Geschrieben am 1. September 2021 von für Crimemag, CrimeMag September 2021

Simsalabim: Bodo V. Hechelhammer trifft Malte Herwig

Eine Buchbesprechung und ein Gespräch

Malte Herwig: Der Grosse Kalanag. Wie Hitlers Zauberer die Vergangenheit verschwinden ließ und die Welt eroberte. Penguin Verlag, München 2021. 480 Seiten, mit 16-seitigem Farbbildteil, 24 Euro. Internetseite des Autors hier.

Simsalabim! Das geflügelte Zauberwort kennt heute jedes Kind, doch der Zauberer, der dieses – inspiriert durch ein Kinderlied um einen wiederkehrenden Kuckuck – erfunden haben will, ist weitgehend unbekannt. Dieser hieß mit Künstlernamen Kalanag, benannt nach dem Elefanten Kala Nag aus Rudyard Kiplings »Dschungelbuch«. Er selbst hörte bürgerlich auf den Namen Helmut Ewald Schreiber, der zum großen Zauberkünstler im Dritten Reich aufstieg, und wie so viele nach 1945, seine braune Vergangenheit zunächst verschwinden lassen wollte. Malte Herwig hat diese nun zurückgeholt und eine erste Biografie über Schreibers Leben als »Der große Kalanag« auf rund 470 Seiten geschrieben.

Malte Herwig wurde 1972 in Kassel geboren, studierte Literatur, Geschichte und Politik und promovierte über Thomas Mann. Bekannt wurde Herwig als Journalist für das Magazin der Süddeutschen Zeitung, den Spiegel oder den Stern. Unter seinen Veröffentlichungen als Buchautor erschienen 2013 »Die Flakhelfer« oder 2010 mit »Meister der Dämmerung« eine Biografie über Peter Handke. 2019 lief sein Podcast über die gefälschten Hitler-Tagebücher »Faking Hitler«. Preisgekrönt. 

Heil Hokuspokus 

„Ich habe mich bemüht, sein Leben aufgrund von Zeugenaussagen und Dokumenten so authentisch wie möglich zu erzählen. Wörtliche Zitate und Dialoge sind entweder schriftlich belegt oder aus zeitgenössischen Quellen akribisch rekonstruiert. Denn dieses Buch ist kein Roman, sondern eine wahre Geschichte. Für einen Roman wäre Kalanags Leben zu unglaubwürdig“ (Seite 420).

Mit diesen Worten beendet Malte Herwig seine Biografie über Kalanag, der an Heiligabend 1963 verstarb. Helmut Ewald Schreibers Lebensgeschichte selbst begann 60 Jahre zuvor, Ende Januar 1903 in Backnang, 30 Kilometer von Stuttgart entfernt, wo er das Licht der Welt erblickte. Helmut Schreiber verschrieb sich schon in jungen Jahren der Illusion, trat mit 16 Jahren dem Magischen Zirkel bei, einer Vereinigung von Zauberkünstlern, machte jedoch zunächst ab den 1920er Jahren Karriere in der aufkommenden Filmbranche in Berlin und vor allem in München. Hier stieg er bis 1942 zum Produktionschef der Bavaria-Filmstudios auf. Unter seiner Verantwortung entstanden über 150 Filme, viele im Sinn des nationalsozialistischen Geistes tendenziös, nicht wenige waren antisemitisch. 1939 erschien unter seiner Leitung die antisemitische Komödie »Robert und Bertram«. Ein übler Propagandafilm. So verwundert es kaum, dass Schreiber, NSDAP-Mitglied seit 1933, engste Kontakte zum Propagandaministerium und zur NS-Spitze entwickelte. Mit Hilfe der Nazis ließ er sich zum Präsidenten des Magischen Zirkels einsetzen. Er führte seine Zaubertricks vor Hitlers Reden auf und war Gast auf dessen Berghof am Obersalzberg. Kalanag verzaubert im wahrsten Sinn des Wortes die Mächtigen des Dritten Reiches. Zu den großartigen Kapiteln des Buches zählt daher ohne Frage »Weihnachten in Carinhall« oder »Der Österreicher«. Hokuspokus und Sieg Heil für Göring und Hitler. 

