Geschrieben am 1. September 2021 von für Crimemag, CrimeMag September 2021

„Stay Away from Gretchen“

Gerhard Beckmann über den Debutroman von Susanne Abel

Susanne Abels Debütroman „Stay Away from Gretchen“ ist ein Roman über farbige GIs, junge deutsche „Negernutten“ und die „brown babies“. Ein Meisterwerk über die Traumata, in denen der Rassismus der Nachkriegszeit bis heute nachwirkt.     

Der neue Autorinnen-Name weckt hohe Lesehoffnungen. Denn Susanne Abel schließt soeben das Manusskript des Fortsetzungsromans ab, der von einer gleichen Substanz und literarischen Qualität ist.

Es ist eine spannende Lektüre, die dieser Roman uns bietet. Er fesselt so ungemein, auf eine solch schriftstellerisch perfekte, überzeugende Weise, dass ihn allein das schon empfehlenswert machen würde.  Für ihn spricht aber noch einiges mehr. Er stellt nämlich ein deutsches Frauenschicksal dar – eine Lebenslinie von fast neun Jahrzehnten von einer beeindruckenden Authentizität, die nur aus unmittelbaren persönlichen Beobachtungen, Erfahrungen und Erinnerungen rühren kann. Der Roman erzählt zudem – repräsentativ – die Geschichte einer deutschen Flüchtlingsfamilie, die sich gegen Ende des Zweiten Weltkrieges in höllischer Angst vor den Sowjetsoldaten und mit schrecklichen Erlebnissen unterwegs aus Ostpreußen bis ins Heidelberg unter amerikanischer Besatzung durchschlägt. Der Roman macht dabei die bundesdeutsche Nachkriegsgeschichte wieder lebendig, mit einer Anschaulichkeit, mit einer Genauigkeit, mit Einzelheiten und in Zusammenhängen, wie es nur einer erfahrenen Dokumentarfilmerin möglich ist. An dieser Stelle muss nun etwas zur Autorin des Romans gesagt werden. 

Susanne Abel, die in einem kleinen badischen Dorf nahe der französischen Grenze geboren wurde und heute in Köln wohnt, als Erzieherin und als Puppenspielerin ausgebildet wurde und dann an der Deutschen Film- und Fernseh-Akademie in Berlin studierte, mag hier ja als Romanschriftstellerin debütiert haben. Sie ist jedoch bereits als Autorin und Regisseurin zahlreicher Dokumentarfilme hervorgetreten und hat längst unter Beweis gestellt, wie professionell und präzise sie komplizierte soziale Gewebe und Verflechtungen in mühevoller Recherche-Arbeit freizulegen vermag und mit welch einer dramaturgischen Kunstfertigkeit sie gesellschaftliche Tatsachen und aktuelle Probleme mit verhangenen Hintergründen und verschütteten Tiefenschichten anschaulich und ebenso abgründig wie unterhaltsam zu gestalten weiß. 

Sie hat ihren Roman um ein bislang nur selten literarisch verarbeitetes Thema angelegt – um die „brown babies“. So wurden die Kinder – ihre Zahl wird offiziell mit mehr als fünftausend beziffert – (meist junger) deutscher Frauen mit farbigen Gis bezeichnet. Sie stellten ein politisches sowie soziales Problem der Nachkriegszeit dar. Die US- Militärbehörden verboten den GIs eine Verbindung mit deutschen Mädchen „aus pragmatischen Gründen“.  Bei ihrer Rückkehr vom Wehrdienst, so lautete die Warnung, würden sie – mit einer weißen Frau und Mischlingskindern – daheim Schwierigkeiten und Unruhe verursachen. In Deutschland wurden solche Frauen von der Bevölkerung als „Negernutten“ und die Kinder als „Mischlingskinder“ diskriminiert. Vom Ausmaß  dieser Formen von damaligem Rassismus hat man heutzutage kaum mehr eine Vorstellung. Susanne Abel bringt sie uns – wiederum ein großes Verdienst – hier greifbar nah; mit ihrer auf Fakten basierenden, dramatischen Erzählung von einer solch „unmöglichen“ Liebe.

Diese Erzählung hat, wie es in der Wirklichkeit jener Zeit häufig vorkam, ein trauriges Ende.  Das US-Militär verordnete dem GI einfach, über Nacht, so dass es incommunicado blieb, eine Zwangsversetzung in eine fernab gelegene Übersee-Kaserne. Und die weiße deutsche Frau verlor außer ihrem geliebten Mann obendrein, sofern bereits auf die Welt gekommen oder nach bevorstehender Geburt, in Tausenden von Fällen auch noch das Kind. Ihr wurde, als zurückgebliebener Alleinstehender anderer Nationalität, kein Sorgerecht zugestanden, der Nachwuchs  genommen und per anonymer Zwangsadoption ins Ausland vergeben (oder in ein Heim gesteckt), ohne dass ihr ein mütterliches Recht blieb, dem Verbleib ihrer Leibesfrucht nachzuforschen. So wie es auch der jungen Greta ergeht, der weiblichen Hauptfigur des Romans, die zur Zeit der gegenwärtigen Handlungsebene des Romans 84 Jahre alt ist.  

Das wäre schon schlimm und für die Leserin oder den Leser ergreifend genug. Es kommt aber noch ärger, wie sich herausstellt, als ihr Sohn – aus nachmaliger Verbindung mit einem weißen Deutschen – sich aus schlechtem Gewissen um die Mutter zu kümmern beginnt, der er sich vorher nie verbunden gefühlt hat. Sie leidet nämlich unter Demenz. Dabei kommen dunkle Vorfälle aus verdrängter Vergangenheit zum Vorschein, die ihn das Leben der Mutter und seine eigene schwierige Kindheit und Jugend in neuem Licht sehen lassen. 

Der Moderator Tom Monderath hat nämlich eine ältere Schwester, von der er nie etwas gehört hat. Sie  war ein „black baby“.  Und so entwickelt sich dieser Roman am Ende auch noch zur  Geschichte eines Traumas – jenes Traumas, in dem der vielseitig virulente Rassismus der Nachkriegszeit  bis heute auf verheerende Weise weiterwirkt. Er wird für uns Leser umso bestürzender, weil Susanne Abel es auch versteht, diese Geschichte so transparent zu erzählen, dass wir uns der Flüchtlings- und  Migranten-Schicksale unserer Tage sowie der offenen und im Verborgenen unheilvollen Traumata auf Grund von heimlichem und unheimlichem Rassismus in der Gegenwart bewusst werden.   

Susanne Abel: Stay Away from Gretchen. Verlag dtv, München 2021. 528 Seiten, 20 Euro Euro.

Gerhard Beckmann, den wir als regelmäßigen Mitarbeiter von CulturMag mit Freude an Bord haben, ist einer der profiliertesten Menschen der deutschen Verlagsszene. Seine Kolumne „Beckmanns Große Bücher“ im Buchmarkt stellt kontinuierlich wirklich wichtige Bücher mit großer Resonanz vor. Seine Texte bei uns hier. 

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