anderen Straßenecke grölt ein Bierbaß herüber: – Aeroplan verbrannt! Aeroplan verbrannt!

Diese Zeitungsverkäufer sollten nicht so tun, als ob sie sich Gott weiß wie aufregten. Doch das gehört wohl zu ihrem Geschäft, das heut nicht gut zu gehen scheint, die meisten Vorübergehenden stutzen nur einen Augenblick lang und eilen dann weiter. Am besten ist es, sich möglichst unauffällig zu benehmen, Ufermann faltet das Blatt unter der nächsten Laterne auseinander.

Da guckt ihm jemand über die Schulter: – Sie gestatten doch? Und ein anderer zupft ihn am Ärmel: – Nur einen

Blick, wenn Sie nichts dagegen haben. Ein Paar tiefliegende Augen sehen ihn aufmerksam an: – Ist es wirklich wahr, daß acht Passagiere –? Und eine Frauenstimme lispelt: – Man kann die Leichen gar nicht zählen.

Der kleine Menschenhaufen stiebt plötzlich wieder auseinander, denn der Herr mit der

Extraausgabe hat sich losgerissen, rennt davon wie ein Besessener, die Schultern hoch, den Kopf gesenkt. Was ist mit ihm? Man sollte es nicht für möglich halten. Hat ihm doch keiner was getan. Um eine Gefälligkeit wird man noch bitten dürfen. So wie die Zeiten heute sind, hat nicht ein jeder gleich zehn Pfennige, um sie fürs nächste beste Flugzeugunglück auszugeben. Es passiert auch noch anderes auf der Welt. Schlimmeres. Aber die Leute sind eben so, keine Spur von sozialem Empfinden, jeder hält nur fest, was er gerade hat, und wenns nichts anderes ist als ein schäbiges Zeitungsblatt.

Ufermann drückt es an sich, dieses Zeitungsblatt, während er auf den nächstbesten Autobus springt. Man wird ihn doch nicht schon erkannt haben, sein Bild soll ja bereits veröffentlicht sein. Das alte Mütterchen, das ihm gegenüber mit einer großen Einkaufstasche sitzt, nickt ihm zu wie einem Bekannten. – Ja, ja, haben Sie es auch schon gelesen. Das kommt von den verrückten Erfindungen. Müssen gleich durch die Luft fliegen, die Leute, können nicht mehr auf ihren zwei Beinen gehen. Ja, ja. Nun sind sie kaputt, alle miteinander. Wie mein Mann immer sagt: hinterher kommt es sauer. Nun kann man nicht mal mehr die Knochen begraben. Und waren lauter feine Herrschaften dabei. Unsereiner kommt natürlich nicht zu solchen Späßen. Nun sind sie kaputt.

Spricht denn die ganze Stadt von nichts anderem?

Ufermann steigt nach einigen Haltestellen aus, er wendet sich gezwungen langsam, mit gemessenen Schritten einer dunklen Seitenstraße zu. Niemand soll ihm anmerken, daß er verbotenerweise hier geht. Wieso übrigens verbotenerweise? Er kann doch jederzeit hervortreten und sagen: Mein Name ist Ufermann. Ernst von Ufermann. Erlauben Sie, daß ich mich vorstelle? Gestatten Sie, daß ich noch lebe. Jawohl, noch lebe. Das ist nämlich mein gutes Recht. Die Leute würden Augen machen. Nicht acht Passagiere, sondern nur sieben? Jawohl, nur sieben. Hurra, ich lebe. Was, Sie leben?

Und da er fest entschlossen ist, sich das Leben nicht verbieten zu lassen, umso mehr, als er einen ganz infamen, einen mörderischen Hunger verspürt, tritt er wieder zurück auf die strahlend beleuchtete breite Straße. Der Regen hat ausgesetzt, im nassen Asphalt schwimmen rote und blaue Reflexe. Von weitem hört er: Furchtbares Unglück – Berlin – Frankfurt –Aeroplan – Passagiere…

Und an ein besonders helles Schaufenster gelehnt, liest er nun endlich seine Zeitung mit einem Gesicht, als überflöge er die neuesten Devisenkurse.