Er zauberte auch auf dem Obersalzberg. Da stand er direkt vor Hitler und fragte ihn, wie viel Geld in er in seiner Jackentasche habe. »Wissen Sie nicht, dass ich nie Geld bei mir trag?«, antwortete Hitler überrascht. »Natürlich, mein Führer. Aber würden Sie dennoch die Freundlichkeit haben, in Ihrer linken Jackentasche nachzusehen?« Irritiert griff Hitler in seine Jacke und zog eine Brieftasche mit 150 Reichsmark hervor. Dieser Zauberkünstler hatte es tatsächlich geschafft, die Brieftasche dort hineinzuschmuggeln, ohne dass er es bemerkt hatte. Er mochte es nicht, getäuscht zu werden – nicht von fern und erst recht nicht aus nächster Nähe. Nie war jemand dem Führer nähergekommen als Helmut Schreiber in diesem Augenblick – außer vielleicht Eva Braun, aber auch das ist keineswegs sicher. (Seite 148)

Anders als der Untertitel des Buches suggeriert, löste sich Schreibers Vergangenheit aber nicht einfach in Luft auf. Sie war den amerikanischen Behörden bekannt und wurde Jahre später medial thematisiert. Aber auch hier ist Kalangs Geschichte typisch für die junge deutsche Republik. Die braune Vergangenheit hinderte ihn nicht am erneuten beruflichen Erfolg. Ab den 1950er Jahren füllte Kalanag mit seinen schillernden Zauberrevuen sogar weltweit die Hallen. Er reiste mit Wagenladungen voller magischer Utensilien und trat mit langbeinigen Schönheiten auf der Bühne auf. Der deutsche Magier eroberte mit seinen extravaganten Shows Europa und Süd- und Nordamerika, trat in Südafrika auf. So konnte Kalanag auf dem Höhepunkt der globalen Popularität damit prahlen, mehr als 185 000 Meilen um den Globus gereist zu sein.

Mit seiner „Wunderbar“ erweckte Kalanag den Eindruck, jedes gewünschte Getränk aus dem „Wasserkrug“ ausschenken zu können. @ Wiki-Commons

Seine Schwebungen sorgten nachhaltig für Aufsehen und wenn er Autos verschwinden ließ, geriet das Publikum in Staunen. Ausverkaufte Vorstellungen. Leuchtende Triumphe. Für den jungen Siegfried Fischbacher, der Jahrzehnte später mit seinem Partner Roy mit Magischen Shows selbst Las Vegas erobern sollte, war er ein Vorbild: „Kalanag war für mich überdimensional“. Typisch für rastlos Kreative war auch Schreiber ständig auf der Suche nach neuen Ideen, neuen Shows, um immer bekannter zu werden. Anfang der 60er Jahre wurde er sogar kurzzeitig Programmchef der Abteilung »Leichte Unterhaltung« bei der von Bundeskanzler Konrad Adenauer angedachten Konkurrenz der ARD. Standesgemäß unterschrieb er mit falschem Doktortitel. Doch das aufkommende Fernsehen wurde zur großen Konkurrenz. Auch wenn sein Stern bereits seit Jahren am Sinken war, war er kurz vor seinem Tod selbst zum geflügelten Wort geworden: »Ich bin kein Kalanag«, wurde von allen verstanden, wenn man das Unmögliche möglich machen sollte.

Ein Opportunist der schlimmsten Sorte

Herwig beschreibt detailliert das Leben eines berechnenden Karrieristen, der sich hinter seiner professionell heiteren Fassade verbarg, die, elementar für das illusionäre Genre, vom Eigentlichen ablenkte. Vom deutschen Nazi zum weltweit gefeierten Zauberkünstler. Er profitierte vom System; ohne Frage. Aber war er auch davon überzeugt? Was dachte er über die Bundesrepublik? Darüber erfährt der Leser weniger. Der Autor bleibt trotz vereinzelt erkennbarer Sympathien in notwendiger und wohltuender Distanz zu seinem Untersuchungsobjekt, zeichnet insgesamt das Bild eines egozentrischen, ehrgeizigen und autoritären Menschen; passend zum nationalsozialistischen System, in dem er groß wurde und dem er nur allzu eifrig diente. Stimmig aber wohl auch als erfolgreicher Vorzeigedeutscher einer sich aufbauenden jungen Bundesrepublik. Emotional ist gerade das letzte Kapitel, indem Malte Herwig die lang verschollene Tochter Kalanags aufsucht. Obgleich Helmut Schreibers Leben doch sehr einzigartig war, steht er am Ende doch wiederum exemplarisch für so viele Deutsche auf ihrem Weg nach 1945. Man wäre am liebsten doch nur mitgelaufen. Oder wie es in einem amerikanischen Bericht über ihn steht: »Ein Opportunist der schlimmsten Sorte.« (Seite 327)