Ja, da steht es: es ist Schluß mit ihm, aus und vorbei. Beinah zum Lachen. Aber die anderen alle sind wirklich tot und wirklich verbrannt. Der Direktor der I. G. Farben, der belgische Ingenieur, die beiden älteren Damen aus Philadelphia, Herr Kauder aus Frankfurt, ein junger Mann mit slawischem Namen und ein Fräulein Melzel. Zu denen allen gehört er und ihnen allen ist er entwischt.

Und da er der einzige Passagier aus Berlin ist, ein Mann, in seinen besten Jahren, Chef einer alten und hochangesehenen Firma (oder zweifelt jemand daran, daß die Firma alt ist, hoch angesehen, und als solche feststeht,

unerschütterlich fest), da er ein Mensch nicht ohne Bedeutung im Finanzleben und auch im Gesellschaftsleben ist, bekommt er einen Zweispalter als Nachruf. Er ist zwar nicht am 22. Februar geboren, sondern am 23. und er hat nicht in Heidelberg studiert, sondern in Bonn, aber das sind Kleinigkeiten. Und sein Bruder Gerhard ist wirklich in Flandern gefallen. Was diese Journalisten alles wissen und noch dazu alles zusammenschreiben. Energisch, hochbegabt und zielbewußt, eine Persönlichkeit, wie man sie heute in der Wirtschaft braucht etc. etc. Über Albert Ebel hatte man sich anders ausgedrückt. Der war aber auch erst zugrunde gegangen. Und die gebrochene junge Witwe. Das soll wohl Irmgard sein. Die arme kleine Alice Ebel wurde zu keiner Witwe. Und das Photo rechts in der Ecke. Das soll er selber sein. Wie ein Falschmünzer sieht er aus. Und dann natürlich noch zum Schluß die Geschichte von der Lebensversicherung. Des Langen und Breiten. Wie, was, was steht da gedruckt? „In weiser Vorsorge…“

Ufermann steckt die Zeitung in die Tasche und blickt in das Schaufenster vor sich. Pelzmäntel.

Wenn er jetzt nachhause kommt, so wird Irmgard natürlich sehr glücklich sein, sie kann ja gar nicht anders, sie wird nicht einmal was über die gestohlene Brieftasche sagen, heute nicht, vielleicht auch morgen nicht. Aber in einer Woche oder in zehn Tagen kommt es ja doch zum großen Krach. Da hilft kein Hebenberth, da hilft kein Herrgott mehr. Und Irmgards bester Pelz läßt auch schon Haare. Der graue dort würde ihr nicht schlecht stehen oder sogar noch besser der braune. Aber sie ist ja in Trauer, sie kann höchstens einen schwarzen haben, den Breitschwanz links, der ist gewiß ganz unermesslich teuer, auf dem steht überhaupt kein Preis, aber das macht jetzt nichts.

Irmgard in Trauer. Ist sie denn in Trauer?

Er hat sie einmal sehr geliebt und er liebt sie auch heute noch. Sie ist so zart, so schutzbedürftig und so mädchenhaft, und wenn sie fiebert, muß sie nach Davos, man kann sie nicht in eine Etagenwohnung bringen oder gar in ein Hinterhaus. Man müßte sich das alles zumindest erst rechtzeitig und ganz langsam überlegen, in weiser Vorsorge vernünftig überlegen, obwohl das nicht so einfach ist, wenn man frierend vor Nässe auf der Straße steht, die Pelzmäntel hängen plötzlich alle schief, die Lichter schwanken, ein Vorübergehender blickt erstaunt auf den Herrn, der an dem Schaufenster lehnt, und dieser erinnert sich eben noch, daß er hungrig ist.“