Es gibt viele Biografien, die im Dritten Reich wurzeln. Eine Lebensbeschreibung über Hitlers Zauberer ist aber schon etwas Besonderes. Malte Herwig hat ein sauber recherchiertes, spannendes und gut lesbares Buch vorgelegt. Stellenweise süffisant, manchmal fast heiter im Ton. Kurzweilig. Dadurch stellt sich beim Lesen unweigerlich fast schon die Frage, was man eigentlich gerade liest: ein wissenschaftliches Sachbuch oder einen Roman, basierend auf einen realen Hintergrund. Auch wenn ein 49 Seiten umfassender Anmerkungsapparat auf ein Sachbuch verweist, wurde auf ein eigenes Quellen- und Literaturverzeichnis verzichtet. Konsequent fehlen bei zahlreichen zentralen Stellen und Zitaten Quellenverweise. Ärgerlich ist deshalb für den Sachbuchleser ein wenig, wenn beispielsweise im Kapitel »Der Geheimagent« der zentrale Nachweis dann verkürzt mit »Special Agent Report John B. Miles, 12.5.1953« zitiert wird; ohne Möglichkeit, diese Quellenangabe überprüfen zu können. Dafür sind die Kapitel und Passagen lebendig und romanhaft geschrieben, mit Dialogen angereichert, die zwar, um bei den Worten des Autors zu bleiben, »akribisch rekonstruiert«, jedoch nicht immer original überliefert sein dürften. Das ist alles kein Zufall, sondern Absicht von Malte Herwig. Es geht schließlich bei der Vorstellung Kalangs um professionelle Unterhaltung; ganz im Geiste des großen Illusionskünstlers. Sehr lesenswert.

Bodo V. Hechelhammer

Empfohlene Zitierweise:
Bodo V. Hechelhammer: Der Grosse Kalanag. Wie Hitlers Zauberer die Vergangenheit verschwinden ließ und die Welt eroberte, in: CulturMag/CrimeMag 9 (2021), 1.9.2021. Online-Ausgabe: http://www.culturmag.de/category/crimemag.

Kalanag (rechts) mit Adolf Hitler 1939 © Wiki-Commons

Auf ein paar Worte mit … Malte Herwig

Im August 2021 sprach Bodo V. Hechelhammer für CulturMag mit Malte Herwig über sein neustes Buch.

Bodo V. Hechelhammer: Ich hatte früher einen Zauberkasten, war aber eher untalentiert. Gab es bei Ihnen auch schon frühe Berührungspunkte zur Zauberkunst?

© Christina Körte

Malte Herwig: Ich hatte ein Zauberbuch und diverse Utensilien, mit denen ich als Teenager experimentiert habe. Die Drehkarte habe ich mir beigebracht, aber mir fehlt das Talent, ein Publikum mit meinen Händen zu verzaubern. Mein Weg ist dann das Schreiben geworden. 

Der Illusionskünstler Kalanag ist ein spezielles, nicht unbedingt ein auf der Straße liegendes Thema. Gab es einen konkreten Anlass, vielleicht sogar eine persönliche Begegnung, was Sie dazu gebracht hat, sich näher mit dem Leben Helmut Schreibers zu beschäftigen? 

Ich bin ein neugieriger Mensch und lasse mich gerne verzaubern – von Literatur, Film, Musik. Vor sieben Jahren ging ich zu einer öffentlichen Vorstellung im Zaubertheater des Magischen Zirkels in Hamburg. Dort hing ein Reisepass von Kalanag gerahmt an der Wand, und ich war sofort fasziniert von dieser Figur, die mir völlig unbekannt war. The rest if history.

Sie haben sieben Jahre an der Kalanag-Biografie gearbeitet. Ein durchaus langer Zeitraum. War es besonders schwierig an entsprechende Quellen und Zugänge zu kommen oder erwies es sich als schwierig, sein Leben zu entschlüsseln?

Ich habe in diesen sieben Jahren eine großartige Unterstützung aus Zauberkreisen erhalten. Das war wichtig, um Zeitzeugen aufzufinden, aber auch, um tiefere Einblicke in das Metier der Täuschungskunst zu gewinnen. Man kann die Person Helmut Schreiber-Kalanag nicht verstehen ohne seine Berufung: die Zauberkunst. Zeitzeugen und schriftliche Quellen – von persönlichen Briefen bis zu nachrichtendienstlichen Berichten über Schreiber aus den 50er Jahren – waren unschätzbar hilfreich dabei, die Fakten zu erforschen und die schwierigste Aufgabe des Biographen überhaupt zu bewältigen: Herauszufinden, wer der Mensch hinter der Maske wirklich war. Was die Recherchen gilt, habe ich mich an meinen alten Grundsatz gehalten: Nie aufgeben, sich nicht abfertigen lassen, bis zuletzt weiter bohren. Die Tochter von Kalanag und Gloria sei längst gestorben, hieß es gerüchteweise immer wieder in Zauberkreisen. Ich habe sie wenige Monate vor Abschluss des Manuskripts gefunden. 