**    ***

In der nächsten Kneipe bestellt er Beefsteak und Bratkartoffeln und Reis und Kompott und Butter und Käse und Bier. Auf dem fleckigen Tischtuch liegt ein zerbrochener Zahnstocher, die Uhr tickt auffällig, noch sind nicht viele Gäste gekommen und das Eisenöfchen strahlt eine brütende Wärme aus. Er verschlingt die ersten Bissen, kaut nicht einmal, mit solcher Gier hat er noch nie gegessen, solche Gier gibt es eben nicht, wo das Tischtuch sauber ist und das Besteck aus Silber, wo Katinka ganz selbstverständlich zur Tür hereingetrippelt kommt mit vollen Schüsseln, die man nie beachtet hat. Ob sie auch heute Abend –

Ach, heute abend denkt in seinem Haus niemand an Essen. Gott weiß, ob überhaupt gekocht wurde. Katinka hat ihm auch das Bett nicht gerichtet, sie traut sich gar nicht in sein Zimmer, es steht leer wie eine Grabkammer. Alle sind um Irmgard bemüht und wohl auch um Mama. Sanitätsrat Jaksch ist da, der alte treue Freund der Familie, und Paul und irgendwelche überflüssige Verwandte, ganz so wie damals, als Gerhard gefallen war. Arme Mutter. Sie hat ja Gerhards Tod bis heut nicht überwunden, das Leben bedeutete ihr seitdem nichts mehr, sie hat es oft genug gesagt. Beinahe beleidigt war sie gewesen, als der andere Sohn dann später heil aus dem Kriege zurückkam. Gerhard war aber auch der Ältere und viel, viel tüchtiger, unter seiner Leitung wäre die Firma niemals zugrunde gegangen, er hätte immer Auswege gefunden trotz Krise, Überproduktion und Zwangswirtschaft, er hätte längst ein Bankguthaben in der Schweiz beschafft und schlimmstenfalls den alten Hebenberth um seinen kleinen Finger gewickelt. Wogegen er selbst, der jüngere Sohn, der unfähige, in „weiser Vorsorge“ an nichts anderes gedacht hatte als an die amerikanische Lebensversicherung, und auch das nur, weil Paul so sehr dafür gewesen war. Die allerdings ist keine Kleinigkeit, zumindest jetzt, in diesem Augenblick, nun sind sie alle fein raus, um mit Lilos Mundwerk zu sprechen, nun sitzen sie alle in seiner schönen und behaglichen Villa und trauern, nun haben sie es alle einfach, unverschämt einfach.

Während er merkt, daß die stickige Kneipe sich füllt und der Kellner ungeduldig in seiner Nähe herumstreicht. Man kann nicht ewig in so einer Kneipe bleiben, auch andere Gäste wollen hier was essen, es ist zwar nicht gerade verboten, sich allzu lange aufzuhalten, aber da der Herr gegenüber nun auch eine Zeitung aus der Rocktasche zieht, in der vielleicht ein Photo abgebildet ist –

Also wieder hinaus in die dunkle und triefende Nässe. Aber wohin nur die Schritte wenden? Es ist ja ganz gleichgültig, ob man nach rechts geht oder nach links, den Fahrdamm überquert oder um den kleinen Platz herumschlendert. Und es gibt viele solche Plätze, von denen ringsum schnurgerade Straßen ausstrahlen, sie sind sich alle gleich, diese Plätze, diese Straßen, so entsetzlich gleich, daß sie einen Dschungel bilden, in dem man sich verirren kann, ein geordnetes, einen geometrisches Dschungel, „ohne Mittelpunkt und ohne Ziel. Wo ist der Herr, der sich heut Morgen in lauer Herbstsonne auf weichen Pneus von seinem Chauffeur der Millionenstadt zuführen ließ, tief in seinem Wagen lehnte und zuhause war im Trubel unbegrenzter Möglichkeiten – hier geht ein Ausgestoßener, ein Fremder, der sich bemüht, die Straßenschilder zu lesen, als ob er dadurch sich zurechtfinden könnte.