Für Zauberkünstler und Illusionisten wäre die Enttarnung der eigenen Tricks ein Alptraum. Geheimnisse gehören zu ihrem Leben. Eine Biografie ist doch wie eine Entzauberung der Lebensgeheimnisse. Wie hat die Zauberszene auf Ihr Buch reagiert? Gab es Unterstützung oder Distanz? 

Es gab, siehe oben, große Unterstützung. Viele Zauberkünstler sind auch Historiker ihres Metiers und haben mich mit Material und Hinweisen unterstützt, zum Beispiel Richard Hatch aus den USA oder Michael Sondermeyer und Uwe Schenk, die ein fantastisches Archiv im Münsterland haben: Nottuln-Appelhülsen war für mich wichtiger als Berlin, Hamburg oder New York. Im Übrigen macht das Trickgeschehen beim Zaubern den kleinsten Teil aus. Das Geheimnis besteht in der Art der Vorführung. Es gibt Zauberkünstler, die Tricks zum Schein verraten und ihr Publikum damit umso mehr zum Staunen bringen. Es geht um die Geschichten, die erzählt werden. Bei Nachrichtendiensten und in der Literatur ist es ähnlich.  

Schwebungen, verschwundene Autos und zersägte Assistentinnen gehörten zum Bühnenprogramm. Wissen Sie durch Ihre Recherchen nun selbst, wie solche Tricks funktionieren? Und welche seiner Zaubernummern ist besonders hervorzuheben?

Ich weiß nun, wie die Tricks funktionieren, aber natürlich habe ich nichts verraten. Es wäre eine große Enttäuschung, wie simpel manches ist. Es würde außerdem vom Kern der Geschichte ablenken zu erklären, wie Kalanag Autos auf offener Bühne verschwinden oder seine Partnerin Gloria bis unter den Bühnenhimmel schweben ließ. Sein größter Trick war es, seine eigene Vergangenheit verschwinden zu lassen. Er hat die Alliierten getäuscht, seine Zuschauerinnen und Zuschauer in aller Welt und sogar seine eigene Familie. Wie er da getan hat, ist der einzige Trick, den ich verraten musste als Biograph. 

Wie haben Sie sich Schreibers Biografie genähert? Gab es etwa im Vergleich zu anderen Lebensbeschreibungen Besonderheiten zu beachten, vielleicht sogar seine Illusionen und eigenen Lebenszeugnisse zu entschlüsseln? Was war für Sie als Autor der schwierigste Abschnitt im Leben Kalanags? 

Das Privatleben, über das ehemalige Revue-Mitarbeiterinnen und -Mitarbeiter und auch seine beiden Töchter nur gerüchteweise berichten konnten. Zum Glück habe ich private Korrespondenz gefunden, die mir Rückschlüsse auf seine Rolle als Vater und Ehemann erlaubte. Er war in jeder Hinsicht ein Schauspieler und Täuschungskünstler, auch privat. Da muss man sehr aufmerksam zwischen den Zeilen lesen und Zeichen zu deuten wissen. Das merkt man auch an Observationsberichten und psychologischen Analysen von CIC, CIA und anderen Diensten: Die besten unter deren Mitarbeitern haben oft tatsächlich ein gutes, schonungsloses Auge für so etwas. 

Helmut Schreiber war vor seiner Zauberer-Karriere Aufnahmeleiter und Filmproduzent, ab 1942 Produktionschef bei der Bavaria mit exzellenten Verbindungen zum Propagandaministerium. Wie wichtig war Schreiber als brauner Propagandafilmer für das Dritte Reich?  

Er hat Unterhaltung hergestellt, sowohl als Filmproduzent wie auch als Hofnarr auf dem Obersalzberg und anderswo. Vieles war harmlos, manches scheußlich wie die antisemitische Musikkomödie „Robert und Bertram“. Schreiber war als Produktionschef ein Ermöglicher solcher Propagandafilme, allerdings kein Ideengeber im kreativen Sinn. Er war ein gewissenloser Karrierist und hatte keine ideologische Überzeugung. 

Eine Bedeutung in Kalanags Leben und in Ihrem Buch spielt das verschwundene Nazigold. Was genau hat es damit auf sich?