Heißt das jetzt Nolden– oder Neldenstraße? Den Namen hat er jedenfalls noch nie gehört. Da legt sich eine Hand auf seine Schulter.

– Wo wollen Sie hin?

Sicher ein Schutzmann. Nur um Gotteswillen das Gesicht nicht zeigen.

– Lassen Sie mich.

– Drehen Sie sich doch erst einmal um.

– Lassen Sie mich.

Die Hand drückt. Das ist eben eine feste, eine schwere Polizeihand.

– Sie haben kein Recht, mich zu belästigen.

– Sachte, sachte. Vielleicht wenden Sie mir endlich einmal Ihr edles Antlitz zu. Ich sah Sie schon an der Ecke dort drüben. Und da kam es mir gleich vor, als ob –

Ufermann fährt herum. Vor ihm steht ein hagerer Herr mit Vogelaugen und sehr roten Lippen.

– Was wünschen Sie von mir?

– Ich bin allein, ein einsamer Spaziergänger wie Sie. Das hat man in Berlin nicht notwendig. Sie sind wohl noch nicht lange in der Stadt mit Ihrem Köfferchen? Kommen vielleicht soeben von der Bahn?

Und der Herr blickt auf das Köfferchen.

– Wenn Sie mich vielleicht ein wenig jetzt begleiten wollten. Sehen Sie, wo das grüne Licht scheint, ist eine Weinstube, es gibt dort auch noch anderes als Wein.
Und der Herr verzieht seine roten Lippen, die sind ja geschminkt, die Zähne hinter ihnen stehen durcheinander wie dunkle Zaunpfähle, während die Wangen gepudert scheinen wie bei einem Clown.

– Falls Sie sich in einer augenblicklichen Verlegenheit befinden sollten, es kommt ja vor, besonders heutzutage –

Hat man schon je zu einem Herrn von Ufermann in solchem Ton gesprochen. Und dabei wagt der Kerl, ihm seine Spinnenhand vertraulich auf den Arm zu legen. Das ist ein Schwuler, wie sie jetzt zu Tausenden herumlaufen, an jeder Straßenecke finden sie ihr Opfer, man kennt sie auch aus den gewissen Lokalen, die man aus Neugier aufsucht, zwischendurch, zum Spaß. Man weiß von ihnen, aber man begegnet ihnen nicht, man verbittet sich jede Berührung.

– Darf ich Sie fragen, wo die nächste Untergrundbahn ist?

– Selbstverständlich, ich zeige Ihnen gern den Weg.

Und der hagere Herr geht neben Ufermann mit schleichenden Schritten. „Wenn dich ein fremder Mann anspricht, so folg ihm nie.“ Wie lange ist es her, daß man ihm das zu sagen pflegte. „Nie, nie, nie. Und wenn er dir auch noch so viel verspricht.“ Sollten die Gouvernanten so etwas gemeint haben, während sie den Knaben im gepflegten Park behüteten. Gott weiß, was dieser fremde Mann im Schilde führt, wohin er ihn jetzt bringen will –

– Na, na, mein Junge, laufen Sie nicht so.

Der Hagere stützt sich auf seinen Stock und starrt hinter dem Fliehenden drein. So ein Dussel. Sicher ein Provinzler. Dabei ein hübscher Mensch. Schneidig. Mit Rasse. Man sollt nicht glauben, was es heutzutag für Männer gibt. Schlappschwänze sind sie, alle miteinander.

** **

Dort leuchtet wirklich das blaue U der Untergrundbahn. Nur hinein in den nächsten Zug. Nach dem geometrischen Dschungel der Straßen und Plätze ist es angenehm hell zwischen dampfenden Mänteln, Regenschirmen, Aktentaschen und den dazugehörigen gleichgiltigen Gesichtern. Keiner hat hier Zeit für den andern, jeder denkt nur an sich, wie er am besten noch Platz finden könnte. – Das ist mein Fuß, mein Herr … Verzeihen Sie … Herrgott, ich muß heraus. Könnt ihr mich denn nicht durchlassen … Nur nicht so eilig … Unverschämt … Drängen Sie nicht … Was wollen Sie von mir. Ich habe mein Billet so gut wie Sie bezahlt…

Eigentlich sind sie alle böse aufeinander, weil sie es eilig haben, abgehetzt und müde sind, nachhause kommen wollen, überarbeitet oder voll Sorgen, daß sie am nächsten Morgen keine Arbeit haben. Sie gönnen ja einander kaum die Luft zu atmen. Man darf sie nicht reizen und so lange man nur nicht beachtet wird –

nd zupft Ufermann an seinem Ärmel), fahre ich hier recht zum Bahnhof Friedrichstraße?

– Das weiß ich nicht.

– Erlauben Sie – Sie wissen nicht, wohin Sie fahren?

Viele Augen sehen plötzlich auf ihn.

– Ich fahre nach Zehlendorf.

– Da sind Sie aber ganz falsch eingestiegen. Hören Sie nicht, falsch eingestiegen, hören Sie nicht, da fahren Sie ja ganz verkehrt. Sie müssen raus bei der nächsten Station, und dann die Treppe hinauf rechts. Der Herr fährt richtig, der Zug hier geht zum Bahnhof Friedrichstraße, der Herr kann bleiben, aber Sie müssen raus. Sie fahren falsch, so passen Sie doch auf … Der Zug hier kommt von Zehlendorf. Sie müssen raus, die Treppe rechts…
Alle reden sie jetzt durcheinander, sie sind bemüht um ihn, sie meinen es nicht schlecht, gewiß, er zieht den Hut, er dankt und er verbeugt sich, so gut es geht in dem Gedränge. Der Teufel soll sie alle holen, er kennt sie nicht, und wenn er zwischen ihnen jetzt verblutet wäre, sie hätten es wohl kaum bemerkt. Aber daß er in eine falsche Richtung fährt, das kümmert sie, weil das nun einmal nicht in Ordnung ist, da mengen sie sich ein, wegen der Ordnung, da werfen sie ihn gleich hinaus aus seiner letzten warmen Sicherheit, denn wohin soll er nun? Ach, danach wird ihn keiner fragen.

Er steht auf dem Perron, die Bahn fährt weiter und von den Überzähligen bekommt wenigstens einer seinen leeren Platz.

Kein Recht auf diesen Platz, er ist ja tot, verbrannt und abgestürzt, nicht einmal eine Leiche mehr, kein noch so armseliges Knochenhäuflein. Er hat kein Recht mehr auf sein gutes Bett, das unberührt in seinem Zimmer steht als wie in einer Grabkammer. Er hat kein Recht mehr auf sein Haus, sein Heim, was gibt es da noch viel zu überlegen, kein Recht auf seine Frau und auf sich selbst. Wie ein Eindringling irrt er herum in einer ihm plötzlich fremd gewordenen Stadt, wie einer, der hier nichts zu suchen hat. Hinaus mit dir, fort, weg, verschwinde, man braucht dich nicht.

So einsam können nur die Toten sein, die Vogelfreien und die Flüchtigen, die einst, in längst vergangenen grausamen Zeiten von Land zu Land gejagt wurden. Für solche gab es hin und wieder noch eine Klosterpforte, ein Asyl. Während er an düsteren Haustoren vorbei geht in Straßen, die er nie betreten hat, die er dem Namen nach nicht kennt, er weiß ja nicht einmal, wie die Untergrundstation hieß, an der auszusteigen er gezwungen war. Er weiß nur, daß es wieder zu regnen beginnt und daß er ein Dach suchen muß über seinem Kopf. Und da er ein moderner Mensch ist (sofern er überhaupt noch ein Mensch ist), ein Sohn des zwanzigsten Jahrhunderts, des Zeitalters der Technik und der Zivilisation, geht er in seinem Drang nach einem dunklen schützenden Versteck ins nächste Kino.

Mit freundlicher Genehmigung des Verlags Das vergessene Buch.

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