Es handelt sich dabei um Gold- und Devisenbestände der Reichsbank, die in den letzten Kriegsmonaten nach Bayern gebracht und dort in den Bergen versteckt wurden. Helmut Schreiber vermittelte nach Kriegsende zwischen SS-Leuten und den amerikanischen Besatzern die Übergabe mehrerer Säcke im Wert von vielen Millionen Dollar an die US-Army. Ein Gerücht, das sich heute nicht mehr verifizieren lässt, besagt, dass er möglicherweise etwas davon abzweigte, um seine opulente Revue und seine weltweiten Tourneen damit zu finanzieren. Was ich eindeutig belegen konnte: Schreiber hoffte, sich durch seine Vermittlungsdienste bei den Amerikanern gut stellen zu können. Er bekam von einem US-Major sogar eine Art Empfehlungsschreiben. Die Amerikaner waren allerdings nicht auf den Kopf gefallen. Dank der NSDAP-Mitgliederkartei, deren Geschichte ich in meinem Buch „Die Flakhelfer. Wie aus Hitlers jüngsten Parteimitgliedern Deutschlands führende Demokraten wurden“ (2013) schildere, wussten die Amerikaner genau, wer sich an welcher Stelle im Dritten Reich engagiert hatte. Als Schreiber merkte, dass er in der US-Zone keine Zukunft hatte, verflüchtigte er sich nach Hamburg zu den Briten. Die ignorierten die Warnungen der Amerikaner, die Schreiber auf eine Blacklist gesetzt haben. 

Neben schriftlichen Zeugnissen gehört das Aufspüren von Zeitzeugen zu den großen Herausforderungen bei einer Biografie. Wie schwierig muss man es sich vorstellen, ehemalige Revuetänzerinnen oder sogar verschollene Kinder ausfindig zu machen und deren Vertrauen zu gewinnen?

Die einzige akzeptable Form von Propaganda heute ist Mund-zu-Mund-Propaganda. Im Ernst: Es hat mich immer wieder erstaunt, wieviel man erfährt, wenn man einfach nur beharrlich fragt. Das gilt für Kontakte (wer kennt wen?) ebenso wie für die Gespräche mit den Zeitzeuginnen selbst. Als Journalist und Autor führe ich solche Gespräche, die sich ja oft auch um intime Details oder unangenehme Geheimnisse drehen können, seit jeher unter zwei Voraussetzungen: 1) Mit wem ich auch spreche, ich verurteile meine Gesprächspartner für nichts, denn fürs Urteilen sind Gerichte zuständig.  Ich spiele mit offenen Karten und stelle keine Fangfragen. 2) Im Gegenzug erwarte ich, dass mein Gegenüber ebenso offen ist und die ungeschminkte Wahrheit erzählt (auch wenn ich nicht alles glaube, was ich höre). Es hat mich immer erstaunt, wie schnell man so eine Vertrauensbasis zwischen wildfremden Menschen herstellen kann.

Eine besondere, fast schon krimihafte Rolle im Leben Kalanags spielt eine doppelte Brigitte. Was genau hat es damit auf sich?

Schreiber hatte eine uneheliche und eine eheliche Tochter, die eine Jahrgang 1924, die andere 1943. Beide hat er Brigitte genannt. Ich bin wohl die einzige lebende Person, die beide noch kennen gelernt hat. War es ein Trick, um sich nicht zu verplappern, wenn von „Tochter Brigitte“ die Rede war? Zuzutrauen ist es ihm. Ich weiß von keinem anderen Vater, der seinen Töchtern den gleichen Namen gegeben hat. 

Was war persönlich die größte positive und negative Überraschung im Leben Helmut Schreibers?

Positiv: Er hat seinem Publikum in schweren Zeiten Erleichterung und wirkliche Freude verschafft. Insofern verkörpert er das Beste, was Zauberkunst leisten kann, nämlich die Menschen zum Staunen zu bringen. 

Negativ: Wie kalt und distanziert er zu seiner Ehefrau Gloria und zu seinen Töchtern war. Er konnte jederzeit ein Lächeln aufsetzen und für fröhliche Unterhaltung sorgen. Aber konnte er lieben? Ich fürchte, außer der Zauberkunst hat ihn nie etwas in seinem Leben wirklich interessiert. Den Rest müssen Psychologen erklären. 

Vielen Dank!

Empfohlene Zitierweise:
Bodo V. Hechelhammer: Auf ein paar Worte mit … Malte Herwig, in: CulturMag/CrimeMag 9 (2021), 1.9.2021. 

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